„Das Dunkel in dir“

Interview. Michael Köhlmeier über Hermann Hesse als Guru

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Interview: Wolfgang Paterno

profil: In seiner voluminösen neuen Hesse-Biografie macht der deutsche Publizist Gunnar Decker eine „Früher habe ich Hesse gelesen, aber jetzt doch nicht mehr“-Fraktion aus. Zählen Sie sich auch zu dieser?
Köhlmeier: Keinesfalls. Ich las Hesse bereits als Jugendlicher ungern, weil sein Schreiben von Ideologie bestimmt ist. Er verfolgt ein Anliegen, das über den Bereich der Literatur weit hinausgeht. In den schlimmsten Ausprägungen, wie im „Traktat“ im „Steppenwolf“, beschleicht einen fast schon das Gefühl, Hesse verwende die Literatur einzig als Mittel für seinen ideologisch-moralischen Auftrag.

profil: Durchzieht diese Art des Schreibens das gesamte Werk des Autors?
Köhlmeier: Nein, siehe die kleine Erzählung „Die Marmorsäge“: Ich kenne keine bessere Beschreibung eines heißen Feriensommers. Das ist große Literatur. Da ist ausnahmsweise keine Berechnung dahinter. In anderen Erzählungen wie „Knulp“ hat Hesse ebenfalls nicht alle Motoren am Laufen, dennoch ist er darin zu voller Form aufgelaufen.

profil: Das Missionarische findet sich bei Hesse allenthalben.
Köhlmeier: Goethe meinte: „So fühlt man Absicht, und man ist verstimmt.“ Das Absichtsvolle des Autors vergällte mir bereits als Jugendlicher die Lektüre, etwa beim Lesen von „Siddhartha“, so gesehen ein grauenvolles Buch. Ich spürte: Der Autor will mir etwas unterjubeln, eine Weltanschauung verklickern. Hesse würdigte das edle Instrument Literatur zu einem bloßen Mittel herab – das hat ihn mir vollends verdorben. Das ist aber zugleich der Grund, weshalb ihn so viele lasen und nach wie vor lesen: ein Publikum, das mit Literatur nicht viel anzufangen weiß, dem die Literatur als solche nicht genügt, das es nach Weltanschauung verlangt. Eine Art Kleiner-Prinz-Effekt, den ich schon früh durchschaut habe.

profil: Wie erklären Sie sich die ungebrochene Strahlkraft dieses Schriftstellers?
Köhlmeier: Viele Leser werden von Hesse zu außerliterarischen Sachverhalten verführt. Von diesen Gedanken distanzieren sie sich später – für Literatur jedoch haben sich viele davon, damals wie heute, nicht interessiert. Deshalb werfen sie den ganzen Hesse, Literarisches und Außerliterarisches, als Erwachsene über Bord. Könnte man dies Außerliterarische – Botschaften, Hinweise, Weltanschauungen – beiseite lassen, bliebe die Literatur übrig; und die ist zum Teil großartig, nicht so sehr in den Romanen des Autors, eher in den kurzen Texten Hesses. Ich selbst musste mich nie von ihm distanzieren, weil ich nie seiner Sendung verfallen war. Durch meine Liebe zur Literatur war ich wohl davor gefeit, mich von all dem literaturfernen Ballast, der sich in den Schriften Hesses versteckt, beeindrucken zu ­lassen.

profil: Für Generationen avancierte Hesse sogar zu einer Art Guru.
Köhlmeier: Hesse ist ein Verführer, aber auch ein Führer. Ist man jung, strebt man leicht jenem zu, der einem, wie im „Demian“, sagt: Es gibt nicht nur den Gott des Hellen, es gibt auch jenen des Dunkel. Steh zu dem Dunkel in dir!

profil: Ist Hesse der bessere Dichter als der ihm wesensverwandte Paulo Coelho?
Köhlmeier: Ganz sicher. Der Coelho- und der Hesse-Effekt gleichen sich jedoch: Beide werden von Leuten gelesen, die sonst nicht viel lesen, viele bemerken nach der Lektüre erstaunt: Die haben bei mir ein Fenster geöffnet. Ja, will man denn das von Literatur? Ich will das nicht. Ich erwarte von Literatur anderes.

profil: Nämlich was?
Köhlmeier: Keinesfalls, dass sie aus mir einen anderen, besseren, schlechteren Menschen macht. Literatur soll mir die Welt zeigen, nicht erklären. Viele Erklärungen müssen den großen Rest ausblenden. Bevor mir jemand etwas erklärt hat, hat er schon Wesentliches von Unwesentlichem getrennt, wobei sein Wesentliches nicht unbedingt meines sein muss. Dichtung soll dazu zwingen, die Welt mit ersten oder letzten Augen zu sehen. Dazu benötige ich keine Erklärer, keine Erklärungen, sondern Autoren, die mir die Welt zeigen: Ich bin neugierig auf das Was-ist – und nicht auf das Warum und Wie. Hesse und Coelho sind insofern die allergrößten Erklärer.

profil: Bei keinem anderen Dichter der Neuzeit findet sich wohl so oft das Wort „Seele“ wie bei Hesse. Ist das 21. Jahrhundert daran überhaupt noch interessiert?
Köhlmeier: In einer als äußerst kompliziert empfundenen Welt lässt sich immer noch über eines mit Sicherheit reden, nämlich über die Seele: Jeder hat eine, niemand weiß, wie sie beschaffen ist – also kann jeder seinen Senf dazugeben. Je charismatischer und metaphernreicher, letztlich je unkonkreter und „poetischer“ darüber gesprochen wird, umso mehr führt und verführt das Schreiben über Seele. Nüchterne, sachliche Autoren wie der US-Erzähler Raymond Carver schreiben nie über Seele. Man muss ohnehin nicht immer hinter die Dinge schauen, sondern auf die Oberfläche. Die Oberfläche ist in der deutschen Literatur in den vergangenen Jahrzehnten schon fast schmerzhaft in Misskredit geraten.

profil: Vielen Autoren seiner Zeit hatte Hesse dennoch einiges voraus.
Köhlmeier: Sieht man Hesse zeitbedingt, schreibt er aufregend gut. Der Beginn von „Demian“ – wir würden uns zwar heute genieren, so etwas zu schreiben, für die damalige Zeit war das jedoch der nahezu avantgardistisch-mustergültige Auftakt einer Erzählung. Hesse griff stets ins Volle, ohne den Schutz der Ironie. Viele Autoren verwenden Ironie nur deshalb, weil sie sich nicht trauen, das zu sagen, was sie eigentlich sagen möchten. Das ist das Allerschlimmste. Hesse versteckte sich nie hinter Ironie und Spott, er baute auch nie den Erzählkniff ein, der da lautet: Ja, hast du denn die Ironie nicht bemerkt, mit der ich das und jenes geschrieben habe?

profil: Viel Ironie dürfte sich im Werk Hesses ohnehin nicht finden.
Köhlmeier: Er hat kein einziges ironisches Wort geschrieben, nicht eines. Und das ist fast schon wieder mutig.

Michael Köhl­meier, 62, zählt zu Österreichs arriviertesten Schriftstellern. Zuletzt veröffentlichte der TV-Moderator und Hörspielautor den Roman „Madalyn“ (Hanser). Im September ­erscheint Köhlmeiers erster Gedichtband.