Reformen: Sozial-politik im Vergleich

Hart oder herzlich

Wer ist unsozialer? Deutschland - Österreich?

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Das Interview bot eine typisch österreichische Melange von Charme und Hinterfotzigkeit. Zuerst holte Finanzminister Karl-Heinz Grasser am Mittwoch vergangener Woche im „Münchner Merkur“ zum Rundumschlag gegen den großen Nachbarn im Norden aus: Die Wirtschaftsmacht Deutschland hänge an der „Herz-Lungen-Maschine“, stellte der gelernte Betriebswirt eine Ferndiagnose, um gleich im Anschluss joviale Genesungswünsche auszusprechen: „Man wünscht sich, dass Deutschland wieder zum Wirtschaftsmotor wird in Europa.“
Am Ende jedoch behielt der Wiener Triumphalismus die Oberhand. In seiner Amtszeit, so Grasser unverhohlen, habe das Land die Wende zum ersten Überschuss seit 30 Jahren geschafft. Die jüngsten Haushaltsdefizite unterschlug er nonchalant.
Kein Zweifel: Österreich hat im Umgang mit dem großen Nachbarstaat zu neuem Selbstbewusstsein gefunden. „Die Österreicher definieren ihre subjektiv gefühlte Erfolgsgeschichte stark aus der Krise des Nachbarn“, sagt der deutsche Zukunftsforscher und ÖVP-Berater Matthias Horx. Das sei ihnen auch zu vergönnen. Schließlich hätten sich „die Deutschen lange ziemlich präpotent benommen“.

Siegesserie. Die Österreicher müssen heute nicht mehr den 3:2-Sieg von Córdoba bei der Fußball-WM 1978 in Argentinien heraufbeschwören, um sich von der deutschen Übermacht freizustrampeln. Erfolgsmeldungen sind mittlerweile zur Routine geworden – freilich nicht im Fußball, sondern im internationalen Wettbewerb.
Beim Bruttoinlandsprodukt pro Kopf rangiert Österreich heute vor der Bundesrepublik, in den EU-Rankings der innovativsten Mitgliedsstaaten liegt Deutschland deutlich abgeschlagen hinter Österreich zurück. Die Genugtuung über die heimische Erfolgsgeschichte könnte nur noch durch einen Sieg im Freundschaftsspiel Österreich – Deutschland am 18. August in Wien gekrönt werden.
Die früheren Verhältnisse sind geradezu auf den Kopf gestellt worden: Hatten die Österreicher ihre nördlichen Nachbarn 1980 noch für moderner, zielstrebiger und erfolgreicher gehalten als sich selbst, so fällt der Befund heute deutlich nüchterner aus. „Bei Deutschland denken die Österreicher als Erstes an Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit“, resümiert Meinungsforscher Peter Ulram eine Befragung des Fessel-Instituts zum Verhältnis Österreichs zu seinem Nachbarn.

Ein Blick über die Grenze erklärt den Stimmungswechsel. 4,36 Millionen Arbeitslose, eine stockende Binnennachfrage und die – „Aufbau Ost“ genannte – Integration der ehemaligen DDR haben Deutschland in die schwerste Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg gestürzt.
Die nach dem Volkswagen-Vorstand Peter Hartz benannten Arbeitsmarktreformen sehen drastische Einschnitte vor: Langzeitarbeitslose sollen mit 345 Euro ihr Dasein fristen. (Zum Vergleich: In Österreich beträgt der durchschnittliche Bezug 664 Euro.) Lebensversicherungen und teure Eigentumswohnungen müssen verkauft werden. Selbst arbeitslose Manager könnten in die ungewohnte Situation kommen, deutsche Parks säubern zu müssen, denn jede angebotene Beschäftigung gilt als zumutbar.
Schwerer als die Wirtschaftsflaute jedoch wiegt die Identitätskrise. Deutschlands Zeitungen schreiben das Land chronisch krank, und die Bevölkerung verzeiht Bundeskanzler Schröder nach langen Jahren des Zögerns die sozialpolitische Rosskur nicht. Seine Reformen werden als Verstoß gegen das sozialdemokratische Leitmotiv des sozialen Ausgleichs gewertet.
Österreichs Sozialdemokratie leidet mit den deutschen Genossen – und an ihnen. Im Nationalratswahlkampf 2002 malte die ÖVP kurz nach der Wiederwahl Schröders genüsslich das Schreckgespenst Rot-Grün an die Wand. Der Lagerwahlkampf gipfelte in einem ÖVP-Inserat mit einem Zigarre rauchenden Schröder und der Warnung vor einer halbierten Familienbeihilfe, worauf die SPÖ den deutschen Kanzler kurzerhand wieder von ihrer Wahlkampf-Abschlussveranstaltung auslud.
Vor dem nächsten zeitlichen Zusammentreffen eines deutschen und eines österreichischen Wahltermins graut SPÖ-Bundesgeschäftsführer Norbert Darabos deshalb schon heute: Im Herbst 2006 soll in Deutschland und Österreich über die neue Regierung entschieden werden.
Darabos geht vorsorglich auf Distanz: „Die SPD ist auf dem Irrweg.“ Stattdessen siedelt der SPÖ-Stratege den deutschen Kanzler näher beim politischen Gegner an: „Ich sehe klare Parallelen zwischen der SPD und der ÖVP.“ Auch der Grüne Sozialsprecher Karl Öllinger macht „starke Ähnlichkeiten“ zwischen Schwarz-Blau und Rot-Grün in Berlin aus.

Brutale Einschnitte. Tatsächlich beschreiten Österreichs Konservative und Deutschlands Linke in der Sachpolitik ähnliche Wege. Die deutschen Einschnitte fallen dabei wesentlich brutaler aus. Angesichts des starren Stabilitätspakts der Europäischen Union und der flauen Wirtschaftslage bleibt ihnen oft keine andere Wahl.
So bastelte Arbeitsminister Martin Bartenstein schon vergangenes Frühjahr an einer mit Hartz IV vergleichbaren Verschmelzung von Notstands- und Sozialhilfe, scheiterte aber am Veto der Länder. Bartenstein: „Deutschland ist uns hier einen Schritt voraus, die Zusammenlegung bleibt aber unser Ziel.“ Strenge Zumutbarkeitsregelungen, wie sie in verschärfter Form bald auch in Deutschland gelten sollen, sind hierzulande bereits Gesetz.
Der entscheidende Unterschied: Vor dem Hintergrund der rigorosen EU-Stabilitätsbestimmungen und einer anhaltend schwachbrüstigen Weltwirtschaft verkauft die ÖVP ihren auch ideologisch motivierten Umbau des Sozialstaates erfolgreich als politischen Realitätssinn. Sozialdemokratische Regierungen stehen hingegen vor der Wahl, alte Besitzstände zu verteidigen oder im Reformprozess für die Abkehr von sozialdemokratischen Werten abgestraft zu werden: Den Roten verzeiht man Sozialabbau nicht, Konservative kommen oft mit einem blauen Auge davon.
In Deutschland haben Schröders Reformen bereits zum Bruch mit den Gewerkschaften geführt. Statt auf Verhandlungen setzen diese nun auf Konfrontation. Angesichts der traditionell engeren Partnerschaft von Gewerkschaft und SPÖ sei eine solche Entfremdung in Österreich ausgeschlossen, sagt ÖGB-Vizepräsident Rudolf Nürnberger: „Bei uns herrscht eine andere Gesprächskultur.“

Konflikte unvermeidlich. Die SPÖ stehe wie alle anderen sozialdemokratischen Parteien vor der Wahl, meint Trendforscher Horx: „Entweder sieht sie sich weiter als verlängerter Arm der Gewerkschaft und schrumpft zur 25-Prozent-Partei. Oder sie modernisiert sich. Dann sind Konflikte mit der Gewerkschaft unvermeidlich.“ Auch Michael Frank, Korrespondent der „Süddeutschen Zeitung“ in Wien, sieht die Sozialpartnerschaft nicht als Blaupause für den ewigen Frieden. Der Neoliberalismus würde mit Verspätung auch den ÖGB in eine Kampforganisation verwandeln.

Deutschlands soziale Konflikte könnten auch in anderen Bereichen auf Österreich überschwappen. Die in Anlehnung an deutsche Debatten von der Industriellenvereinigung (IV) geforderte Anhebung der Wochenarbeitszeit ist zwar in der ÖVP nicht mehrheitsfähig, doch der Druck auf die Arbeitnehmer steigt. Durch die von Bartenstein geplante Umsetzung der EU-Arbeitszeitrichtlinie würden Überstundenzuschläge entfallen und die Gehälter sinken. Laut Arbeiterkammer würde sich der Lohnverlust auf 550 Millionen Euro pro Jahr belaufen. Von Rudolf Nürnberger kommt deshalb ein klares Nein.
In der Arbeitsmarktpolitik droht ebenfalls Ungemach. Zwar ist der offizielle Anteil der Langzeitarbeitslosen an der Gesamtstatistik in Österreich mit 25 Prozent halb so hoch wie in Deutschland. Rechnet man die in Schulungen, der Notstandshilfe und Pensionsvorschussleistungen versteckten Arbeitslosen mit ein, ergibt sich jedoch ein anderes Bild. Laut Karl Öllinger liegt der Anteil der Langzeitarbeitslosen dann ebenfalls bei 50 Prozent. „Wenn sich die Qualität der Arbeitsmarktmaßnahmen nicht ändert, könnten wir vor ähnlichen Problemen stehen“, warnt Öllinger.
Schlechte Aussichten schließlich auch für das heimische Gesundheitssystem. Die Gebietskrankenkassen leiden unter der Arbeitslosigkeit, da der Bund die Einnahmenausfälle mit seinen auf dem Stand von 2001 gedeckelten Zuschüssen nur zum Teil kompensiert. Ein Anstieg der Arbeitslosenrate würde auch das Kassendefizit weiter erhöhen – und die Rufe nach höheren Beiträgen noch lauter erschallen lassen als bisher.
Doch politisch bleibt eine Beitragserhöhung tabu. Angesichts von Lohnnebenkosten, die bereits über den deutschen liegen, „stehe eine Erhöhung nicht zur Debatte“, so Bartenstein. „Realitätsverweigerung“ nennt das der Chef der Ärztekammer, Reiner Brettenthaler. Die Arbeitgeberseite zeigt sich gesprächsbereit. „Wir werden um Beitragserhöhungen nicht herumkommen“, sagt IV-Generalsekretär Lorenz Fritz.

In seltener Einmütigkeit lehnen Regierung und SPÖ höhere Kassenbeiträge ab. Nur die Grünen wollen eine solche nicht ausschließen und schlagen eine Besteuerung von Kapitaleinkünften zur Sanierung des Kassendefizits vor – ursprünglich eine rot-grüne Forderung in Deutschland.
Doch da hilft vielleicht eine strategische Anleihe bei Karl-Heinz Grasser: Über Defizite spricht man nicht.