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Helmut A. Gansterer Gut unterrichtete Greise

Gut unterrichtete Greise

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„Jeder hat ein Recht drauf, täglich gescheiter zu werden.“, Dr. Dr. Günther Nenning

Unvergesslich ein Flug von Belo Horizonte nach Brasilia. In einem Unwetter-Inferno erlebte ich den ersten Absturz. Technisch gesehen landeten wir unverletzt. Organisch gesehen wurde ein Mittdreißiger zum Greis. In den Glasflächen der Brasilia-Monumentalbauten von Oscar ­Niemeyer sah ich einen gebeugten, schiefen Mann, der den rechten Fuß nachzog und bald jedes Kurzzeitgedächtnis verlor. Ich bin seit Jahrzehnten ein alter Mann. Das im Wege der Schnellalterung gewachsene, heute monumentale Langzeitgedächtnis führte zu einem Memory-Schock, als ich jüngst auf einer profil-Seite die Überschrift „Der Tanzbaumeister: Oscar Niemeyer, 102, Architekt“ las. Das aufgefrischte Entsetzen über den Todesflug wich aber schnell der Freude.

Die Niemeyer-Geschichte erwies sich als Teil einer Porträtsammlung über aktive Hundertjährige. Dort (siehe profil Nr. 19, Seite 118 ff.) erzählen profil-AutorInnen wie Schedlmayer, Grissemann, Paterno, Mießgang und Bartl die Erfolgsstorys alter Damen und Herren. Unter dem feinen Titel „Quadratur der Greise“ lernen wir: Alter schützt vor Arbeit nicht. Und nicht vor Applaus. Auch Hundertjährige können Triumphe feiern.

Die eigentliche Good News der „Quadratur der Greise“ liegt darin, dass sie Zuversicht in ein Phänomen trägt, das Pessimisten als geschichtlich einzigartiges, unlösbares Problem sehen, und selbst Optimisten als Herausforderung betrachten: die Überalterung der Gesellschaft. Sie kommt schnell auf uns zu, da sinkende Geburtenraten und steigende Lebenserwartung in die gleiche Richtung ziehen.

Die Erkenntnis, dass auch sehr alte Herrschaften noch große Werke schaffen können, ist ein erster Lichtstrahl, der die Farben der Zukunft grundsätzlich aufhellt. Er gibt Kraft, aber noch kein Recht, aufzuhören, die große Herausforderung „Überalterung“ mit geistig höheren Mitteln als bisher zu bedenken. Hier einige Anregungen.

E Die nachkommenden Generationen, die mit „dem frechen Aug’ der Jugend“ (Arthur Schnitzler) alle Alten abschreiben, sollten im eigenen Interesse damit aufhören. Es ist zwar wirklich lustig, schon die Vierzigjährigen als Gruftis und die 50-plus-Jährigen als Kompostis zu bezeichnen, doch könnte die fortwährende Verspottung im Wege der Massensug­gestion zu einer self-fulfilling prophecy führen: Die älteren Semester könnten dadurch tatsächlich schneller welken, womit niemandem gedient ist. Eine freiwillige Selbstbeschränkung der Jugend, ein Wiedergewinn der einst gültigen „Achtung vor den Älteren“ wäre der richtige Weg. Erfahrungsgemäß sinnlos hingegen der übliche Aufschrei der Kompostis: „Ihr werdet selber älter – und zwar schneller, als ihr glaubt“! ­Jeder gesunde Junge lacht darüber. Die Erfahrung, dass das Leben die Jahresblätter immer schneller vom Kalender reißt, kann nicht vermittelt, nur erlebt werden.

• Die Programme, mit denen man heute schon Senioren aufrüsten will, sind gut gemeint, aber meist stumpfsinnig. Man kann sie nicht künstlich auf jung, schnell, spritzig und risikofreudig zurückprogrammieren. Hier ist der ohnehin kluge, auch für Junge richtige Erfolgssatz „Pfeif auf deine Schwächen, stärke deine Stärken“ besonders wichtig. Die theoretisch erheblichen Vorzüge der Älteren – praktische Erfahrung, Überblick, Augenmaß, Qualitätssinn, Geduld, Genauigkeit, Gewinn an Harmonie wie bei hohen, alten Rotweinen – sind bei Trainings in den Vordergrund zu rücken. Auch im praktischen Einsatz gilt eine Weisheit aller Kriege: Himmelfahrtskommandos, die Schnelligkeit und Hurra-Mentalität ver­langen, sind Sache der Jungen. Die Älteren sind ideal zur Befestigung des Hinterlands. Nur in der Kunst (siehe „Quadratur der Greise“) sind sie wirklich für alles perfekt.

• Die Hauptlast – und längere Lebensarbeitszeit – ist ausschließlich den Kopfarbeitern zuzumuten. Jene, die zeit­lebens manuell schufteten, sind, sofern sie es selbst nicht ­anders wollen, in Ruhe zu lassen, ja nach Möglichkeit zu verwöhnen. Ihre Last hat niemand so treffend geschildert wie Peter Handke in seinem „Versuch über die Müdigkeit“.

Das Wichtigste freilich wäre eine Hilfe zur Selbsthilfe der Silberpanther. Kluge Psychologen sollten ihnen sanft beibringen, ihre Selbstüberschätzung abzulegen. Die Alten müssen gewisse Verhaltensweisen und Stehsätze aufgeben, um von den Jungen gerne als Partner inkorporiert zu werden. Besserwisserei („Zu meiner Zeit …“) wirkt unsympathisch. Und die ständige Betonung der „höheren Erfahrung“ ist gefährlich. Erstens ist in vielen Wirtschafts- und Wissensbereichen das „Entlernen“ fast wichtiger als das Gelernte. Zweitens gibt es, wie man gar nicht grob genug sagen kann, auch viele alte Trottel, die das Wesentliche nicht begriffen. Dies nämlich, dass von langjähriger Erfahrung nur dann gesprochen werden kann, wenn aus den Erlebnissen auch Lehren gezogen wurden.

Auch für dieses Umdenken bietet die Weltliteratur Hilfe. Sogar perfekte, wie im „Tagebuch 1966–1971“ (Bibliothek Suhrkamp) von Max Frisch. Dort findet man in fantastischer Vollständigkeit beschrieben, welche Verhaltensweisen und Sätze einen Älteren zum „Gezeichneten“ machen. Mein Tipp an die Silberpanther: schnell kaufen und lesen. Dann brauchen Sie keinen Trainer und Seelentröster, um wieder jung ins Rennen zu gehen.

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