Harvard-Biomathematiker Martin A. Nowak im Interview

Harvard-Biomathematiker Martin A. Nowak über Darvins Evolution und Krebs

Über Darvins Evolution, Kommunikation und Krebs

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profil: Gibt es in allen Bereichen ein Universalprinzip der Evolution?
Nowak: Zwei wesentliche Komponenten der Evolution sind Mutation und Selektion. Dazu benötigt man eine Population von Individuen, die sich vermehren können. Das können Zellen, Viren, Tiere oder Menschen sein, aber auch Ideen, die dann andere Menschen übernehmen. Es gibt also genetische und kulturelle Reproduktion.

profil: Kann es auch eine Mode wie die verkehrt getragene Baseballmütze sein?
Nowak: Ja, zum Beispiel. Oder unser Wissen. Wir unterschätzen, wie wichtig die Evolution ist, um das Wissen der Menschheit zu verbreiten. Wenn Sie einen Artikel schreiben, und andere können den Text lesen, dann können tausende Menschen diese Idee aufgreifen.

profil: Und das Internet wirkt dabei als Multiplikator, Beschleuniger?
Nowak: Es macht die Menschheit zu einem Superorganismus. Man kann dann ganz schnell nachlesen, wie dieser Autor über jenes Thema denkt.

profil: Als Biomathematiker berechnen Sie dynamische Prozesse in der Biologie. Wie kann man sich das vorstellen?
Nowak: Mathematik ist die Sprache der Naturwissenschaft. In der Physik weiß man das schon seit Langem. Johannes Kepler, der ja viel in Österreich tätig war, war der Erste, der mathematische Rechnungen in der Physik nicht nur als Analogien genommen hat, sondern als Beschreibung der physikalischen Realität. In der Biologie ist das mit einiger Verspätung erst im letzten Jahrhundert aufgekommen.

profil: Weil Biologie komplexer ist und sich ständig verändert?
Nowak: Eine Maus ist komplizierter als die Sonne. Aber die Physiker können auch ganz präzise Experimente machen, wo etwa in ­einem Teilchenbeschleuniger zwei Teilchen aufeinandertreffen. Oder sie können die ­Eigenschaft von einem Elementarteilchen studieren. In der Biologie können Sie aber nicht die Eigenschaft von einem isolierten Gen studieren, das macht keinen Sinn.

profil: Weil es ein vielfältiges Zusammenspiel gibt?
Nowak: Ja, so ungefähr. Deshalb ist das biologische Experiment an sich schon viel komplizierter. Es ist oft sehr schwierig, für ein Experiment eine eindeutige theoretische Beschreibung zu finden, um zu sagen: Es kann nur so sein.

profil: Die Tatsache, dass die Mathematik in die Biologie sehr viel später Eingang gefunden hat als in die Physik, hängt also mit der Komplexität der dynamischen Prozesse zusammen?
Nowak: Und mit der Regularität. Für Kepler und Newton war das, was man am Himmel sieht, perfekt, unveränderlich und immer wiederkehrend. Noch Einstein hat anfangs geglaubt, er muss ein Universum erklären, das sich nicht verändert. Im Gegensatz dazu war die Biologie einfach eine zufällige Unordnung, die man nicht erklären kann.

profil: Wer war der Erste, der die Mathematik in die Biologie eingeführt hat?
Nowak: Der Italiener Leonardo Fibonacci hat schon im 13. Jahrhundert eine Gleichung hingeschrieben, nach der sich Hasen vermehren sollen. Der wirkliche Einzug der Mathematik in die Biologie kam aber um 1920 mit den ersten Arbeiten in der Populationsgenetik und der Epidemiologie. Das Grundprinzip der Biologie ist die Evolution. Darwin hat dieses Prinzip formuliert, freilich ohne mathematische Gleichungen.

profil: War ihm bewusst, dass er damit auf ein Universalprinzip gestoßen ist?
Nowak: Er hatte schon im Jahr 1842, im ­Alter von 33 Jahren, diesen genialen Gedanken, dass möglicherweise alles irdische Leben aus einem einzigen Ursprung kommen und miteinander verwandt sein könnte.

profil: In dieser Idee ist das Universalprinzip der Evolution schon grundgelegt?
Nowak: Die Evolution ist universal in dem Sinne, dass alles Leben im Kosmos durch Evolution entstanden sein muss und sich weiterentwickelt. Es ist – zurzeit – nicht denkbar, dass es in unserem Universum ­einen anderen Mechanismus gibt, der zu Leben führt.

profil: Gar kein Aber?
Nowak: Doch, ich muss sofort einschränken: Ich glaube nicht, dass wir die Evolution schon vollständig verstehen. Das wäre eine Illusion. Wir haben gewisse Begriffe der Evolution, die wir verstehen, aber wir haben kein komplettes Bild. Wir haben keine Ahnung, wie viel sich auf diesem Gebiet noch verändern könnte.

profil: Werden wir sie jemals verstehen?
Nowak: Ich glaube, wir werden uns annähern, so wie in jedem Wissenschaftsgebiet. Man kann die gleiche Frage stellen: Verstehen wir die Quantenmechanik schon perfekt? Für den Forscher gibt es immer mehr offene als beantwortete Fragen. Für ihn gilt: Das, was man weiß, ist fad. Der Blick ist immer auf das Unbekannte gerichtet.

profil: Wie also muss sich der Laie die mathematische Berechnung biologischer Prozesse vorstellen?
Nowak: Betrachten wir eine Virusbevölkerung in einem Patienten, der behandelt wird. Jetzt kommt es zu einer Mutation des Virus, die Resistenz erzeugt. Man rechnet jetzt aus, wie lange es braucht, bis diese resistente Variante sich so vermehrt, dass sie die Population komplett übernimmt. Oder: Eine Krebszelle bekommt eine Mutation, welche die Geschwindigkeit erhöht, mit der die Krebszelle sich teilt. Wie lange dauert es, bis der Tumor Metastasen bildet?

profil: Beschäftigen Sie sich ausschließlich mit biomedizinischen Prozessen?
Nowak: 50 Prozent meiner Arbeit sind biomedizinisch, 50 Prozent sind Grundlagen der Evolutionstheorie. Aber alles, was ich mache, ist im Sinne der Evolutionstheorie. Krebs ist ein evolutionärer Prozess, Virusinfektionen ebenso. Alles in der Biologie ist Evolution.

profil: Ist biologische Forschung ohne Biomathematik überhaupt möglich?
Nowak: Es geht total in diese Richtung. In manchen Teilgebieten der Biologie ist das schon weiter fortgeschritten als in anderen. In der Evolutionsbiologie zum Beispiel oder in der Ökologie ist es bereits üblich, mathematische Modelle zu haben. Und es gilt eher als unvollständig, wenn jemand nur wörtlich seine Theorie beschreibt. Um einen Prozess wirklich zu verstehen, bedarf es einer mathematischen Beschreibung.

profil: Sie waren bald nach Ihrem Studium in Oxford, dann in Princeton, seit 2003 an der Harvard University. Spielt Biomathematik im angloamerikanischen Raum eine größere Rolle als etwa in Deutschland oder in Österreich?
Nowak: Es ist überall ziemlich gleich. Es gibt eine sehr erfolgreiche, von Peter Schuster und Karl Sigmund gegründete Wiener Schule der Biomathematik. Die beiden haben dann andere Wissenschafter hineingebracht.

profil: Sie beschäftigen sich ja im Rahmen der Evolution nicht nur mit Selektion, sondern auch mit Kooperation. Welches von beiden ist als Prinzip stärker?
Nowak: Es gibt das eine ohne das andere nicht. Selektion bedeutet Wettbewerb, und Kooperation bedeutet: Ich helfe dem, mit dem ich im Wettbewerb stehe. Die große Frage ist: Warum würde ich das machen? Warum würde natürliche Selektion zu einem Verhalten führen, wo man jemandem hilft, der eigentlich mein Konkurrent ist?

profil: Damit die Spezies als Gruppe überlebt?
Nowak: Das wäre eine traditionelle Antwort etwa im Sinne von Konrad Lorenz gewesen. Aber da muss man vorsichtig sein, weil Selektion normalerweise auf dem Level des Individuums wesentlich stärker ist als auf dem Level einer Art. Man könnte sagen: Ja, es ist gut, wenn eine Art kooperativ ist. Aber wenn da ein einziges nicht kooperatives Individuum ist, dann hat dieses Individuum einen Selektionsvorteil – es könnte dann mehr und kompetitivere Nachkommen produzieren und alles zerstören. So würde sich das Prinzip dann nicht durchsetzen.

profil: Aber ist das Prinzip „survival of the fittest“ nicht stärker als Kooperation?
Nowak: Zunächst einmal wirkt „survival of the fittest“ gegen Kooperation. Aber – und das ist eben meine Forschung: Natürliche Selektion braucht gewisse Mechanismen, um den Vorteil der Kooperation zu sehen. Zum Beispiel kann es zu wiederholten Wechselwirkungen kommen, wo sich dann das Prinzip durchsetzt: wie du mir, so ich dir. Also helfe ich Ihnen heute, Sie helfen mir morgen. Beide profitieren wir davon.

profil: Das ist ja auch im Wirtschaftsleben oft so.
Nowak: Und so ist es auch in der Biologie. Und das wäre ein Grundprinzip, das wir als direkte Reziprozität bezeichnen.

profil: Und in der Biologie stoßen Sie auf das Prinzip Kooperation immer wieder?
Nowak: Ja, zum Beispiel ist Krebs ein Zusammenbruch der Kooperation. Die Zellen in unserem Körper unterdrücken nämlich ihr eigennütziges Programm, sich zu teilen. Das heißt, in unserem Körper macht es keinen Sinn, wenn sich jede Zelle ununterbrochen teilt. Die Zellen teilen sich nur, wenn es benötigt wird. Und sie helfen einander. Das heißt, unser Körper ist wie eine große Ameisenkolonie. Es ist nur die Königin, die sich vermehrt. Wenn aber Zellen Mutationen bekommen, die dieses Programm zerstören, dann können sie zu ihrem ursprünglichen Programm zurückgehen und sich schnell und sinnlos teilen. Und das ist Krebs.

profil: Es ist im menschlichen Leben genauso?
Nowak: Menschen sind in eine Gesellschaft eingebettet. Da steht man einerseits im Wettbewerb, ist aber andererseits auf Kooperation angewiesen. Und das ist auch das Thema meiner Lecture am Mittwoch dieser Woche in Klosterneuburg, nämlich „Evolution of cooperation: From selfish genes to supercooperators“.

profil: Was bringt Menschen zur Koopera­tion?
Nowak: Das wichtigste Prinzip beim Menschen ist die Idee: Ich verhalte mich kooperativ, damit ich die Reputation eines hilfsbereiten Menschen bekomme. Menschen sprechen darauf an, anderen Menschen zu helfen, die eine gute Reputation haben. Das kriegt man schon von den Eltern mit, dass man auf seine Reputation als hilfsbereiter Mensch achten sollte.

profil: Ist Kooperation in unseren Genen festgelegt?
Nowak: Also, irgendwie schon, aber auf eine Art und Weise, die man überhaupt noch nicht versteht. Etwa in dem Sinne: Es gibt kein einzelnes Gen, das im Menschen zur Kooperation führt, aber die Gene bestimmen die Architektur des Gehirns, die dann festlegt, wie Menschen lernen und kooperieren.

profil: Was sind Ihre nächsten Arbeiten?
Nowak: Ich schreibe ein Buch über die Grundprinzipien der Kooperation. Ich arbeite auch an mathematischen Modellen zur Aufklärung der Krebsentstehung.

profil: Könnten diese Modelle dabei helfen, den Krebs leichter zu besiegen?
Nowak: Es ist die große Hoffnung, dass Mathematik zu einem exakten Verständnis führen kann, sodass man dann in einer Art Ingenieurswissenschaft ausrechnen kann, was zu tun ist, um den Krebs zu stoppen.