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Helmut A. Gansterer Das Grauen der Grauen

Das Grauen der Grauen

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Von Peter Handke, 67, der in TV-Interviews uninspiriert wirkt, sind gleichwohl zwei mündliche Sätze überliefert, die es mit seinen hunderttausend klassen, schriftlichen Sätzen aufnehmen. Der eine hat mit Sehnsucht zu tun: „Einmal mitten im Geschlechtsverkehr aufhören und nicht mehr wissen, wie’s weitergeht.“ Der zweite ist aktuell und führt in das Thema dieser Kolumne: „Das Älterwerden habe ich mir heiterer vorgestellt.“

Was meint er mit Älterwerden? Hat es mit seinem Gehöft nahe Paris zu tun? Mit einer größeren Unsicherheit beim Erklettern der Obstbäume zwecks Kappung dürrer Äste? Mit Kreuzschmerz beim Schwammerlbrocken? Oder wiegen beim Schreiben die heutigen Bleistifte schwerer als die früheren? Vielleicht sieht er einfach die Welt mit wachsendem Wissen dunkler. Da Handke ein isoliertes Leben führt, wird es sich um subjektive Leiden handeln. Seine Klage lautet nur zufällig so wie die derzeitige Symphonie aller normalen grauen Wölfe: „Das Älterwerden habe ich mir heiterer vorgestellt.“

Zur Tiergattung des grauen Wolfs zählen in Österreich bereits die Fünfzigjährigen. Man erkennt dies an zwei Indizien. In der Sprache der Kinder ist 50 ein entschiedenes Endstadium (Bezeichnung: „Kompostis“, die 40-Jährigen gehen noch als „Gruftis“ durch, die 60-Jährigen kommen gar nimmer vor). Alle TV-Formate und Zeitschriften, die unverkennbar an so genannte Senioren gerichtet sind, führen den Begriff „50 plus“ schon im Titel oder zirka dreimal pro Ausgabe im Editorial des Moderators (TV, Radio) oder Chefredakteurs (Print).

Warum eigentlich diese arg frühe Alterszuweisung? Sie wirkt pervers und virtuell. Denn 50 plus ist in fast ­allen politischen Schlüsselpositionen die Regel. Auch in der Privatwirtschaft, wo Hofübergabe schwerfällt. Und in der Kunst, wo abgesehen von Jugendlichen wie Stefan Ruzowitzky und Erwin Wurm ausschließlich Kompostis den goldenen Lorbeer und die höchsten Verkaufspreise ernten. Für Österreich haben Wirtschaftshistoriker eine Erklärung gefunden: die Eisenbahner, die schon in fetten Jahren sofort nach Dienstantritt in Pension gingen. Als Erfinder der Schwer-Hackler-Frühpension haben sie uns milieutechnisch geprägt.

Auch halb Asien kennt die Schwelle 50 plus. Allerdings von der anderen Seite. Dort dürfen erst 50-Jährige den 60-Jährigen zur Hand gehen, die den 70-jährigen Assistenten der 90-jährigen Herrscher die Zigaretten holen. China fuhr bisher gut damit. Die diktatorischen Greise handelten dialektisch. Sie nahmen von der versunkenen Sowjet­union die Idee der Zentralgewalt, von Amerika den fiebrigen Kapitalismus. Sie haben Afrika als Rohstoffquelle entdeckt. Nach Europa fahren sie, um Musik zu studieren. So wurden sie zu einer kugelrunden Weltmacht, die mehr Sorgen macht als jede zuvor.

Seit ich im blitzschnellen Tempelhüpfen des Lebens an­mutig die Sechziger-Linie übersprang, bin ich logisch-egoistisch auch aufseiten der Alten. Aus Gründen der ­Eitelkeit mache ich sogar Marketing, den Begriff „grauer Wolf“ durch „Silberpanther“ zu ersetzen. Lieber sind mir aber die Jungen. Beispielsweise jene im Forum Alpbach, die von Christoph Leitl und mir wissen wollen, wie’s weitergeht. Ah, weise, gläubige Jugend. Sie ist erfrischender als die vielen Silberpanther, die vor der aktuellen Krise angstvoll in Frühpension flüchteten. Warum machten sie das? Sie kannten doch das Risiko: Wer vom Rolling Stone zum ruhenden Fels wird, verwittert in der Sonne des Nichtstuns innerhalb eines Jahres zu Staub. Ich nehme den Vorwurf sogleich zurück. Er hat den Quellgeschmack von Missionaren, die mir immer widerlich waren. Und es gibt auch im Erfolgsland Österreich noch Ruheständler, die tatsächlich erst am Ende der Arbeitstage ihre wirklichen Vorlieben ausleben können.

Es gibt noch einen Grund, diese Entscheidung zu entschuldigen. Die Betroffenen gehören zur „Goldenen Generation“, die man ungefähr zwischen den Jahrgängen 1945 und 1965 ansiedeln darf. Die einzige Generation, der es zugleich besser ging als den Eltern und den Kindern. Sie erlebte Goldgräberzeiten im längsten Frieden der Geschichte. Sie wurde beruflich verwöhnt und privat in größte Freiheit entlassen. Die schwierigen 1970er-Jahre (Erdölpreiskrisen) erhöhten als Kontrast nur die Köstlichkeit der Existenz. Die meisten von ihnen finden es unfair, am beruflichen Ende ­eines schönen Lebens nun mit einer ernsten Krise belästigt zu werden. Sie fühlen sich wie einer, der immer geliebt wurde und zuletzt eine Watschen kriegt. Rückblickend wäre ihnen ein bitterer Anfang und ein süßes Ende lieber gewesen.

Das erinnert mich an eine Novelle, die ich immer schon schreiben wollte, aber durch die Arbeiterausbeutung von profil & „trend“ nie schaffte. Sie handelt davon, dass der große Schöpfer einsieht, dass er uns verkehrt herum geschaffen hat. Wir sollten eigentlich als Tote auf die Welt kommen, dann als Sterbende und Fiebernde zu Gesunden und Starken und Schnellen und Schönen werden, um endlich Kind zu werden und in einem explosiven Orgasmus ­zugrunde zu gehen. Ich gebe zu: Ich bin schuld an der Krise. Hätte ich das rechtzeitig als Anleitung geschrieben, wären wir jetzt in den frühen sechziger Jahren. Man erfände gerade den Bikini und die freie Liebe, man läse Ginsberg, Burroughs und Kerouac, und die früheren Grünen chauffierten Chevy Corvettes und Cadillac Eldorados mit 35 Litern auf 60 Meilen.

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