Haiti. Stunde null nach der Erdbebenkatastrophe

Der bitterarme Karibikstaat scheint verdammt zu sein

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Viele der Verletzten, die vergangene Woche vor das Allgemeine Krankenhaus von Port-au-Prince gebracht worden waren, überlebten die Wartezeit nicht. Die Ärzte waren von der schieren Zahl der Notfallpatienten überfordert. Wer starb, wurde von Helfern einfach vor das nahe gelegene Leichenschauhaus geschleppt, wo bereits Berge von Toten lagen. Drinnen war längst kein Platz mehr.

Seit vergangenem Dienstag, 16.53 Uhr Ortszeit (22.53 MEZ), kennt die haitianische Zeitrechnung eine neue Stunde null: das große Beben von 2010. Bis dahin war der Bezugspunkt die Wirbelsturmkatastrophe von 2008 gewesen, als nacheinander die Hurrikane Fay, Gustav, Hanna und Ike die Karibikinsel heimsuchten und hunderte Tote, eine Million Obdachlose und ein in weiten Teilen überschwemmtes Land hinterließen. Davor war es der Hurrikan Jeanne aus dem Jahr 2004. Und so weiter.

Kaum jemand denkt angesichts der aktuellen Katastrophe an einen Gastkommentar, den UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon im März des vergangenen Jahres unter dem Titel „Haiti’s Big Chance“ in der „New York Times“ veröffentlichte. Es ist nicht zynisch, in der aktuellen Situation an den Beginn dieses Artikels zu erinnern: „Es ist leicht, Haiti zu besuchen und bloß Armut zu sehen. Aber als ich kürzlich mit dem früheren US-Präsidenten Bill Clinton zu Besuch kam, sahen wir Chancen.“ Das waren keine leeren Worte. Die Vereinten Nationen, die USA und die gesamte westliche Welt hatten beschlossen, Haiti, dem ärmsten Staat der westlichen Hemisphäre, auf die Beine zu helfen.

profil nahm diese erstaunliche Initiative vergangenen September zum Anlass für eine Reportage („Das auserwählte Land“; profil 39/2009). Tatsächlich war damals noch nicht viel von segensreichen Investitionen aus dem Ausland zu sehen, und der Artikel fiel skeptisch aus. Doch bald gab es kleine Indizien für Veränderungen im Land. Im vergangenen Oktober trafen einander 200 internationale Investoren und haitianische Unternehmer, um über mögliche Kooperationen zu diskutieren. In der Woche vor dem Erdbeben war die Top-Nachricht aus Haiti eine positive: die Eröffnung von Hotels der Ketten Choice Hotels International und Best Western.

Bis dahin hatte es in Port-au-Prince nur ganz wenige Hotels gegeben, die Touristen anzuziehen imstande gewesen wären – etwa das Montana, auf einer Anhöhe im Stadtteil Pétion-Ville gelegen: Dort bot ein Trakt mit Luxusboutiquen und Cafés der vorwiegend ausländischen Klientel Gelegenheit, Geld auszugeben.

Als die Erde bebte, stürzte auch das Montana in sich zusammen. Etwa 200 Personen gelten als vermisst. Auf der eigens eingerichteten Facebook-Seite „Haiti Earthquake Hotel Montana“ tauschen Angehörige und Freunde Informationen aus. Etwa diese: Eine Amerikanerin namens Sarah habe „I’m here!“ geschrien, als man ihren Namen rief. Die Stimme kam aus den Trümmern, unter denen die Gäste des Luxushotels genauso hilflos begraben lagen wie unten in der Stadt tausende Slum­bewohner unter dem Schutt ihrer Häuser und Hütten.

Nach der Sturm- und Flutkatastrophe von 2008 war die Betroffenheit der Welt ähnlich groß gewesen wie nun nach dem schrecklichen Beben. Damals wateten hunderttausende verzweifelt durch die Flut, die ihnen die Häuser geraubt hatte; heute ziehen traumatisierte Menschenmengen durch Ruinen und suchen nach einem Platz zum Leben. Es sieht so aus, als wäre dem Land nicht zu helfen, jedenfalls nicht dauerhaft. Fast könnte man glauben, dass Haiti ein verwunschener Staat sei und seine Bevölkerung dazu verdammt, von einer Naturkatastrophe zur nächsten dahinzuvegetieren.

Was unmittelbar auf das Beben folgt, ist – wie nach jeder großen Katastrophe – eine Aufwallung weltweiter Hilfsbereitschaft. Die reichen Staaten versprechen Geld, um das Leid zu lindern. Nach den verheerenden Wirbelstürmen des Jahres 2008 etwa hatte eine internationale Geberkonferenz 324 Millionen Dollar für Haiti erbracht, dazu schickten die USA 300 Millionen Dollar.

Auch jetzt sagten die USA umgehend 100 Millionen US-Dollar Soforthilfe zu. Bei dieser Summe, so Präsident Barack Obama, werde es aber nicht bleiben. Auch die Weltbank stellt 100 Millionen Dollar zur Verfügung, von den Vereinten Nationen kommen zehn Millionen, von Großbritannien fast sieben Millionen. Das ist viel Geld – und doch reicht es angesichts von Schäden im Ausmaß von schätzungsweise einer Milliarde Dollar nicht einmal, um alles aufzubauen, was vorher schon da war. Von einer Verbesserung der Infrastruktur nicht zu reden.

Angesichts schockierender Bilder ist die internationale Gemeinschaft rasch bereit, Hilfe zu leisten. Die Erfahrung zeigt aber auch, dass die Betroffenheit rasch nachlässt, sobald die Armut, von außen betrachtet, ein scheinbar erträgliches Maß angenommen hat. Haiti ist dafür ein gutes Beispiel. Dort herrschte in den vergangenen Jahre zwar keine Hungersnot, bei der Massen an Menschen durch Unterernährung gestorben wären. Wohl aber war Unterernährung vor allem bei Kindern in manchen Gegenden weit verbreitet. profil begleitete damals ein Team der Organisation Hilfswerk Austria International auf dem Weg zu abgelegenen Dörfern in den nordwestlichen Provinzen, wo sich Großfamilien viel zu kleine Essensrationen teilen müssen. Diese Gebiete sind vom jüngsten Erdbeben verschont geblieben. Allerdings: Die Straße, die von Port-au-Prince in den Norden der Insel führt, ist unpassierbar, die Lebensmittel werden deshalb rarer und teurer – und damit für viele unerschwinglich. Für Kinder bedeutet dies Entwicklungsstörungen, die sie nicht mehr aufholen können. Aber wer wird in den kommenden Monaten, wenn einmal die obdachlosen Erdbebenopfer in Notunterkünften versorgt sind, Geld für bessere Straßen bereitstellen? Wer außerhalb Haitis wird verstehen wollen, dass auch hunderttausende Menschen, die von der Bebenkatastrophe nicht direkt betroffen waren, indirekt doch darunter leiden – und ihr noch nachträglich zum Opfer fallen können?

Paul Collier ist der Berater des UN-Generalsekretärs zum Thema Haiti, und er wartete gar nicht erst, bis die Leichen geborgen und die Nothilfemaßnahmen geleistet waren. Er veröffentlichte bereits vergangenen Mittwoch in der kanadischen Zeitung „The Globe and Mail“ die Forderung nach einem „Marshall-Plan im Ausmaß von wahrscheinlich mehreren Milliarden Dollar“ für den Inselstaat – im Anschluss an die Katastrophenhilfe. Collier sieht in den zaghaften Ansätzen wie dem Bau neuer Hotels oder der Ansiedelung von Textilfabriken, wie es sie vor dem Beben gab, die Anfänge der von Ban Ki-Moon beschworenen „Big Chance“.

Für Erdbeben und Wirbelstürme gibt es keine Verantwortlichen.
Die Motivation zum Spenden ist Mitleid. Doch die Armut der einst reichen Insel ist nicht nur auf Naturkatastrophen zurückzuführen, es gibt auch Schuldige. Erst rodeten die spanischen und französischen Kolonialherren die Wälder, nach dem Sklavenaufstand von 1804 und dem Ende der Kolonialherrschaft verlangte Frankreich hohe Reparationen – meist in Form von Holz. Dazu wurde über den jungen Staat ein internationaler Boykott verhängt, um zu verhindern, dass Unabhängigkeitsbestrebungen in anderen Kolonien Schule machen. Mit den schwindenden Wäldern erodierte der Boden, die Landwirtschaft brach zusammen. Heute sind nur noch vier Prozent der einstigen Waldfläche übrig, und Teile des Landes sind so trocken, wie man es auf einer Karibikinsel nie erwarten würde.

Die Leute auf Haiti setzen keine allzu großen Erwartungen in die Politik. Der eigene Staat ist schwach, es fehlt im Moment nicht nur an Bergegeräten, sondern in der Folge wohl auch an jeglicher sozialer Unterstützung für Invaliden, Witwen oder Waisen. Das Ausland wiederum hat sich bisher immer zurückgezogen, sobald die größte Not gelindert war. Arbeitsplätze gibt es viel zu wenige, also bietet jeder auf eigene Faust an, was er hat oder kann. Entlang der Straßen stehen ganze Armeen von Händlern Spalier und verkaufen Zuckerrohr, Handys, Kleider, frittiertes Gemüse oder was sie gerade meinen, entbehren zu können. Wer einen Job ergattert und zwei Euro pro Tag verdient, befindet sich bereits am Aufstieg in die Mittelschicht und gilt als gut bezahlt.

An einem Freitagabend im vergangenen September saßen an der Pool-Bar im Montana ein Unternehmer aus Sri Lanka, der eine Fluglinie auf der Strecke von Port-au-Prince nach Cap-Haïtien, der zweitgrößten Stadt der Insel, betrieb; daneben zwei US-Amerikaner, die planten, Abenteuerurlaube anzubieten; eine Amerikanerin, die von Cap-Haitien aus ein Bodendüngeprojekt, basierend auf Plumpsklos, betreibt; und ein junger, haitianischer Singer-Songwriter, der die erste Casting-Show des Landes gewonnen hatte. Unternehmergeist traf auf Kreativität, und es lag durchaus eine Atmosphäre des Aufbruchs und der Hoffnung in der Luft. „Wir bedauern, Sie informieren zu müssen, dass das Hotel Montana bis auf Weiteres geschlossen ist“, heißt es seit vergangener Woche auf der Hotel-Webseite.

Wenn sich die internationale Gemeinschaft tatsächlich erweichen lässt, diesmal nach der Erdbebenhilfe auch noch in echte Infrastruktur zu investieren, damit ausländische Textil­konzerne die billigen haitianischen Arbeitskräfte nutzen und die ausländischen Touristen die traumhaften, unerschlossenen Strände der Insel erreichen können, dann sollte auf das große Erdbeben tatsächlich endlich die große Chance für Haiti folgen. Die Pläne für einen Flughafen im Norden, für Industriezonen und Aufforstungsprojekte liegen in der Schublade. Nur leider sind Zeit und Geld zwischen den Naturkatastrophen knapp.

Der Singer-Songwriter übrigens, er heißt Rosemond Jolis­saint, schrieb seinen größten Hit in wenigen Stunden. Das Lied heißt „Ala traka pou neg lakay“, aus dem Kreolischen übersetzt bedeutet das etwa „Das Leid der Leute in diesem Land“. Er hatte beim Texten nicht lange nachdenken müssen.

Der Versuch, Rosemond oder einen der anderen, die in jener Nacht im Montana am Pool gesessen waren, telefonisch zu erreichen, gelang vergangene Woche nicht. Es waren nur beunruhigende Freizeichen zu hören.