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Helmut A. Gansterer Wiener Glut

Wiener Glut

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„Wien bleibt Wien – das ist das Schrecklichste, was man über diese
Stadt sagen kann“
Alfred Polgar

Dieser Tage erreichte mich die Nachricht, Bürgermeister Michael Häupl habe acht Kilo abgenommen. Weitere acht Kilo drohe er an. Das verstörte mich aus etlichen Gründen. Fangen wir mit der Wiener Schlankheitsepidemie an, die wie der Minirock alle zehn Jahre aufersteht. Die jüngste wurde durch meinen herzensguten Freund Bernhard Ludwig ausgelöst. Der geniale Seminarkabarettist, der uns die „Anleitung zur ­sexuellen Unzufriedenheit“ schenkte, erklärt in seinem neuen Programm den gültigen Weg zum ewigen Gewichtsverlust.

Bei Bürgermeister Häupl, der Ludwig schätzt, dachte ich gleichwohl an andere Beweggründe für die radikale Verschlankung. Beispielsweise eine kommende Wahl oder einen runden Geburtstag, beides verbunden mit Kameras, die bekanntlich ­alles molliger darstellen, als es ist. Und siehe, so ist es. Das beruhigt mich. Nachher, wenn alles vorbei ist, wird Michael Häupl wieder begreifen, dass Sport gleich Selbstmord ist und dass wir ­unsere braven Winzer nicht im Stich lassen dürfen. Man wird uns an den Hotelbars und im MAK, wo wir zuletzt diskutierten, wieder als stattliche Gentlemen begrüßen, die man gerne bedient, weil sie wissen, was gut ist.

Von egoistischen Gründen abgesehen, wäre Wien auf Dauer ein abmagernder governing mayor nicht zuzumuten. Diäten absorbieren den Geist, ehe sie diesen erfrischen. Ich möchte mein Gefühl, ein roter Bürgermeister sei das Beste für Wien, nicht durch Michael Häupl verlieren. Dieses Gefühl ist archaisch verankert, ein Instinkt aus den Tiefen des Kenianischen Grabens, aus dem wir uns einst als Homo erectus erhoben. So wie ich umgekehrt fühle, dass die meist schwarzen Häuptlinge den Ländern guttun. Die Hauptstadt ist sozial virulent und geistig zugespitzt. Das passt zur SPÖ. Die Bundesländer sind naturnah auf harmonische Breite ausgerichtet. Das passt zur ÖVP. Österreich hat im Wege des Versuchs und Irrtums (in unsere Sprache übersetzt: trial & error) die richtige Balance gefunden.

Gegen die Illusion von Fortschrittstheoretikern, Künstlern und Journalisten liegt die Sehnsucht des Volkes nach individueller Freiheit noch immer weit unter der Sehnsucht nach Ordnung und Geborgenheit. Weshalb hier wie da, in der Stadt und auf dem Land, möglichst resche Autoritäten an der Spitze ­gefragt sind. Kreisky wurde 13 Jahre lang wegen seiner hoffärtigen ­Sicherheit gewählt. Als der Löwe anfing, das Volk zu ­befragen, wurde er als unsicherer König vom Rudel abgewählt. Dementsprechend ist ein roter Michael Häupl in Wien so ­sicher wie ein schwarzer Erwin Pröll in NÖ. Ihr Selbstbewusstsein ist intakt. Der eine regiert, solange er nicht mehr als 15 Kilo abnimmt und merkwürdige Fragen aufwirft. Der andere regiert, solange er nicht Radlbrunn zum Santiago de Compostela erhebt.

Manchmal muss ich als Niederösterreicher nach Vorträgen in den Bundesländern begründen, warum ich Wien liebe, zuletzt in Alpbach (Tirol, Hochschulwochen) und in Bregenz (Vorarlberg, Junge Wirtschaft). Das zählt zu den leichten Aufgaben. Ich erzähle gern, wie liebevoll ich von Wien als „Gscherter“ (vulgo Provinzler) aufgenommen wurde. Wie man mir half, die ländlichen Minderwertigkeitskomplexe abzulegen, bis ich mir selber helfen konnte. „Und wie ist es, wenn ein unsicherer Wiener, den wir nicht kennen, in unser Dorf kommt?“, frage ich dann gern. Weiter zu fragen, wäre unhöflich. Alle schweigen. Man spürt den Ruck und die Scham.

Die zweite Begründung meiner Wien-Liebe ist mit den Weltreisen darstellbar. Welche Stadt auf den fünf Kontinenten wollte man wirklich eintauschen gegen Wien? Bis auf zwei Städte wäre mir keine Stadt über Wien gegangen. Das einst stille ­Peking schied aus, als China lautstark erwachte. Und jenes New ­Orleans, das ich inniger liebte als Wien, ging vor vier Jahren im Hurrikan Katrina zugrunde. 80 Prozent der Stadt standen bis zu acht Meter unter Wasser. Die Behörden versagten ausnahmslos. ­Unvergesslich das Bild einer US-Illustrierten: Alles war vom Wirbelwind niedergewalzt, nur ein Haus stand unverletzt. Lakonische Bildunterschrift: „Muss ein europäischer Immigrant gebaut haben.“ Dieses Haus blieb in meiner Fantasie mein Haus und mein Abschied vom Traum von der Bourbon Street, der Preservation Hall im French Quarter, der Jackson Brewery und dem Mississippi. Wäre ich klüger, als ich bin, hätte ich aus diesem Bild die Immobilienkrise lesen können, die uns ab Herbst 2007 verseuchte.

Heute lebe ich an einer Nahtstelle von Wien und NÖ, einer Art vorgelagerter Wachau, aus New-Orleans-Gedenken über jeder Hochwassergefährdung der Donau. Ich bin in meiner Urheimat NÖ geborgen, aber in 30 Minuten mit Öffis am Wiener Stephansplatz, in 20 Minuten per Pkw, in zehn Minuten per Kawasaki. Logisch fürchte ich den Neid der Götter. Nieder­lagen aller Art sind als Gutpunkte willkommen. Ich will Wien aber nicht verherrlichen. Ich nütze jede Hilfe, meine Lieblingsstadt zu objektivieren. Der „Falter“ ist mein bestes Lineal. Er ist als Stadtzeitung übergroß, so wie Wien pro Kopf des Landes übergroß ist. Ein Wiener, der den „Falter“ nicht abonniert, ist ein Selbstverstümmeler.
Kritik an Wien erhoffe ich mir auch von Peter Michael Lingens’ „Ansichten eines Außenseiters“, erschienen bei Kremayr & Scheriau, 24,90 Euro. Ich nehme das Buch mit auf die Alm. Ich empfehle es blindlings. Lingens hat in Wien so viel unverdientes Unglück erlebt, wie unsereins darin Glück erlebte. Dass er aus Spanien zurückkam, schmückt die Stadt. In ein paar Tagen treffe ich Gerhard Roth wieder, irgendwo in der Südsteiermark. Sein Buch „Die Stadt“ („Entdeckungen im Inneren von Wien“, Fischer Verlag, 20,95 Euro) ist ein logischer Bestseller. Er greift an Wiens finstere Wurzeln. Wir versprachen einander, zu streiten, so gut wir das halt können.

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