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Helmut A. Gansterer Biografien und Briefwechsel

Biografien und Briefwechsel

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„Nichts ist für Menschen so interessant wie der Mensch“ profil-Mitgründer Jens Tschebull

Seriöse Kolumnisten sind Lotsen im Ozean der News. Sie sind dem Aktuellen verpflichtet. Freie Kolumnisten wählen ihr Thema wie Picasso: Ich suche nicht, ich finde. Zufall spielt eine Rolle.

Ein Beispiel: Ich hörte gerade den erfolgreichsten Protestsong aller Zeiten wieder, „Vorabend der Zerstörung“ („Eve of Destruction“), geschrieben von P. F. Sloan, gesungen von Barry McGuire. Zugleich fiel mir eine deutsche Bestsellerliste des Jahres 2007 in die Hand, die von österreichischen Erfolgsautoren dominiert wurde. Einige unserer üblichen Verdächtigen wie Thomas Glavinic, Robert Menasse, Michael Köhlmeier und Gerhard Roth besetzten die vorderen Ränge. Gar nicht auszudenken, was gewesen wäre, hätten auch Arno Geiger, Eva Menasse, Daniel Kehlmann, Daniel Glattauer und Peter Handke in diesen Monaten publiziert.

Damals schrieb ich als promovierter Patriot von einer „Entwicklungshilfe Österreichs für Deutschlands Verleger“. Nun aber, mit dem McGuire-Song im Hintergrund, begriff ich, dass dies die letzten unbeschwerten Glücksgefühle ­waren. Man wusste damals noch nicht, dass man wieder im „Vorabend einer Zerstörung“ lebte. Bald darauf kam die Krise. Ehe man den literarischen Sieg feiern konnte, wurde der Glaube der Amerikaner an die ewige Wertsteigerung ­ihrer Kartonhäuser erschüttert. Wie wir heute wissen, führte dies in unfrohen Sprüngen zur Immobilienkrise, zur Finanzkrise, zur Wirtschaftskrise und schließlich zur Staatsschuldenkrise, die heute den Horizont Amerikas, Japans und ­Eurolands verfinstert.

Um mich von dieser düsteren Assoziation abzulenken, dachte ich an ein zweites literarisches Phänomen, das 2007 aufstieg: die schubweise Wiederentdeckung der Biografien, Autobiografien, Tagebücher und Briefwechsel. Zwei neue Kleist-Biografien und gleich vier über Paula Modersohn-Becker gaben das Tempo vor.

Das hochrangige Feuilleton in Deutschland, der Schweiz und Österreich sprang begeistert auf. Man las viel Gescheites über die Aufrichtigkeitsunterschiede der Biografien toter versus lebender Berühmtheiten; über fatale Erinnerungs­unschärfen und Eitelkeiten einzelner Autobiografen und den genialen Titel der Lebenserinnerungen von Goethe: „Dichtung und Wahrheit“.

Auch die generelle Frage, warum Bücher über Einzelne so breite Zustimmung fanden und den höchsten Marktanteil bei Sachbüchern erreichten, wurde bunt durchdacht. Meist landete man bei Sigmund Freuds Auslegung, es gehe um die Sehnsucht der Leser, die Distanz zu den Berühmten zu verkleinern.

Man las allerdings auch Unsinn. Namhafte Feuilletonisten beklagten beispielsweise die tödliche Gefahr heutiger Print-Technologien, die books-on-demand ermöglichen, also jeden Penner befähigen, sich in kostengünstiger Kleinserie als Leibniz oder Napoleon darzustellen. Man hätte dies vielleicht auch heiterer sehen können, als wunderbares Ventil für verkannte Genies, vergleichbar dem tatsächlich segensreichen Handy, in das jeder Komplexler mitten im Restaurant hineinrufen kann: „Sie werden von meinen Anwälten hören.“ Das mag im Moment lästig sein, erspart uns aber zehn staatlich geförderte Nervenkliniken. Hier hebt die High-Tech ihr humanes Haupt.

Ein wenig lächerlich auch, dass selbst in einem „Spiegel“-Special Gerhard Roths glänzendes Selbstzeugnis „Das Alphabet der Zeit“ als Belletristik gehandelt wurde. Ein so brillant und weltmeisterlich-ruhig geschriebenes Buch war offenbar als authentisch nicht vorstellbar. Roth-Freunde wichtiger steirischer Jahre wie Wolfgang Bauer, Gerhard Rühm, H. C. Artmann und vielleicht Günter Brus würden wohl bestätigen, was ich nach Gesprächen mit Roth als Spät-Sekundant empfinde: jedes Wort im Grunde wahr, auch die so genannten „Kopfstücke“ lediglich durch Komprimierung wuchtiger als die Wirklichkeit. Allerdings wollte auch Roth selbst nicht von Autobiografie sprechen. So wie er auch ­seine Fotografie nicht als Kunst versteht, obgleich sie, wie jene von Atget und Becher, durch sequenziell beharrliche „Kunst des Sehens“ das rein Dokumentarische überhebt. Eines der ­Fotos von Gerhard Roth schenkte dem eigenen Buch „Das Alphabet der Zeit“ ein gespenstisch schönes Cover.

Im Übrigen ist Herr Roth nicht der Einzige, der Autografisches erhebend bewältigte. In Erinnerung beispielsweise Arthur Millers „Zeitkurven“, wo wir Inge Morath, einer seiner Frauen und einer unserer besten Fotografinnen, begegnen, oder Paul Theroux’ „Mein anderes Leben“ oder Fritz J. Raddatz’ Memoiren namens „Unruhestifter“. Raddatz schlägt auch einen schönen Bogen in die Gegenwart. Die „Tagebücher“ dieses feinsinnigen DDR-Erklärers und Weltkünstler-Freunds liegen nun seit Kurzem vor, als Buch und in zwei selbstgesprochenen CDs.

Auch das „Hörbuch“ gewann im Windschatten der Wiederentdeckung des Biografischen an Drehmoment und Speed. Viele grandiose Hörbücher verkürzen nun die Autobahnfahrten, machen uns klüger und glücklicher. Hier meine zwei Favoriten als Tipps, beide haben mit Thomas Bernhard zu tun. Tipp 1: „Alte Meister“, gelesen von Thomas Holtzmann. Tipp 2: Der Briefwechsel Bernhard–Unseld, gelesen von Peter Simonischek und Gert Voss.

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