Die heimische Hochfinanz zieht Bilanz

Heimische Hochfinanz zieht Bilanz: Vor einem Jahr kollabierte Lehman Brothers

Vor einem Jahr kollabierte Lehman Brothers

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Die Herren, die sich an diesem milden Freitag im Herbst 2008 rund um einen Konferenztisch in einem mausgrauen Bürogebäude in der New Yorker Liberty Street Nummer 33 versammeln, wissen, was auf dem Spiel steht. Es ist der 12. September 2008, Schlag 18 Uhr Lokalzeit. Hausherr Timothy Geithner, Chef des US-Zentralbanksystems Federal Reserve (Fed), hat rund 30 Repräsentanten der internationalen Hochfinanz, vorwiegend Amerikaner, zu einer Krisensitzung hinter verschlossenen Türen geladen. Es geht um die Zukunft des vom Kollaps des US-Hypothekensektors massiv betroffenen New Yorker Traditionshauses Lehman Brothers Inc. Zu diesem Zeitpunkt stehen bereits mehrere strauchelnde Finanzkonzerne unter Kuratel der US-Regierung. Geithner, er wird später unter Barack Obama zum Finanzminister avancieren, hat keine guten Nachrichten. „Diesmal wird kein Staatsgeld fließen“, eröffnet er den Anwesenden.

Hektisch wird in den folgenden 48 Stunden nach einer Lösung gesucht. Ein gemeinsamer Hilfsfonds wird diskutiert, scheitert in der letzten Minute aber an einigen Milliarden Dollar. Die Bank of America bekundet Interesse – kann aber nicht ohne Staatshilfe kaufen. Als letztes Institut ist die britische Barclays Bank im Rennen. Als die Vorverträge schon geschrieben werden, bläst die britische Finanzaufsicht am Sonntagnachmittag, es ist der 14. September, den Deal ab: Ohne US-Staatsgarantien ist den britischen Aufsehern das Risiko zu groß. Lehman könnte Barclays mit in die Tiefe reißen. Doch die US-Regierung bleibt hart.

Und so ist noch am Sonntagabend klar: Lehman Brothers, die 158 Jahre alte Traditionsbank, wird untergehen. Die Gerüchte jagen in Windeseile um den Globus. Noch im Morgengrauen des 15. September ist es dann Gewissheit. Um 6.37 Uhr mitteleuropäischer Sommerzeit flirrt die erste bestätigte Meldung über die Bildschirme der Nachrichtenagenturen: Lehman muss Gläubigerschutz beantragen.

Dieser unheilvolle 15. September 2008 markiert eine Zeitenwende. Bis dahin hatte es den Anschein, als blieben die Probleme des Hypothekenmarkts weitestgehend auf die USA beschränkt. Mit dem Kollaps der international eng verflochtenen Investmentbank wurde die Krise gleichsam über Nacht globalisiert – Banken, Börsen, Geldmärkte und selbst Kleinstaaten gerieten ins Schleudern, ehe im Jahresverlauf 2009 auch die so genannte Realwirtschaft erfasst und in eine tiefe Rezession gezwungen wurde.

Österreich konnte sich dem Chaos nicht entziehen. Die Wirtschaft wird 2009 und wohl auch 2010 schrumpfen, Staatsverschuldung und Arbeitslosenzahlen schnellen hoch, die größten Banken des Landes haben entweder bereits Staatshilfen in Anspruch genommen oder stehen unmittelbar davor.

„In der Sekunde war klar: Das ist der finanzpolitische Tsunami“, rekapituliert Ex-Finanzminister Wilhelm Molterer. Auch Raiffeisen-International-Chef Herbert Stepic findet tragende Worte: „Man wird in den Geschichtsbüchern die Zeit in ‚vor Lehman‘ und ‚nach Lehman‘ unterteilen.“
Bis zum 15. September war es ein ungeschriebenes Gesetz, dass systemrelevante Banken in Notsituationen vom Staat gerettet werden. Urplötzlich galt dieses Gesetz nicht mehr. „Systemrelevant“ – das sind Banken, die bei ihrem Zusammenbruch die gesamte Branche ins Wanken bringen können. Banken, die groß genug und eng mit anderen verbandelt sind. Dass Lehman systemrelevant ist, dar­an hatte eigentlich niemand gezweifelt. Noch kurz zuvor hatte die US-Regierung Bear Stearns gerettet, eine Investmentbank, die deutlich kleiner war. Lehman hingegen war eine der fünf größten Wallstreet-Banken. Mit Schulden von über 600 Milliarden Dollar war die Bank im September 2008 der bis dahin größte Insolvenzfall der US-Geschichte. Lehman hatte zu diesem Zeitpunkt 900.000 offene Kontrakte, die Hälfte des Geschäfts war über den ganzen Globus verteilt. „Wenn Lehman nicht systemrelevant ist – wer ist es dann?“, fragt Christoph Matznetter, der in diesen Tagen als Staatssekretär im Finanzministerium arbeitete.

Und so ging die Angst um, dass jeden Tag eine weitere Bank umfallen könnte, jedes Institut wurde plötzlich von den anderen als Gefahr wahrgenommen. Und damit war der Flächenbrand eingetreten: Der Geldmarkt brach zusammen, weil keine Bank der anderen mehr Geld leihen wollte.

profil nimmt den ersten Jahrestag der Lehman-Pleite zum Anlass, die dramatischen Ereignisse aus österreichischer Sicht zu rekonstruieren. Erstmals sprechen Vertreter des heimischen Finanzsektors sehr offen über ihre Erfahrungen und Erlebnisse in jenen Septembertagen, welche die Welt nachhalig verändern sollten.

Montag, 15. September Finanzmarktaufsicht

Für Kurt Pribil, Vorstand der Finanzmarktaufsicht, beginnt der Tag früh. Er hat über das ganze Wochenende seinen Blackberry nicht mehr aus den Augen gelassen. Gerüchte über die drohende Pleite waren immer wieder durchgesickert. „Am Montag haben wir als Erstes um acht Uhr eine Krisensitzung mit den engsten Mitarbeitern einberufen“, erinnert sich Pribil. So schnell wie möglich soll geklärt werden, welche Institutionen in Österreich direkt von der Pleite bedroht sind. Der Draht in die Nationalbank läuft heiß. Schnell wird entschieden: Die FMA kümmert sich um die Versicherungen, die Notenbank durchleuchtet die Banken. Pribil und sein Kollege Helmut Ettl weisen die Mitarbeiter an, ihre Terminkalender, so gut es geht, freizuschaufeln. Der Ernst der Situation verlangt ihre absolute Aufmerksamkeit. Eine außerordentliche Sitzung der Abteilungsleiter wird für 13 Uhr anberaumt. Ab da tagt der Krisenstab täglich. Die Mitarbeiter durchforsten Bilanzen und durchleuchten Garantieprodukte. Schnell ist klar, dass auch österreichische Versicherungen und Banken direkt von der Pleite betroffen sind. Doch nach außen dringen keine Zahlen, sondern nur beruhigende Worte: Die Auswirkungen auf die österreichischen Banken seien „begrenzt“.

Raiffeisen Centrobank

„In dieser Nacht hat sich unser Leben verändert“, sagt Michael Spiss, Raiffeisen-Centro-Bank-Vorstand. Er hat schon einige Erschütterungen an den Finanzmärkten erlebt. Immer ging es um Kursverluste. Doch dieses Mal ging es um das System an sich. „Wir saßen täglich hier und wussten nicht, was noch alles kommt. Den Untergang eines weiteren großen Players hätte das System nicht verdauen können. Das Glas hatte plötzlich einen Riss. Wenn man es noch einmal unvorsichtig angegriffen hätte, wäre es zerbrochen“, sagt Spiss.

Oesterreichische Kontrollbank

Wenn Rudolf Scholten, Chef der Oesterreichischen Kontrollbank (OeKB), über den 15. September spricht, wird er nachdenklich: „Alle haben sich plötzlich gefragt: Wenn das möglich ist, was ist als Nächstes möglich? Die Finanzwelt hat für einige Zeit den Atem angehalten. In diesem Gefühl des Nicht-glauben-Könnens sehe ich eine Parallele zum 11. September.“ Wie in vielen anderen Banken des Landes wurden auch in der OeKB am Montagvormittag die eigenen Bücher auf direkte Berührungspunkte mit Lehman durchsucht.

Dienstag, 16. September Oesterreichische Nationalbank

Die Woche seines Amtsantritts hätte kaum dramatischer sein können. Als Ewald Nowotny, Gouverneur der Oesterreichischen Nationalbank (OeNB), die Nachricht vom Lehman-Kollaps vernimmt, ist ihm sofort klar, dass die Situation „extrem schwierig“ wird. „Ich habe es sofort als Fehler empfunden, dass man Lehman in die Pleite geschickt hat. Wie dramatisch die Folgen tatsächlich waren, hat sich schnell gezeigt.“ Noch am Montagvormittag ist die erste Krisensitzung einberufen und ein Krisenstab eingerichtet worden. Der Dienstag beginnt für Nowotny bereits um 6.30 Uhr mit einem Radio-Interview, das der Öffentlichkeit Ruhe signalisieren soll: Die Österreicher müssten sich keine Sorgen um ihre Banken machen, die Konjunktur jedoch könne ­darunter leiden, so der neue Gouverneur.

Noch bevor Nowotny sich um 8 Uhr mit dem Krisenstab im eigenen Haus trifft, telefoniert er mit Vertretern des Internationalen Währungsfonds. Den ganzen Tag über wird mit Finanzministerium, Finanzmarktaufsicht und Europäischer Zentralbank konferiert. Mit der amerikanischen Fed werden Kreditlinien abgestimmt, damit in Europa genügend Dollar vorrätig sind. Mit der Schweizerischen Nationalbank werden auf österreichischen Vorschlag hin ähnliche Arrangements getroffen. Um 16 Uhr wird erneut ein ORF-Interview eingeschoben. „In dem allgemeinen Krisengetümmel ging die feierliche Amtsübergabe um 17.30 Uhr fast unter“, sagt Nowotny im Rückblick.

Erste Sparinvest

„Wenn AIG an diesem Dienstag nicht gerettet worden wäre, hätten wir alle ein enormes Problem bekommen“, sagt Franz Gschiegl, Vorstand der Erste Sparinvest, Kapitalanlagegesellschaft der Erste Bank Gruppe. Der US-Versicherungskonzern mit einer Bilanzsumme von über 1000 Milliarden Dollar steckt zu diesem Zeitpunkt so tief im Kreditversicherungsgeschäft, dass ein Zusammenbruch in der ohnehin aufgeheizten Stimmung unvorstellbare Konsequenzen hätte. Gschiegl hat seine Leute sofort nach der Lehman-Pleite angewiesen, Cash-Positionen aufzubauen. Das bedeutet, dass sie für den Fall, dass Kunden ihre Fondsportfolios auflösen wollen, die Rückzahlung sicherstellen müssen. Wäre das nicht gelungen, hätte man einen Fonds einstellen müssen. Doch es ist alles gut gegangen.

Mittwoch, 17. September OeKB

Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ berichtet, dass das deutsche Finanzinstitut KfW noch am Montagmorgen eine Überweisung von 300 Millionen Euro an Lehman getätigt hat. Das hauseigene Computersystem hat die Zahlung noch vor Geschäftsbeginn am Montag freigegeben. Dieser automatisierte Prozess ist bei vielen Geschäften üblich. Bei OeKB-Chef Rudolf Scholten schrillen die Alarmglocken. „Es sind scheinbar kleine Sicherheitslücken wie diese, die ich für besonders gefährlich halte. Damit haben wir nach Lehman sehr viel Zeit verbracht“, so Scholten. Er lässt seine Bank in den Folgewochen bis ins kleinste Detail nach Schlupflöchern für Pannen untersuchen.

Folgetage im September OeNB

Eine der dringlichsten Herausforderungen für die Nationalbank in den ersten Tagen nach der Lehman-Pleite ist die Versorgung mit Euro-Bargeld. Niemand hält es für ausgeschlossen, dass die Kunden in der Angst um ihre Spareinlagen die Banken stürmen könnten. Man will gewappnet sein. „Die physische Geldversorgung lief auf Hochtouren“, bestätigt Nowotny.
Ein Geldtransporter nach dem anderen rollt von der Nationalbank zu den Geschäftsbanken. Die Verunsicherung der Kunden ist groß, die Schalterangestellten werden Zeugen nicht gekannter Absurditäten. „Ein Kunde wollte sein Erspartes in 100er-Scheinen abheben, die in Deutschland begeben worden waren. Er vertraute den österreichischen nicht mehr“, sagt die Sprecherin einer Bank.

Die Gefahr eines Bank-Runs ist in dieser Phase zum Greifen nahe. Nach Auffliegen des Bawag-Skandals im Frühjahr 2006, als Kunden in Schlangen vor den Instituten standen und Geld abhoben, waren in Österreich monatlich etwa drei Milliarden Euro Bargeld im Umlauf – im vergangenen Herbst waren es sieben Milliarden Euro. „Die OeNB hat in diesen Tagen auch einige Länder Zentral- und Osteuropas mit Bargeld versorgt“, erinnert sich Nowotny. Ganze Flugzeuge werden beladen und Richtung Balkan geschickt. Dass die Reserven letztlich ausreichen werden, ist nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass die EZB die Sonderrolle der OeNB anerkennt und sie dabei unterstützt.

Raiffeisen International

Für RI-Chef Herbert Stepic ist die Bargeld-Frage eine der wichtigsten in den ersten Tagen. „Mein Schlüsselerlebnis waren Bilder wartender Kunden vor den Northern-Rock-Filialen in Großbritannien“, so Stepic. „Ein Bank-Run ist der Albtraum für jede Bank.“ Wenn Kunden gleichzeitig ihre Einlagen abziehen und unters Kopfkissen legen, ist jede Bank pleite – auch wenn sie eigentlich kerngesund ist. Stepic weiß, dass die Kunden in vielen osteuropäischen Ländern schlechte Erfahrungen in der Vergangenheit gemacht haben, und er ahnt, dass sie viel schneller zur Bank laufen könnten, als es die Österreicher tun würden. Und so sorgt Stepic schon früh vor: „Wir haben schon ab Jahresanfang 2008 begonnen, die Liquiditätsversorgung in einigen Ländern hochzufahren.“

Sonntag, 5. Oktober Finanzministerium

Die deutsche Bundesregierung kündigt an, die Spareinlagen unbegrenzt zu sichern. „Das war mit uns nicht abgesprochen. Ich habe sofort Peer Steinbrück angerufen und gefragt, was sie wirklich vorhaben“, meint Wilhelm Molterer, damaliger ÖVP-Finanzminister. Österreich gerät unter Druck: Reagiert die Bundesregierung nicht, droht ein massiver Geldabfluss ins Nachbarland. Noch am gleichen Abend erklärt Kanzler Alfred Gusenbauer, dass man gleichziehen werde.

13. Oktober Finanzministerium

100 Milliarden Euro. Das ist ein Wort. Als Gusenbauer und Molterer das Bankenpaket um 15 Uhr in einer Pressekonferenz vorstellen, stehen ihnen die zähen Verhandlungen der Vortage ins Gesicht geschrieben. „Wir hatten im Finanzministerium einen Dauerbetrieb eingerichtet“, so Molterer. Im Ministerium sind dafür drei Räume reserviert worden – einer für die gemeinsamen Gespräche, einer zum Zurückziehen für Einzelgespräche und einer für die Verpflegung. „Es gab in dieser Zeit eine Fülle von Meetings, die Gott sei Dank nicht an die Öffentlichkeit gedrungen sind. Das hätte nur für Verunsicherung gesorgt“, ergänzt Molterer.

27. Oktober Der Investor

Die Lehman-Pleite kippte den Wertpapierhändler Cirilo Karaian nicht aus den Schuhen. Im Gegenteil. Er hatte sogar auf fallende Papiere einiger Investmentbanken gesetzt – und gewonnen. „Es hat mich dennoch überrascht, wie heftig und wie schnell sich die Folgen auf den Gesamtmarkt durchgeschlagen haben“, sagt der Salzburger Investor. Lange hat er an eine überfällige Korrektur der Märkte geglaubt und versucht, auf besonders krisenresistente Unternehmen und Märkte zu setzen. Auf den größten chinesischen Bierproduzenten beispielsweise. Doch als im Oktober auch noch die asiatischen Märkte einbrechen, bekommt er weiche Knie. „In diesen Tagen hatte ich Angst, dass das ganze System zusammenbricht, dass gesunde Banken mit in den Abgrund gerissen werden und weltweites Chaos ausbricht. Ich habe mir deswegen einen Lebensmittelvorrat angelegt.“

Mit der Angst vor dem Zusammenbruch ist Karaian nicht allein. „Ich habe mir an einigen Tagen überlegt, ob ich wohl am nächsten überhaupt noch ins Büro kommen muss. Nicht, weil mein Institut so schlecht dastand, sondern weil es so aussah, als könnte der gesamte Markt zusammenbrechen“, so ein Trader einer großen österreichischen Bank, der namentlich nicht genannt werden will. „Wenn ich aus dem Fenster geblickt habe, war ich froh, wenn ich Leute gesehen habe, die noch einkaufen gehen. Gott sei Dank haben die nicht begriffen, was auf sie zukommen könnte.“
Die brisante Gemengelage war den Bankern wenig überraschend viel bewusster als deren Klientel. Inwieweit die Beruhigungsparolen von höchster Stelle die Bevölkerung in die Irre geführt oder aber das Schlimmste verhindert haben, sei dahingestellt.

Aus Sicht der Akteure war es ein Spagat, den sie meistern mussten: Einerseits durften sie die Panik mit allzu ehrlichen Aussagen aus ihrer Gefühlswelt zu diesem Zeitpunkt nicht noch weiter anheizen. Andererseits machten sie sich mit allzu positiven Aussagen unglaubwürdig. Wochenlang versuchten Politiker und Banker daher die goldene Mitte zu finden.
Doch wie viel Optimismus ist legitim? „Es ist vernünftig, im Rahmen des Glaubhaften das Bessere zu erzählen“, sagt OeKB-Chef Scholten. Die Grenze ist naturgemäß schwer zu ziehen. Nur an einem Tag stellte sich diese Frage nicht, wie Scholten resümiert: „Im Augenblick der Lehman-Pleite war es nicht mehr legitim, eine weltweite Krise zu leugnen“, so Scholten.