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Helmut A. Gansterer Kostbare Krise

Kostbare Krise

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„Die Chinesen haben ein und dasselbe Schriftzeichen für die Krise und für die Chance“
Richard v. Weizsäcker

In den Herbsttagen 2007 brach die US-Subprime-Krise auf. Sie wirkte damals so weit entfernt und ungefährlich wie im Vorfrühling 2009 die Schweinegrippe in Mexiko. Erst ab 2008 begriff man die Wucht der Infizierung. Sofern man über Selbstkritik verfügte, musste man zugeben, vieles unterschätzt oder gar nicht erst gewusst zu haben. Beispielsweise den Charakter der US-Hauskauf-Kreditierung. Oder wie tief die faulen US-Papiere schon in europäische Portefeuilles eingelagert waren, als schlafende Krebszellen. Oder wie schnell sich Kapitalmärkte, die vom flüssigen in den teigigen Aggregatzustand wechseln, auf die realen Produktionen und Verkäufe von Industrien auswirken.

Mit Verlegenheit dachte ich 2008 an eine Begegnung im IBM-Headquarter in Armonk, New York. Sie hätte mich schon vor 25 Jahren klüger machen können. Oder wenigstens sensibler. Leider nahm ich Benoît Mandelbrot, den genialen Entdecker der „fraktalen Geometrie“, in vielem nicht ernst. Benoît, damals für den Nobelpreis im Gespräch, war trotz seiner Warmherzigkeit ein Menschenskeptiker. Übertreibung und blinde Zuspitzung seien uns immer noch näher als Augenmaß für das Mittlere, sagte er. Und immer noch wüssten wir nicht, dass alles mit allem zusammenhänge: „Der Flügelschlag eines Schmetterlings in Kasachstan kann ein Erdbeben in San Francisco auslösen.“ Damals durfte man ­darüber lauter lachen als heute.

Gottlob war auch Mandelbrot nicht fehlerfrei. Als hoch dotierter IBM-Fellow überschätzte er Großkonzerne. Ich möge, sagte er, den Kleinunternehmern in Österreich die Angst vor den Multis nehmen. Seine Allegorie: Die Vermessung der Küstenlinien großer Ströme wie des Amazonas habe ergeben, dass die ruhigen Buchten, in denen sich die kleinen Fische lustvoll vermehren können, überproportional zur Breite des Stroms wüchsen. Je größer also ein Konzern, desto besser für die kleinen Unternehmen ringsum. Mandelbrots Denkfehler: Dieses Bild gilt nur bei gutem Wasserstand. Diesen setzte er bei Giganten voraus. Undenkbar damals, dass General Motors jemals auf Grund liefe. So waren selbst Geistesgrößen wie Benoît Mandelbrot keine ideale Vorbereitung für die noch ferne Krise am Beginn des dritten Jahrtausends.

Seit einem Jahr wird nun der schlechte, krisenschuldige Mensch der Gegenwart vermessen, insbesondere in Gestalt des Bankers, Auslandsinvestors und Politikers. Tiefenbohrungen beschäftigen sich mit den aktuellen Qualitäten alter Eigenschaften wie Dummheit, Blindheit, sozialer Inkompetenz, emotionaler Unintelligenz, Habsucht, Gier und Gesetzesverachtung.

Das ist kein Fehler. Es schärft die Sinne für Verbesserungen, die es auch geben wird. Der Reformwille hat die breiteste Basis der Nachkriegszeit. Ob die Reformkreativität (und darin wieder der Faktor Augenmaß) mithalten kann, ist vorerst ungewiss. Für grenzüberschreitende Finanzregeln müsste sich die EU als Segen erweisen. Und in den meisten Mitgliedstaaten wird eine neue Wachheit für betriebswirtschaftliches, volkswirtschaftliches und ethisches Tuning spürbar.

Was den positiven Effekt der kritischen Aufarbeitung gefährden könnte, ist schiere Langeweile. Erstens sind die sprachlichen Varianten der Krisenberichterstattung begrenzt. Zweitens ist ihre horizontale Ausweitung inflationär. Kein Lippenstift-Test ohne Krisen-Hinweis, kein Bericht über den FC Chelsea ohne den Klageruf, auch Finanzier Abramowitsch sei nun praktisch ein armer Hund, mit den paar Milliarden Euro, die ihm gerade noch blieben.

Gottlob steuern etliche Journalisten in Print, Online, Radio und TV nun allmählich dagegen. Sie beschäftigen sich auch mit der Frage, ob die Krise nicht auch ihr Gutes habe. Das ist äußerst vernünftig, wenngleich vorerst eher gleichförmig als originell. Fast immer wird es ein Beitrag zur Bildung. Beispielsweise als ethymologische Quellsuche im altgriechischen krisis, im neugriechischen krisi, im lateinischen crisis und im Hinweis, dass kriseln nicht hochdeutsch ist. Fein auch die Erinnerung, dass dort, wo Krise ist, oft auch katharsis = Reinigung nicht weit sei.

Man lobt die Hebung versunken geglaubter Kräfte, wenn es um die Existenz geht, und eine Abschichtung jener Dekadenz, die in 60 Jahren Wohlstand zu einer Fettseele führte. Selbst eine Bereitschaft zur Entsagung wird konstatiert. Dies sollte freilich nicht mit der Nachricht kombiniert werden, Hermann Nitsch wünsche sich für die nächsten Jahrzehnte, mit Freunden in einfachen Weinviertler Heurigen bechern zu können und keine kitschigen Fernreisen machen zu müssen. Erstens liebte er das schon immer. Zweitens wäre ein Abbau der Reisefreude keine Überwindung der Krise, sondern ihr entsetzliches Kind.

Wirklich klass wäre eine dichtere Berichterstattung über Projekte, die in Zeiten der Krise den Geist umarmen. Beispielsweise den neuen Literatur-Salon, den Volkstheater, Radio Wien und die Buchhandelskette Thalia als Matinee für Michael Schottenbergs „Rote Bar im Volkstheater“ erfanden. Oder über einen Event, der zeigt, dass es in Österreich auch heute noch Geist und Geld gibt. Das Philosophicum Lech lobt ab heuer den „Tractatus“ aus. Ausgezeichnet wird ein Buch, das frisches Denken und frischen Schreibstil vereint. Mit der Sieger-Dotierung von 25.000 Euro steht der „Tractatus“ wie ein Leuchtturm in den Sümpfen der Geiz-Preise. Er überstrahlt die Schatten der Krise.

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