Oliver Stone: „Helden- tum ist ein Fluch“

„Heldentum ist ein Fluch“

Der US-Regisseur im profil-Exklusiv-Interview

Drucken

Schriftgröße

profil: Ihr Kollege Steven Spielberg hat die Katastrophe vom 11. September seinerzeit zum filmischen Tabu erklärt. In der amerikanischen Öffentlichkeit wird das Problem der künstlerischen Verantwortung seither vor allem auf die Frage der Pietät reduziert. Ist die Zeit erst jetzt, fünf Jahre später, reif für einen Hollywoodfilm zum Thema?
Stone: Ich denke, es ist fast schon zu spät. Die Ereignisse sind von den Politikern so sehr für ihre Ziele ausgebeutet worden, dass wir mit unseren Filmen schon viel früher hätten Einspruch erheben müssen. Aber Künstler folgen einer anderen Zeitrechnung als etwa Journalisten. Wir können nicht unmittelbar auf einen solchen Schock reagieren, wir brauchen Zeit, ihn zu absorbieren. Bei diesem Film kamen einfach auch praktische Gründe dazu: John und Will, die realen Vorbilder meiner beiden Protagonisten, brauchten zwei Jahre, um sich von den Verletzungen zu erholen, die sie sich in den Trümmern der Twin Towers zugezogen hatten. Erst danach waren sie in der Lage, offen über die Ereignisse und ihre Emotionen zu sprechen. Die Autoren brauchten ein Jahr für das Drehbuch, dann zirkulierte es ein weiteres Jahr lang, ohne dass sich ein Studio fand, das es realisieren wollte. Im vierten Jahr kam ich dazu. Erst da kam das Projekt richtig in Bewegung.
profil: Halten Sie Ihren Film denn nun noch für aktuell?
Stone: Aktualität ist eine ambivalente Kategorie. Ich musste 18 Jahre kämpfen, bis ich meinen ersten Film über Vietnam drehen konnte. „JFK“ habe ich erst 30 Jahre nach dem Attentat auf John F. Kennedy realisiert, „Nixon“ 20 Jahre nach dessen Amtszeit. Aber dafür konnte ich in jedem dieser Fälle von einem viel größeren Wissensstand über die Hintergründe profitieren.
profil: Kennen Sie eigentlich Joel Meyerowitz’ Fotoband „Aftermath“, der aus Bildern besteht, die er auf Ground Zero schon wenige Wochen nach den Anschlägen gemacht hat? Vieles in diesen Fotos ähnelt Ihrem Film auf frappierende Weise.
Stone: Ich kenne den Bildband nicht, aber ich habe von dem Projekt gehört. Ich glaube, Meyerowitz hat neun Monate auf Ground Zero verbracht. Der Fokus meines Films ist aber viel enger: Ich erzähle von der Suche nach Überlebenden, und die wurden eben alle in den ersten 24 Stunden nach der Katastrophe geborgen. Was später geschah, ist in meinen Augen eine Schande: Die Behörden besaßen nicht einmal den Anstand, nach Ende der Aufräumarbeiten wenigstens zeitweilig einen Park zu errichten, in dem die Menschen trauern können. Zu einer Entscheidung über ein Denkmal konnte man sich bis heute nicht durchringen. Deshalb ist mein Film nun ein Denkmal geworden. Er wird vielleicht in 30 Jahren wie eine Art Archiv funktionieren, in dem man nachschauen können wird, wie es damals war. Aber verraten Sie mir doch, inwiefern mein Film Ähnlichkeit mit Meyerowitz’ Fotos besitzt.
profil: Der Fotograf erzählt die Katastrophe, genau wie Sie, letztlich als die Geschichte eines Sieges. Er zeigt viele Sternenbanner. Ich fand es bemerkenswert, dass ein Fotokünstler, der für seine pastoralen Idyllen bekannt ist, zu ganz ähnlichen Bildern kommt wie Sie, dessen Werk wesentlich von der Erfahrung des Krieges geprägt ist.
Stone: Mein Film schildert die Erlebnisse von zwei Männern, die gerettet wurden. Dazu gehört auch ihre Dankbarkeit. Das ist das Yin und Yang dieser Geschichte: Sie demonstriert nicht nur den Schrecken, die Düsternis jenes Tages, sondern auch, dass aus Leid und Unglück etwas Gutes entstehen kann. Ich dokumentiere zwar nicht wie ein Fotograf, aber „World Trade Center“ ist sicher mein authentischster Film, weil ich bei jedem Schritt die ganze Kooperation der Beteiligten hatte – der Geretteten wie ihrer Retter. Ich denke, der Film vermittelt ein Gespür dafür, wie es an diesem Tag war. Gewiss ist das nur ein Ausschnitt, eine subjektive Perspektive. Aber ich mochte, dass diese Perspektive etwas so Metaphorisches besitzt. Diese beiden Männer stecken im Herzen der Katastrophe. Die Türme stürzen über ihnen zusammen, aber sie überleben, weil sie in einen Fahrstuhlschacht gefallen sind. Sie tauchen auf wie die Überlebenden auf der Arche Noah, wie eine neue Spezies. Es passiert selten, dass eine Tragödie einen solchen Ausgang nimmt. Ich wollte eine Bewegung aus dem Dunkel ins Licht erzählen. Eine meiner Lieblingseinstellungen ist die, in der John McLoughlin auf der Bahre an die Oberfläche getragen wird – und über sich den blauen Himmel sieht.
profil: Dieses Gefühl der Katharsis hat Ihnen unverhoffte Bewunderer eingebracht. Der ultrakonservative Kommentator Cal Thomas etwa hat „World Trade Center“ als „einen der patriotischsten Filme aller Zeiten“ gepriesen. Fühlen Sie sich missverstanden?
Stone: Ich freue mich über jeden, dem der Film gefällt, egal, ob er links oder rechts steht. Die Humanität der Geschichte spricht die Menschen auf eine Art an, die Parteigrenzen überschreitet. Ich denke, er berührt die Menschen ganz direkt, geht ans Herz. Beim Lesen einiger Kritiken, vor allem aus Zeitungen an der Westküste, hatte ich das Gefühl, die Autoren hätten keinen wirklichen Zugang zu ihren eigenen Emotionen.
profil: Aber die Geschichte des Einsturzes der Zwillingstürme ist doch auch eine politische, nicht nur eine emotionale.
Stone: Natürlich ist es tragisch, wie sehr die Ereignisse vom 11. September ideologisch vereinnahmt worden sind. Die schlimmste Konsequenz sehe ich in der ethischen Immunität, der Gleichgültigkeit, die nun gegenüber Gewalt und Grausamkeit herrscht. Wir akzeptieren wie selbstverständlich, dass die Welt sich im Kriegszustand befindet. Aber ich wollte und will keine politische Aussage treffen, das wäre ein anderer Film. Die Männer, deren Geschichte ich erzähle, sprachen nie über Politik; ihr Handeln und Denken fand unter dem Radar von Bürokratie und Politik statt.
profil: Viele hätten gerade von Ihnen diesen anderen Film erwartet. Warum haben Sie die Erzählperspektive in „World Trade Center“ so eng gefasst?
Stone: Gerade weil der 11. September zu einem solchen Mythos geworden ist, schien es mir wichtig, an den Anfang zurückzugehen, zu dem, was am ersten Tag geschah, zu dem, was die Menschen gefühlt haben. Und das funktioniert nur, wenn man sich eng an die Perspektive der Betroffenen hält.
profil: Haben Sie diese Perspektive auch gewählt, um sich aus dem Bann der Fernsehbilder zu lösen, an denen wir uns seither offenbar nicht sattsehen können?
Stone: Ich wünschte, ich könnte darauf mit Ja antworten, aber tatsächlich sieht man auch in meinem Film Ausschnitte einer Nachrichtensendung. Aber sonst bleibe ich der Wahrnehmung der wenigen Hauptfiguren treu. Will Jimeno konnte sich nur daran erinnern, dass er den Schatten des zweiten Flugzeugs gesehen hat – er hat ihn eher nur gespürt als wirklich gesehen.
profil: Mussten Sie dieser Perspektive wirklich bis zu der – recht absurden – Christus-Vision treu bleiben, die einer der Verschütteten hat?
Stone: Will Jimeno wurde als Katholik erzogen. Auch John McLoughlin betete viel, als sie verschüttet waren. Die Spiritualität dieser beiden einfachen Menschen hat mich tief beeindruckt. Will erzählte mir ausführlich von dieser Vision. Er drohte, das Bewusstsein zu verlieren. Einzuschlafen hätte den sicheren Tod bedeutet, seine Körpertemperatur wäre gefallen, die Frequenz seines Herzschlags ebenfalls. In diesem Augenblick erschien ihm Jesus. Das wollte ich buchstäblich zeigen: Jesus mit einer Wasserflasche, der ihm Mut macht, nicht aufzugeben. Ja, ich fand es legitim, diese Vision filmisch umzusetzen.
profil: Und dann überblenden Sie auf den Marine-Sergeant, der die beiden rettet – eine eher furchterregende Figur. Oder hegen Sie als Patriot und Kriegsveteran da ambivalentere Gefühle?
Stone: Nein, mir jagt dieser Mann ebenso viel Angst ein wie Ihnen. Aber ich erzähle nur, was wirklich geschehen ist: Die Verschütteten wurden von einem Marine gefunden, der ein wiedergeborener Christ ist – wie übrigens viele der jungen Soldaten, die in den Irak gehen. Er begeht den heroischsten Akt des Films, weil er nicht einfach nur seine Pflicht erfüllt. Er spürt in sich einen Auftrag, den er von Gott erhält. Diese Mission treibt ihn später zur Rache, im alttestamentarischen Sinn. Er verkörpert die amerikanische Reaktion: Ja, wir waren zornig, ja, wir sind im Irak einmarschiert und haben dort eine neue Katastrophe angerichtet. Er steht für eine unbequeme Wahrheit.
profil: Halten Sie den Marine für eine zentrale Figur Ihres Films?
Stone: Ich glaube, es war George Orwell, der sagte, es braucht harte Männer, die harte Dinge tun, um uns in der Nacht zu schützen. Der Marine steht deshalb auch außerhalb der Gesellschaft. Die anderen Figuren sind alle miteinander verbunden, aber er ist ein Außenseiter. Das Heldentum ist ein Fluch. Er ist wie eine Figur aus der griechischen Mythologie. Herakles war ein großer Held, aber war er es nicht auch, der seine Kinder getötet hat? Ich finde, der Marine steht in dieser ambivalenten Tradition der Heldenbilder.
profil: Mögen muss man diese Figur aber nicht, oder?
Stone: Nein, man muss sie moralisch nicht gutheißen. Ich persönlich verabscheue das aktuelle fundamentalistische Sendungsbewusstsein. Im Gegensatz zu George W. Bush glaube ich nicht, dass man durch ein Wunder eine zweite Chance erhält und einem am Sonntag in der Kirche die Sünden vergeben werden.
profil: Sie sind bekannt dafür, Ihre Filme für die DVD-Auswertung radikal umzuschneiden. Was werden Sie an „World Trade Center“ ändern?
Stone: Ich habe nur wenig Material gedreht. Da ist nicht viel übrig, was nicht schon im Film enthalten ist. Ich wollte einen einfachen, emotionalen Film drehen. Manche Filme kann man neu montieren, weil sie so komplex sind. Von „Alexander“ etwa habe ich jetzt die dritte Version innerhalb von drei Jahren geschnitten. Die Kinofassung von „World Trade Center“ aber wird die endgültige sein. Filme wie dieser besitzen eine Einfachheit, die man nicht mehr ändern kann.

Interview: Gerhard Midding