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Helmut A. Gansterer Unordnung

Unordnung

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„Ordnung braucht nur der Dumme.
Das Genie beherrscht das Chaos“
Albert Einstein

Dieser Tage, im Anschluss an eine Lesung in Tulln, kam es zum Gespräch mit einem Mann, dessen auffällige Unauffälligkeit mich anzog. An seiner Männlichkeit konnte es nicht liegen. Ich bin ein staatlich geprüfter Heterosexueller. Es war eher so, dass ich spontan dachte, ich hätte in Österreich nie zuvor eine leibhaftige Graham-Greene-Romanfigur gesehen.
Ich sah hunderte davon in einem Dreieck in London, das sich zwischen dem Hotel Savoy und dem Rindfleischparadies „Simpson’s“ (Londons „Plachutta“) und dem kleinen St.-Martins-Theater aufspannt, das berühmt dafür ist, Agatha Christies „The Mousetrap“ seit 1952 zu spielen. Dort schaut jeder aus, als habe er Greene als Vorbild gedient, erstklassig, aber gedeckt gekleidet, ein moralisch hochwertiger Spion oder ein zur Sünde angelegter Geistlicher. In Wien sehe ich so etwas selten, in Tulln war ich verblüfft. Ich wurde auch nicht enttäuscht. Der Mann erwies sich im Gespräch als geschmackssicher und offen und bis zuletzt rätselhaft wie Greenes „Mann mit den vielen Namen“.

Der gute Geschmack war erkennbar, weil er Nettes über profil sagte. Er lese es jetzt wieder. Früher sei es ihm zu links gewesen. Krass liberal sei es zwar immer noch, aber mit Bodenhaftung. Die Offenheit zeigte sich im Nachsatz: „Ich lese es trotz Ihrer Kolumne, Ihr sonniges Gemüt nervt mich. Am meisten aber, dass nicht einmal Sie die heimlichen Helden dieser Krise vor den Vorhang holen. Das wäre Good News.“

Er meinte damit (a) die Arbeitslosen, insbesondere die einst hochrangigen Arbeitslosen. Aus der Erinnerung zitiert: „Wissen Sie eigentlich, was sich in einem abspielt, der gestern aufrichtig oder geheuchelt bewundert wurde und heute erkennen muss, dass ihn keiner mehr will und braucht?“ Er meinte damit (b) all jene Psycho-Profis im Hintergrund, die namenlos bei AMS, Caritas und kommunalen Hilfs-Fließbändern oft hoffnungslos versuchen, das Selbstwertgefühl der Betroffenen wieder herzustellen. Die Reparaturabteilung sei unterbezahlt, unbedankt, in kleine, ungelüftete Zimmer verwiesen, durch deren Fenster die fröhliche Außenwelt dringe, derweil drinnen die Hölle sei, buchstäblich Menschen ­zwischen Leben und Tod.

Ich erzähle dies, weil ich es für eine gute Geschichte hielte. Ich reiche das Thema an die Chefredakteure weiter, oder gleich an Angelika „Polly“ Hager, die als Gesellschafts-­Analytikerin den Spagat von Witz, Wahnsinn und Wehmut am besten beherrscht1). Dieses merkwürdige Gespräch im Minoriten-Kloster von Tulln, das keine zehn Minuten dauerte, fand ein Happy End. Man tauschte Geschenke. Mein Geschenk an GG (Greenes Ghost) war ein Satz von Erwin Ringel, der treuen Lesern dieser Kolumne bekannt ist und von GG entzückt notiert wurde: „Interessant ist nicht, warum sich so viele Menschen umbringen, sondern, warum so viele nicht.“
Sein Geschenk an mich: „Die Menschen sollten begreifen, dass die jetzige Unordnung in ihrem Leben, und sei es nur eine neue Qualität von Sorge, eine Chance für ein lebhafteres Leben ist.“ Er war dann weg, ungreifbar wie ein „Gedanke ohne Spur und Geschwister“ (Joseph Roth) und unauffällig wie ein Spion von Greenes Gnaden. Selbst Peter Eisenschenk, Vize-Bürgermeister von Tulln, fing mit seiner Beschreibung nichts an. Falls ein Wiedersehen gewünscht wird: [email protected].

Unordnung. Ein schmutziges Wort im Volk und in der Schweiz, von vielen Philosophen aber geschätzt. Und von vielen Wissenschaftern vergöttert, die sich längst gezwungen sehen, für weitere Erkenntnisse die so genannten Ordnungen zu verlassen. Sie fischen heute lustvoll im Chaos und in den Universen der Wahrscheinlichkeit.

Für Kluge und Flexible ist Unordnung angesagt. Wir dürfen darin eine neue Schönheit unserer Zeit sehen. Ordnung war gestern. Sie bleibt dort bestehen, wo sie sinnvoll ist, tritt aber als Ideal ab. Man ist merkwürdig erheitert, wenn militärische Formationen ordentlich auftreten (was sinnvoll ist, Katastrophenhilfe geht nur so) und ist erstmals unangenehm berührt, wenn man in Rilkes Elegien liest: „Wer, wenn ich schrie, hörte mich in der Engel Ordnungen.“

Unbemerkt gibt es einen Ruck in höhere Unordnungen. Glücklich, wer sie gern mit Ordnungen kombiniert. Mein Jugendfreund Erwin Ungerböck, Boss der witzig-namhaften Wirtschaftsberatungskanzlei „Mariahilf“, liebt zugleich die strengen Ordnungen seiner Profession, denen er Schönheit und Klarheit nachsagt, und zugleich die freien Wiesen, wo seine Fantasie freien Auslauf genießt. Moderne Unternehmer wünschen heute Mitarbeiter, die nur zur Hälfte angepasst sind, zur anderen Hälfte tapfer ihre „unordentliche“ Kreativität einbringen.

Das Unordentliche verliert seinen Misskredit. Es ist das Fruchtbare schlechthin, sofern es sich nicht verliert in den Ausreden für Faule und für jene, die keine Limits mehr akzeptieren. Ein schönes Beispiel fand ich in einem Sonntagsinterview von Frido Hütter („Kleine Zeitung“) mit dem Kunstsammler Karlheinz Essl (Baumax): „Wenn jemand Mord zum Kunstwerk erklärt, ist für mich die Grenze erreicht.“

Vermeintlich grausam Albert Einstein: „Ordnung braucht nur der Dumme, das Genie beherrscht das Chaos.“ In seinem Fall akzeptabel. Er ist als herzlich ausgewiesen. Ihm gelang auch der Satz: „Woher kommt es, dass mich niemand versteht und jeder mag?“

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