Harsche Herrschaft in Russland

Ein Skandalbuch über die Ära Putin

Drucken

Schriftgröße

Die Sonne muss auch dem Nachfolger scheinen. Schon unter Wladimir Putin durfte es nicht regnen, wenn es etwas zu feiern gab – und das gilt nun auch für Dmitri Medwedew. Um zu verhindern, dass sein Amtsantritt als russischer Präsident durch schlechtes Wetter überschattet wird, plante die Luftwaffe am Mittwoch vergangener Woche für den Fall der Fälle den Einsatz einer altbewährten Methode: Flugzeuge sollten mit Silbernitrat gefüllte Raketen in den Himmel über Moskau feuern, um Wolken zeitgerecht vor Beginn des Staatsaktes abregnen zu lassen.

Dazu kam es nicht: Der Himmel zeigte sich auch so gnädig.
Aber der 42-jährige Medwedew und seine Umgebung setzen auch sonst auf Sicherheit und Altbewährtes. Das Zeremoniell seiner Angelobung glich exakt jenem, das schon in den Jahren 2000 und 2004 seinem Vorgänger und Mentor einen gediegenen Einstand in das Amt des russischen Staatschefs verschafft hatte. Wie einst Putin stolzierte der neue Präsident im Kreml durch ein Spalier internationaler Gäste und nationaler Höflinge – etwas bubenhafter, aber mit dem gleichen energiegeladenen Schritt.

Im ehemaligen Thronsaal der Romanow-Zaren ließ sich Medwedew dann krönen, pardon, angeloben. In seinem 33 Worte langen Eid versprach der Jurist aus St. Petersburg, Russlands Souveränität und die bürgerlichen Rechte und Freiheiten des Landes zu verteidigen. Seine Hand lag dabei auf einem Exemplar der russischen Verfassung von 1993. Die bürgerlichen Rechte und Freiheiten freilich waren bereits von seinem Vorgänger mit Füßen getreten worden, obwohl er seinerzeit denselben Schwur geleis­tet hatte. Das behauptet zumindest der Oppositionspolitiker Boris Nemtsow – ehemaliger Vizepremier unter Präsident Boris Jelzin – in seinem Buch „Putin. Unterm Strich“. Zitat: „Nach acht Jahren Putin ist Russland von der Errichtung einer freien Marktwirtschaft und Demokratie weiter entfernt als bei seinem Amtsantritt 2000“, heißt es darin.

Nemtsow hatte Schwierigkeiten, einen Verleger für das Buch zu finden. Abgesehen vom Verlag der Oppositionszeitung „Novaja Gaseta“ traute sich niemand an das explosive Werk, in den Buchhandlungen fragt man umsonst danach. Inzwischen kursiert die Studie im Internet, auch auf Englisch (http://russophobe. blogspot.com). Das konnte auch die offizielle Kritik, die das Buch zuvor vernichtend beurteilt hatte, nicht verhindern: „Bei diesem Bericht handelt es sich um eine Anhäufung von Gerüchten und Episoden, die mit der Sache überhaupt nichts zu tun haben“, schrieb etwa die Zeitung „Wek“ („Jahrhundert“). Nemtsow und sein Co-Autor Wladimir Milow, ein 35-jähriger Liberaler, sezieren Putins Russland Kapitel für Kapitel anhand von unabhängigen Quellen und stellen dem alten Präsidenten ein schlechtes Zeugnis aus: „Wenn das Betäubungsmittel 100-Dollar-Öl nicht mehr wirkt … werden wir verstehen, dass der korrupte Staatsmonopol-Kapitalismus nach lateinamerikanischem Modell, den Putin aufgebaut hat, nur die Oligarchen um Putin herum begünstigt hat. Wir, der große Rest, dagegen wurden in die Dritte Welt geführt.“

Die Bilanz des Putin’schen Wirkens wäre noch nicht so deprimierend, gäbe es echte Anzeichen dafür, dass der ehemalige KGB-Offizier tatsächlich den Kreml räumt und die Macht seinem ehemaligen Adlatus Medwedew übergibt. Doch das scheint nicht der Fall zu sein. Inzwischen werden bereits die Konturen einer Doppelherrschaft sichtbar – Putin als Regierungschef, Medwedew als Präsident. Und alles, was darüber bekannt wird, lässt darauf schließen, dass die alte Herrschaft auch die neue ist.

Das Parlament stimmte am Donnerstag mit großer Mehrheit Putins Wahl zum Premierminister zu. Außerdem übernimmt Putin auch noch den Vorsitz der Partei „Geeintes Russland“. Für den Fall, dass Zauberlehrling Medwedew im Präsidentenamt außer Kontrolle geraten sollte, baut Putin schon jetzt Sicherheitsschranken ein. Als Chef der Mehrheitsfraktion kann er Präsidentendekrete theoretisch in der Staatsduma, dem Parlament, zu Fall bringen. Sollte Medwedew also auf die Idee kommen, seine eigenen Worte ernst zu nehmen und den gerne zitierten Medwedew-Satz „Freiheit ist besser als Unfreiheit“ in die russische Realität integrieren zu wollen, dann könnte Putin de jure wie de facto einschreiten.

Denn die „Tarndemokratie“ hat vornehmlich das Ziel, die Pfründen der Firma Putin & Co sicherzustellen. Das geht nur, wenn Russland so bleibt, wie es ist: weitgehend unter Putins Kontrolle. Boris Nemtsow illustriert in seinem Buch, wie sich der autoritäre Führungsstil in den vergangenen acht Jahren auf das riesige Reich ausgewirkt hat. Der heutige Oppositionspolitiker und Astrophysiker war unter Boris Jelzin Vizepremier, er gehörte zur ersten Generation der Reformer, die Russland nach dem Zusammenbruch des Sowjetkommunismus euphorisch in eine demokratische Marktwirtschaft umbauen wollten. In seiner Analyse kann er seine Wut und Enttäuschung über das gescheiterte Projekt nicht verbergen.

„Die Korruption zerfrisst Russland“
„Das Volumen der korrupten Geschäfte in Russland ist von 40 Milliarden Dollar im Jahr 2001 heute auf 300 Milliarden gestiegen“, schreibt Nemtsow. „Russland ist nach acht Jahren Putin weit korrupter als vorher.“ Auch Nachfolger Dmitri Medwedew hat die Eindämmung der Korruption als „eine der größten Herausforderungen für die Zukunft“ bezeichnet. Er stellte am 27. März bereits einige Gesetzesvorschläge zur Eindämmung der Korruption vor. Um diese umzusetzen, müsste er aber sämtlichen Putin-Freunden, die in staatlichen und privaten Konzernen mitverdienen, auf die Zehen steigen.

„Der Kollaps der ,Nationalprojekte‘“
Putin beauftragte Medwedew 2005 mit der Durchführung von gut dotierten „Nationalprojekten“ für Wohnbau, Infrastruktur, Bildung und Gesundheit. Für das Jahr 2008 wurden sieben Milliarden Euro bereitgestellt, um neue Wohnungen, neue Straßen, gute Schulen und eine funktionierende Krankenversicherung zu schaffen. Nemtsow weist darauf hin, dass „zur gleichen Zeit Sibneft (russischer Ölkonzern, Anm.) von Roman Abramowitsch (russischer Oligarch, im Kreml unter Boris Jelzin wie unter Wladimir Putin wohlgelitten, Anm.) um mehr als diese jährliche Zuschreibung erstanden wurde“. Und: „Das Dreijahresbudget für 2008–2010 gibt acht Prozent des föderalen Budgets für öffentliche Gesundheit und Bildung aus. 2009 geht es auf 7,5 Prozent runter.“ Im Vergleich werden 16 Prozent des Budgets 2008, rund 24 Milliarden Euro, für nationale Sicherheit und Staatsbürokratie ausgegeben. Fazit: „Die Sicherheitsdienste und Abramowitsch sind Putins wahre ,Nationalprojekte‘.“

Immer noch gilt: Wer in Russland ins Spital, auf die Straße oder in die Schule gehen muss, hat besser eine Auslandsversicherung, ein Flugzeug oder das Salär eines Außenministers parat. Die Tochter des derzeitigen Außenamtschefs Sergej Law­row, merkt Nemtsow genüsslich an, besucht die London School of Economics.

„Ungleichheit verschlechtert sich“
„Der Durchschnittslohn in Moskau beträgt 500 Euro“, schreibt Nemtsow. Und das ist die gute Nachricht. Denn ein paar hundert Kilometer von der Hauptstadt entfernt verdient eine Krankenschwester gerade noch 100 Euro. Im Jahr 2000 standen auf der „Forbes“-Liste der Superreichen keine Russen. Heute gibt es 53 russische Milliardäre. Nemtsow: „Putin & Co werden in dieser Liste nicht einmal erfasst.“ Die sozialen Unterschiede werden in Russland somit nicht kleiner, sondern größer.

Nemtsow und Milow scheuen sich nicht, am Ende ihrer vernichtenden Kritik eine Alternative aufzuzeigen. Das Ölgeld müsse „vorsichtig ausgegeben werden: Wir wollen keine systematische Veruntreuung der Staatsfinanzen mehr zulassen. Wir sollten weniger für aktuelle Bedürfnisse ausgeben und mehr in die längerfris­tige Infrastruktur investieren.“ Eine funktionierende Wirtschaft brauche eine freie Gesellschaft „mit garantierten Besitzrechten, Arbeitsgesetzen und unabhängigen Gerichten“. Ob Nemtsow sein Programm je auch nur ansatzweise umsetzen darf, ist allerdings mehr als fraglich. Die Liberalen haben seit zwei Legislaturperioden die Hürde ins Parlament nicht mehr geschafft. Nicht nur deshalb, weil Putin das Land entdemokratisiert hat. Auch weil die Bevölkerung die liberalen Politiker der neunziger Jahre für das Entstehen der Oligarchenkaste verantwortlich macht.

Inzwischen ist es kaum mehr möglich, der Öffentlichkeit die verheerende Ähnlichkeit zwischen Jelzins Hofstaat und Putins beziehungsweise bald Medwedews Günstlingen zu verdeutlichen. Im staatlichen Fernsehen jedenfalls nicht. Die Machthaber sonnen sich in Popularitätswerten von bis zu achtzig Prozent. Unruhe auf der Straße gibt es praktisch nicht. Ein geplanter „Marsch der Nichteinverstandenen“ unter Führung von Schachmeister Garri Kasparow wurde von den Veranstaltern aus Sorge vor Verhaftungen selbst abgesagt. Zur Abrundung der reibungslosen Machtübergabe treten Putin und Medwedew am 9. Mai gemeinsam bei der Siegesparade der russischen Streitkräfte über Nazi-Deutschland auf dem Roten Platz auf. Der Triumph über Hitler ist zwar schon 63 Jahre her, damit das Volk aber immer noch frische Begeisterung zeigt, wurde die Dosis erhöht: Zum ersten Mal seit dem Ende der Sowjetunion vor 17 Jahren rollt diesmal wieder schweres Kriegsgerät durch die Moskauer Innenstadt. Schon Tage vor den Feierlichkeiten rasselten T-90-Panzer für Proben durch die Einkaufsstraße Twerskaja. Damit der Paradeplatz vor den Kremlmauern nicht zusammenbricht, wurden die darunterliegenden Metrostationen sogar mit Stahlpfeilern gestützt.

„Klar, das Leben ist schwer, deshalb geben sie uns Wodka und Panzer“, spottet eine dicke Dame am U-Bahn-Eingang vor den Kremlmauern. Normalerweise verkauft sie DVD-Raubkopien. Wegen der diversen Feierlichkeiten ist dafür derzeit aber zu viel Polizei unterwegs – da ist es sicherer, ganz offiziell russischen Pop zu verscherbeln. Für die poststalinistische Demonstration seiner Großmachtansprüche verzeichnet das neue Herrscherduo Putin-Medwedew hohe Zustimmung: Die Präsenz von schwerem Kriegsgerät im Moskauer Machtzentrum löst laut Meinungsumfragen gleich bei 70 Prozent der Russen Wohlgefallen aus.
Die kritischen Stimmen, die anderer Meinung sind, werden vom Rasseln der Panzerketten übertönt.

Von Tessa Szyszkowitz, Moskau; Mitarbeit: Andrej Iwanowski