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Helmut A. Gansterer Im Osten viel Neues

Im Osten viel Neues

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„Ich hab noch einen Koffer in Berlin, deswegen geh ich nächstens wieder hin“ Dietrich/Knef/Lindenberg u. a.

Es gibt Fixbegriffe, die in Würde alterten. Sie wuchsen aus den Niederungen der Gemeinplätze in lichte Höhen. So wie die Sonne, die bei Capri im Meer versinkt, und der Tod, der ein Wiener sein muss, zählt auch der Koffer in Berlin dazu.

Vor zirka 23 Jahren hinterließ ich eine umfangreiche Koffersammlung in Berlin und versprach, nächstens wieder hinzu­gehen. Ein Koffer stand im Wirtshaus „Dicke Wirtin“ am ­Savignyplatz, mit dessen schlanker Kellnerin ich diplomatische Wien-Berlin-Beziehungen unterhalten hatte. Ein zweiter stand in Michel Würthles „Paris-Bar“ in der Kantgasse, die das Kunststück zuwege brachte, niemals out zu sein, ein dritter im Hotel Kempinski, dessen unvergesslicher Barkeeper den sympathischen Wiener Gast gebeten hatte, die Sperrstunde ver­längern zu dürfen.

Damals war klar, ich würde übermorgen wieder da sein, ein Versprechen, das ich erst gestern einlöste, nach einer Schrecksekunde von einem Vierteljahrhundert. Ein wirkliches Problem ist das nicht. Erstens bin ich keinem abgegangen. Zweitens kann ich mit meiner Unzuverlässigkeit leben, ich kenne sie lang genug. Eine gewisse Besorgnis allerdings liegt in folgender Frage: Wie konnte man Berlin so lange links liegen lassen beziehungsweise so lange „außen vor lassen“, wie man in Deutschlanddeutsch sagt?

Es liegt wohl am Mauerfall 1989. Damals schrieb jeder übers wiedervereinigte Berlin und danach über seine mehr oder weniger geglückte Aufrüstung. An dieser Inflation wollte man nicht beteiligt sein.

Lieber schrieb man in der schrulligen Art von Ö1 über die hydropneumatischen Nano-Gelenke der Grille oder Gyula Nemeths legendäre Einspielung von Beethovens Pianokonzert Nr. 5, op. 73. Dazu kam, dass ausschließlich Auftragsarbeit die Reiseziele diktiert. Es gibt zu denken, dass ­assignments an viele Orte Deutschlands führten, nur nicht nach Berlin. Man kam beispielsweise nach München, um an Deutschlands Hi-Tech-Industrie dranzubleiben, nach Stuttgart und Leipzig zum Thema Auto, nach Rüdesheim zum Thema Weinbrand, nach Frankfurt zum Thema Finanzkrise.

Gottlob erreichte mich nun eine Besuchseinladung von Ansgar Mayer, Studienleiter der Berliner Axel Springer Akademie. Bei dieser Gelegenheit beutete mich Deutschlands beweglichster Silberpanther, Ästhetik-Professor Bazon Brock, für eine Nebenrolle aus. Er probte gerade im Berliner DHM (Deutsches Historisches Museum) sein Projekt „Prophets in Residence“. Die Verfeinerung und Vollendung dieses Projekts findet freilich wiederum nicht in Berlin statt, sondern in Karlsruhe, das die höchste spezifische Dichte an Feingeistern bietet. In Professor Brocks dortigem Stammhaus, Hochschule für Gestaltung, wirkt Philosoph Peter Sloterdijk als Rektor, im Zentrum für Kunst und Medientechnologie der Medienkunstkapitän Peter Weibel, einer der beliebtesten Exportartikel Österreichs.

Zehn Tage wurden fast ausschließlich Ex-Ostberlin gewidmet, wenngleich auch „Westberlin“ eine Neuvermessung verdient. Die Stadt tritt insgesamt nun optisch selbstbewusster auf, schließlich hat man vor zwanzig Jahren der Zwergstadt Bonn die Hauptstadtwürde wieder entrissen. Um das Wesentliche meiner Reise als Fazit vorwegzunehmen: Es war ein Fehler, Berlin so lange zu ignorieren. Es erwies sich binnen Stunden als home away from home.

Das hat zunächst mit dinglichen Faktoren zu tun. Das Wetter ist grosso modo das gleiche wie daheim, auch die Besiedelungsdichte. Berlin hat auf doppelter Fläche die doppelte Einwohnerzahl Wiens (3,4 Millionen). Die etwas enger empfundene Menschennähe rührt daher, dass die Hauptstraßen und Plätze luftiger gezeichnet sind und mehr Platz brauchen, auch der Grünanteil dürfte höher als in Wien sein, schon durch den mächtigen „Tiergarten“. Ähnlich wie die Pariser sind die Berliner daher geübt, auch in teils winzigen Cafés, Bars und Wohnungen glücklich zu sein. Die Kommunikation ist demgemäß intensiver als in Wien, lebhafter, lauter, notfalls kratzt man fröhlich an der Oberfläche herum, kein Vergleich mit den introvertierten, aufs Wesentliche bedachten Konversationen in Lesehöhlen wie den Wiener Cafés „Bräunerhof“, „Prückel“ und „Eiles“.
Aus dem Wittgenstein-Land kommend, achtet man auf die Sprache. Die „Berliner Schnauze“ ist gut auszuhalten, nicht nur im Vergleich zum tödlichen Sächsisch. Ein gewisser Reiz rührt vom so genannten „Akkudativ“ her, mit dem laut Sprachforscher Bastian Sick die Berliner eine Unsicherheit im Gebrauch von Dativ und Akkusativ überspielen. Der Akkudativ von „mir“ und „mich“ lautet „ma“, beispielsweise so: „Da hab ick ma wohl jeirrt.“
Merkwürdig und unerwartet: Obgleich Berlin ein Sanierungsfall ist, mit einer angeblichen Arbeitslosigkeit von 15 Prozent, liegt kein Leichentuch über der Szene. Auch nicht in den einfachsten Essbuden und witzigen Raucherkneipen (Auflage: kein Essen), die ich in Berlin-Ost frequentierte.

Meine Luxusanfälligkeit unterdrückte ich ohne Entsagungsleid. Zwei Pflichtjausen in der legendären Delikatessenabteilung des KaDeWe (Kaufhaus des Westens) und im wiedererstandenen Hotel ­Adlon genügten. Man fährt noch zu Allerheiligen gern Rad in Berlin. Oft sieht man auch einachsige Elektroroller, die stehend per Gewichtsverlagerung gesteuert werden. Ihre Fahrer schnurren wie verhoffende Erdhörnchen durch die Stadt. Ein gewisser grenzinfantiler Übermut wird in zahllosen bedruckten T-Shirts und Schildern mit Witzparolen kenntlich. Die Happy-Smoker-Bar „Fire“ im Keller meiner Mietwohnung am Monbijoupark (von der Museumsinsel durch eine kurze Spree-Brücke getrennt) mahnt Geizige: „Tip is not a small town in China.“

Kurzum: Ich hatte hoch im Norden im herbstlichen Berlin noch ein paar südlichere Tage. Und habe endgültig einen Koffer dort. Nächstens gehe ich wieder hin, und diesmal wirklich bald, nicht erst nach dreiundzwanzig Jahren.

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