„Herunterspringen ist keine Kunst“

„Herunterspringen ist keine Kunst“: Toni Innauer im Interview

Toni Innauer, Nordischer Direktor des ÖSV, im Interview

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profil: Können Sie sich noch an Ihren letzten Sprung von der Flugschanze am Kulm erinnern?
Innauer: Ich bin am Kulm nur einmal geflogen, 1978 war das. Da erinnere ich mich an einen sehr weiten Sprung, 163 Meter, bei dem ich stürzte. Den Sprung wollte ich gar nicht stehen, weil ich mich oben schon geärgert hatte, dass der Anlauf zu lang ist.

profil: Sie sind mit voller Absicht gestürzt? Aus Trotz?
Innauer: Ja, das war ganz komisch. Das einzige Mal in meiner Karriere und eine emotionale Geschichte. Ich habe oben zum Starter gesagt: „Hey, warum verkürzt ihr nicht?“ Unten hab ich es dann bitter bereut, weil es ziemlich eisig war.

profil: Wie fühlt es sich an, auf einer Skiflugschanze ganz oben zu stehen?
Innauer: Man hat schon ein bisschen Angst davor. Früher war noch dazu die Spur sehr schlecht, da hat man auf dem Schanzentisch leicht die Balance verloren. Es war ein ziemliches Abenteuer, bei dem man nur zu 80 Prozent wusste, dass es gut ausgeht. Ich gebe Ihnen ein Beispiel, damit Sie sehen, was da oben in einem Sportler vorgeht: Per Bergerud (ehemaliger norwegischer Skispringer, Anm.) hat einmal vor lauter Nervosität vergessen, beide Bindungen zuzumachen. Ich hatte die Startnummer hinter ihm und hab zu ihm gesagt: „Du, Per, so wirst du nicht springen können.“ Er hat dann am ganzen Körper gezittert.

profil: Die Vierschanzentournee war aus österreichischer Sicht ein großer Erfolg. Auffällig ist aber, dass mit Andreas Kofler schon wieder ein Außenseiter gewonnen hat. Ist der Druck für den Favoriten zu groß?
Innauer: Der Favorit steht schon durch das Reglement stark unter Druck. Weil jeder Sprung zählt, genügt es, wenn man einen verhaut, und alles ist vorbei. Mir ist es auch so gegangen. Ich bin zweimal nur Vierter geworden.

profil: Sie können sich also vorstellen, wie es Gregor Schlierenzauer jetzt geht.
Innauer: Im Moment war er sicher sehr enttäuscht. Umso großartiger, dass er es dann doch geschafft hat, seine Rolle so gut zu verkörpern und den Kofi auf die Schulter zu nehmen. Das konnte ich in dem Alter noch nicht.

profil: Also war das seine Rolle und nicht ehrliche Freude?
Innauer: Er musste sich bestimmt ein wenig überwinden. Es gehört zu den Stärken eines Profisportlers, dass er Emotionen herstellen und modellieren kann. Das hilft ihm auch bei der Bewältigung, so komisch das klingt. Es fällt ihm so leichter, als wenn er wie der Innauer in dem Alter nur im Kammerl hockt und über Gott und die Welt schimpft.

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Hätten es die Zuseher nicht lieber, wenn es etwas härter zur Sache ginge?
Innauer: Den Leuten gefällt beides. Je nachdem, was man tut, kann man unterschiedliche Segmente im Publikum bespielen.

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Der Finne Janne Ahonen ist nach einem Jahr Pause wieder zurückgekommen und sagte kürzlich, Skispringen sei wie Radfahren, man verlerne es nicht. Stimmt das?
Innauer: Na ja, einfach Herunterspringen ist für einen gelernten Skispringer keine Kunst. Die Kunst ist, das auf dem Niveau zu können, auf dem es Ahonen jetzt wieder macht. Das beherrschen nur wenige. Aber selbst das verlernt man nicht. Letztlich ist es eine Frage des Mutes.

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Dass Andreas Goldberger für den ORF immer noch springt, überrascht Sie also nicht?
Innauer: Das kann man, wenn man topfit und diszipliniert ist. Der Andi ist ein gutes Beispiel: Wir hätten ihn am Kulm gern für einen kleinen Gesangsauftritt im Showprogramm gehabt. Aber er hat das abgelehnt, weil er am nächsten Tag springen musste.

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Janne Ahonen ist nicht der Einzige, der heuer ein Comeback feiert. Der nordische Kombinierer Felix Gottwald ist nach zwei Jahren Pause zurückgekehrt, der Formel-1-Fahrer Michael Schumacher nach drei Jahren. Unterschätzen Spitzensportler, in welches Loch sie nach ihrer Karriere fallen?
Innauer: Mit Sicherheit. Die meisten können nicht antizipieren, was auf sie zukommt. Junge Leute lieben diesen Erregungszustand, der weit über jeder Normalität ist. Dazu das Publikum, der Lärmpegel, das Risiko. So etwas kann süchtig machen. Im normalen Leben gibt es solche Herausforderungen kaum. Dazu kommt noch eine zweite Ebene: Als Spitzensportler beschäftigt man sich fast nur mit sich selbst. Danach muss man erst wieder lernen, auf einem normalen Niveau zu kommunizieren und andere Menschen nicht nur als Support für die eigene Leistung zu sehen.

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Das klingt autistisch.
Innauer: Es ist zumindest knapp dran.

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Andreas Kofler hat nach seinem Sieg in Oberstdorf davon gesprochen, dass er den „Flow-Zustand“ wieder gefunden habe, und den Schriftsteller Paulo Coelho zitiert. Sind die Skispringer die Esoteriker des Spitzensports?
Innauer: Das ist nicht ganz falsch. Früher war es noch ausgeprägter. Baldur Preiml war ein toller, moderner Trainer. Aber für die Interpretation der Erfolge hat er sehr oft esoterische Theorien herangezogen. Wir haben dann angefangen, die Dinge etwas rationaler anzuschauen. Aber überall, wo es um Leistungserbringung unter Druck geht, neigt der Mensch dazu, sich an irgendetwas festzuhalten. Es ist psychologisch auch sinnvoll, sich Rituale zu schaffen.

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Wie viel Anteil hat die Psyche am Skispringen?
Innauer: Enorm viel. Es gibt kaum eine Sportart, in der der mentale Bereich so wichtig ist. Deshalb gibt es auch wenige Sportarten mit so starken Leistungsschwankungen. Viel hängt einfach mit dem Selbstvertrauen zusammen, mit der Überzeugung: „Mich trägt die Luft.“ Das führt zu einer Sicherheit im Handeln, die wiederum zu tollen, spontanen Bewegungen führt. Und das ist der Unterschied zwischen dem Kofler von vorigem Jahr und dem von heuer. Der Laie sieht da fast keinen Unterschied, sogar ich muss mich anstrengen. Das sind ganz feine, winzige Details in der Abstimmung.

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Gibt es einen Psychotrick? Hilft es zum Beispiel, im Anlauf an einen besonders guten Sprung von vor zwei Wochen zu denken?
Innauer: Der Athlet sollte sich vorstellen, wie sich der Sprung in seinem ganzen Körper, in der Muskulatur anfühlen wird. Und dass der Absprung ganz selbstverständlich in einen stabilen ruhigen Flug übergehen wird. Er sollte intensiv und mit großer Lust vorher schon spüren, wie es nachher sein wird. Das führt dazu, dass die Bewegung dann wirklich so kommt. Die Jung-Psychologie nennt das Prozessorientierung.

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Kann man so etwas trainieren?
Innauer: Das muss man sogar. Aber der Sportler muss es auch selber wollen. Ich hab vor den Olympischen Spielen 1976 nur an den Erfolg gedacht, wie alle jubeln werden, was in der Zeitung stehen wird. Und dann war ich nicht imstande, das zu tun, was notwendig ist, damit ein guter Sprung herauskommt.

profil: Vor einigen Jahren gab es eine breite Diskussion über magersüchtige Skispringer. Dann wurde eine Art Mindestgewicht eingeführt. Der empfohlene Body-Mass-Index bedeutet aber immer noch, dass ein 1,80 Meter großer Skispringer wenig mehr als 60 Kilo wiegt – das ist die Magermodel-Liga. Müsste der BMI nicht höher sein?
Innauer: Wir haben diesen Antrag eingebracht, und kommendes Jahr wird er vermutlich durchgehen. Mir wäre es recht, wenn die Springer zwei, drei Kilo schwerer sein könnten. Aber der Vergleich mit den Magermodels passt nicht. Die Burschen sind austrainierte Athleten mit hervorragenden Leistungswerten. Natürlich ist das Gewicht ein Problem. Aber es gibt einige Sportarten, die diesbezüglich gefährlich sind. Und die Springer sind die Einzigen, die einen Mindest-BMI eingeführt haben.

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Ihr Sohn Mario ist ebenfalls Skispringer. Wie sehr nervt es ihn, dass er immer als Sohn von Toni Innauer wahrgenommen wird?
Innauer: Es nervt ihn so, dass er wahrscheinlich nicht einmal will, dass ich das kommentiere. Ich glaube, er hat jetzt langsam einen Weg gefunden, damit umzugehen. Aber es ist eine unglaublich große Belastung.

profil:
Mischen Sie sich ein, wenn Sie das Gefühl haben, er braucht Hilfe?
Innauer: Überhaupt nicht mehr. Als er richtig im Tief war, hab ich schon manchmal versucht, ihm einen Rat zu geben. Da kann man ja nicht zuschauen. Aber er kann es von mir nicht annehmen, und das tut schon weh.

profil:
Als Vater sollten Sie das wahrscheinlich nicht persönlich nehmen.
Innauer: Sollte ich nicht, stimmt.

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Sie waren bis 1999 im ÖSV zuständig für den gesamten nordischen Bereich und haben dann selbst eine Aufteilung initiiert. Skispringen und nordische Kombination blieben bei Ihnen, Langlauf und Biathlon bekamen einen eigenen Chef. Begründet haben Sie das einmal damit, dass Sie sicher sein wollten, in einem dopingfreien Bereich zu arbeiten. Hatten Sie böse Vorahnungen?
Innauer: Hauptsächlich war es so, dass ich alles andere als ein Verwalter bin. Das zermürbt mich. Ich hatte bis 1999 vier Sparten und war nur noch mit Budgets und Personalpolitik beschäftigt. Aber ich wollte mich auf das Springen konzentrieren. Vielleicht war es darüber hinaus auch Intuition.

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Hatten Sie einen konkreten Verdacht gegen Walter Mayer, der damals Langlauftrainer war?
Innauer: Nein. Es ist immer wieder über Dopingprobleme geredet worden, weniger in Österreich, aber sehr stark in anderen Nationen. Ich bin nie an Details herangekommen. Da hab ich gesagt: Ich kümmere mich um einen Bereich, den ich in- und auswendig kenne und wo ich das ausschließen kann.

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Ist Skispringen wirklich dopingfrei?
Innauer: Es gab einen Dopingfall. Vor ein paar Jahren wurde der Russe Dimitri Wassiliew gesperrt, weil er entwässernde Mittel genommen hat, um schnell Gewicht zu verlieren. Und es gab die Geständnisse ehemaliger DDR-Springer, die mit Anabolika gedopt hatten. Das war die Zeit, in der Kraft der entscheidende Faktor war, weil man noch klassisch gesprungen ist und ziemlich kurze Ski hatte.

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Jetzt hätte es keinen Sinn mehr?
Innauer: Das überlegen wir uns gerade in der FIS: Würden wir den Body-Mass-Index zum Beispiel um drei Einheiten erhöhen, gäbe es die Gefahr, dass ein paar Sportler einfach Masse zulegen wollen und etwas schlucken. Aber selbst wenn es Springer gäbe, die mit Anabolika oder Wachstumshormonen dopen, könnten wir mit einem ausgeklügelten Training dagegenhalten. Das Problem in vielen anderen Sportarten ist ja, dass die Sportler ohne Doping einfach keine Chance sehen.

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Der saubere Sport ist eine Illusion.
Innauer: Eine Welt ohne Kriminalität ist auch eine Illusion. Trotzdem ist es immens wichtig, sich auf Regeln zu verständigen, die dann auch kontrolliert werden, und zwar möglichst intelligent kontrolliert – sodass alle wissen, das Risiko ist groß, erwischt zu werden. Spitzensport darf nicht zu einem Zoo von Monstern werden, die alles nehmen, was die Pharmaindustrie zur Verfügung stellt.

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Seit Turin 2006 gibt es einen Generalverdacht gegen den ÖSV. Vor Kurzem wurde auch noch der Langläufer Christian Hoffmann suspendiert. Offenbar ist der Wurm drin.
Innauer: Nicht mehr. Turin betraf zwei Biathleten. Es hat sich herausgestellt, dass es ein Netzwerk außerhalb des Skiverbands gab, an dem die zwei sich bedient haben. Gerüchteweise sind auch internationale Athleten an dieser Blutbanksache in Wien beteiligt. Mich überrascht, dass da noch nie ein Name aufgetaucht ist. Für mich hat die Geschichte zwei Seiten: Es ist schade, dass wir Leute hatten, die Sportbetrug begangen haben. Die sind mittlerweile bestraft worden und haben ihre Karrieren beendet. Auf der anderen Seite merke ich aber, wie das international instrumentalisiert wird.

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Was meinen Sie? Eine Verschwörung gegen Österreich?
Innauer: Es gibt Nationen mit vielen ertappten Dopingsündern wie zum Beispiel Russland. Da wurde nie darüber nachgedacht, den Verband zu sperren oder zu ächten. Das ist nur Österreich passiert. Viele dieser Dinge sind auch deshalb aufgetaucht, weil Österreich ganz konsequent die Lehren aus dieser Geschichte gezogen hat und in der Anti-Doping-Anstrengung das höchstmögliche Niveau erreicht hat. Es gibt ein neues Gesetz, das es ermöglicht, den Handel mit Präparaten anzuklagen und auch strafrechtlich zu verfolgen. Mich stört, dass es keine Harmonisierung der Standards gibt. Manche Länder haben nicht einmal eine nationale Anti-Doping-Agentur. Sehr große Sportnationen weigern sich, den internationalen Wada-Code zu unterzeichnen. Das Internationale Olympische Komitee sollte nicht nur Lippenbekenntnisse einfordern, sondern ganz klar vorschreiben: Wer an den Spielen teilnimmt, hat gefälligst diese und jene Standards einzuhalten.

profil:
Sie könnten sich dieser Angelegenheit auch beruflich widmen. Angeblich möchte der neue ÖOC-Präsident Karl Stoss Sie gerne zum Generalsekretär machen. Interessiert Sie der Job?
Innauer: Wie gesagt, hab ich es nicht so mit der Verwaltung. Ich war vor Kurzem bei einer vierstündigen Sitzung des ÖOC und beneide den interimsmäßigen Generalsekretär Matthias Bogner nicht um seinen Job.

profil:
Ein Nein ist das nicht, das war eine Politikerantwort.
Innauer: Ich glaube, ich war schon relativ deutlich.

profil:
Ihr Vertrag läuft bis Ende des Jahres. Was haben Sie danach vor?
Innauer: Jetzt konzentriere ich mich einmal auf diese Saison. Natürlich überleg ich mir einiges. Derzeit mach ich mit Christian Seiler (ehemaliger profil-Journalist, Anm.) ein Buch. Es wird im Frühling auf den Markt kommen. Arbeitstitel ist „Am Puls des Erfolgs“. Darin geht es um die Psychologie der Leistung, um das Verlieren und um die Schnittstellen zwischen Sport und Gesellschaft.

profil:
Skispringen ist ein Publikumshit, obwohl der Fernsehzuschauer die technischen Feinheiten nicht erkennt und meistens erst kurz vor der Landung feststellen kann, ob ein Sprung gelungen ist oder nicht. Sogar Andi Goldberger irrt sich manchmal. Wann wissen Sie es?
Innauer: In manchen Fällen sieht man schon vor dem Absprung, dass es nicht funktionieren wird. Weil der Springer das Gewicht falsch verlagert oder sich zu weit nach vorne lehnt. Man spürt das auch als Trainer, wenn sich einer verkrampft. Oder wenn er den Absprung zu spät einleitet. Und dann gibt es natürlich Traumsprünge, wie sie uns der Gregor Schlierenzauer und auch ein paar andere gelegentlich zeigen. Wo man vom ersten Moment an merkt, das ist jetzt Perfektion.


Toni Innauer, 51
Der Vorarlberger hatte eine kurze, aber spektakuläre Karriere als Skispringer. Bei den Olympischen Spielen 1976 in Innsbruck verpasste er knapp die Goldmedaille, vier Jahre später holte er in Lake Placid doch noch Gold. Er war der erste Athlet, der für einen perfekten Sprung fünfmal die Note 20 erhielt. 1982 beendete er seine Karriere, studierte Philosophie, Psychologie und Sportwissenschaften und wurde anschließend Trainer. Von 1989 bis ’92 war Innauer Cheftrainer der österreichischen Skisprung-Nationalmannschaft, seit 1993 ist er ÖSV-Direktor für den nordischen Bereich, 1999 gab er die Zuständigkeit für Langlauf und Biathlon ab. Innauers Vertrag läuft noch bis Jahresende.

Foto: Marc Beckmann

Rosemarie Schwaiger