Herzflimmern des hiesigen Kinofilms

Herzflimmern des hiesigen Kinofilms: Österreichs Filmszene genießt Weltgeltung

Österreichs Filmszene genießt Weltgeltung

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Von Stefan Grissemann

In finsteren Bürgersalons und kargen Schulzimmern ereignet sich Beunruhigendes: Rituelle Bestrafungen finden statt, Kinder werden gequält, Tiere sinnlos getötet. „Das weiße Band“, Michael Hanekes jüngster Film, zeichnet in Schwarzweißbildern von gespenstischer Klarheit das Bild einer untergegangenen Welt: Eine deutsche Dorfgemeinschaft anno 1913 reagiert auf die Serie mysteriöser Anschläge verstört. Der nicht erst seit seiner Folterstudie „Funny Games“ (1997) als intellektueller Schockmeister geltende Haneke hat für den historischen Stoff allerdings eine Strategie des impliziten Grauens gewählt: Er gehe davon aus, dass sein Film, der eine Art Quellenforschung zur Genese des Nationalsozialismus betreibt, diesmal „eher geistig schockieren“ werde, meint Haneke im Gespräch mit profil sarkastisch.

In etwa drei Wochen wird das zweieinhalbstündige Historiendrama seine Weltpremiere erleben – an einem Ort, den Haneke bestens kennt: im Grand Palais du Festival, dem Hauptquartier der Filmfestspiele in Cannes. „Das weiße Band“ markiert die bereits fünfte Teilnahme des Österreichers am Wettbewerb um die Goldene Palme – und seine neunte Einladung an die Croisette seit Hanekes Kinodebüt „Der siebente Kontinent“ (1989). Es war seit einiger Zeit anzunehmen, dass Michael Haneke, schon seiner internationalen Reputation und der langjährigen Bindung an Cannes wegen, im heurigen Programm des bedeutendsten Filmfestivals der Welt vertreten sein würde. Als man aber am Donnerstag vergangener Woche das traditionell streng gehütete Programm veröffentlichte, wurde ein weiterer, ganz anderer österreichischer Film genannt, mit dem bislang niemand gerechnet hatte. In der Reihe „Quinzaine des réalisateurs“ wird „La Pivellina“, das Spielfilmdebüt zweier hochbegabter Dokumentaristen, zur Uraufführung kommen: Tizza Covi und Rainer Frimmel („Das ist alles“, 2001; „Babooska“, 2005) erzählen darin die Geschichte eines ausgesetzten Kindes, das von einer in der römischen Vorstadt lebenden Wanderzirkusfamilie aufgenommen wird. Die Einladung von gleich zwei österreichischen Autorenfilmen nach Cannes ist umso erstaunlicher, als in der äußerst streng getroffenen Filmauswahl der Festspiele alljährlich nicht mehr als rund 60 Werke angeboten werden, die den aktuellen Stand des internationalen Autorenfilms repräsentieren sollen. Nur zum Vergleich: Die Beteiligung der zehnmal größeren Kinonation Deutschland am Filmfest in Cannes wird sich 2009 auf die Rolle als Koproduktionspartner des Haneke-Dramas beschränken.

Handlungsauftrag. Seit Jahren genießt Österreichs Autorenfilmszene Weltgeltung. Der im Vorjahr an Stefan Ruzowitzkys „Die Fälscher“ vergebene Academy Award und die diesjährige Oscar-Nominierung des Dramas „Revanche“ von Götz Spielmann sind dafür nur die exponiertesten Beispiele; auch die Arbeiten von Ulrich Seidl, Barbara Albert, Jessica Hausner, Peter Tscherkassky, Wolfgang Murnberger, Mara Mattuschka und Michael Glawogger werden international gehandelt, erreichen über Festivaleinladungen und Retrospektiven locker sechsstellige Besucherzahlen. Die heimische Kulturpolitik erblickt in solchen Erfolgen dennoch nur sehr bedingt einen Handlungsauftrag: Das vergangene Woche verlautbarte Kulturbudget sieht für den von Kunstministerin Claudia Schmied seit Langem als kulturpolitisches Hauptanliegen verzeichneten Film eine Erhöhung von gerade einer Million Euro vor.

Roland Teichmann, Direktor des Österreichischen Filminstituts (ÖFI), betrachtet die sanfte Anhebung seines Budgets abgeklärt: Die Erhöhung sei „nicht, was ich erhofft, aber das, was ich erwartet habe“. Der ORF, der dabei sei, sich in Filmbelangen „einseitig aus dem Spiel zu nehmen“, sei jedoch „die eigentliche Großbaustelle“. Wenn man den Finanzsinkflug des ORF berücksichtige, „so haben wir uns faktisch vom Niveau der Vorjahre leider nicht wegbewegt“, klagt Teichmann. In Österreich entstehe großes Kino somit „nicht wegen, sondern trotz der herrschenden ökonomischen Verhältnisse“.

„Wir haben keine Chance, aber wir nützen sie“, stellt auch Martin Schweighofer, Geschäftsführer der Austrian Film Commission, lakonisch fest. Er pflegt seit zwei Jahrzehnten die Kommunikation mit Festivalmachern und internationalen Filmproduktionshäusern, gilt als exzellenter Netzwerker mit besten Kontakten.

Eigenständig. Wie genau Österreichs Kino aber langfristig so erfolgreich werden konnte, ist schwer zu sagen: „Es gibt keine schwarz-weiße Antwort auf eine so graue Frage“, meint ÖFI-Chef Teichmann. „Sicher ist, dass hierzulande eine sehr eigenständige Filmsprache gepflegt wird und ein großes gemeinschaftliches Wollen hinter diesem Erfolg steckt – und dass der internationale Ruf des österreichischen Films seit dem Oscar 2008 nun auch weit über Europa hinausreicht.“ Die Austropräsenz in Cannes zeige jedenfalls erneut, „dass man Erfolg nicht kaufen kann“.

„Dem österreichischen Film eilt im Allgemeinen der Ruf voraus, nicht gar so lustig zu sein“, stellt Michael Haneke fest, aber das sei, solange die Qualität stimme, „im Ausland kein Hindernis, wohl aber in Österreich selbst“. Das bis an den Rand des Grotesken Pessimistische scheint sich als traditionelles Markenzeichen österreichischer Weltkunst – von den Wiener Aktionisten bis zur abgründigen Literatur Bachmanns, Bernhards und Jelineks – auch im Kino festgesetzt zu haben. Allerdings gelte der Autorenfilm – ganz anders als etwa in Frankreich, wo er selbstverständlich denselben Stellenwert wie Literatur oder Musik habe – „hierzulande kaum etwas, sonst könnten es sich die Politiker auch nicht leisten, ihn so stiefmütterlich zu behandeln“.

Er selbst habe „keinen Grund zu jammern“, stellt Haneke klar. „Mir geht’s gut, aber hätte ich nicht Erfolg im Ausland gehabt, stünde ich heute wohl immer noch dort, wo ich vor 15 Jahren stand. Für die jungen Regisseure wird das aber zusehends schwieriger: Wie sollen die noch ihre Filme finanzieren? Die eine Million mehr, die das Filminstitut nun zugewiesen kriegt, fängt die Verluste, die durch das Wegbrechen des ORF entstehen, nicht im Entferntesten auf.“

Aber die Kunst ist anpassungsfähig, und die Not gerät da schnell zur Tugend. Die aktuellen Finanzquerelen begünstigen bereits ein anderes, weit weniger aufwändiges Kino, ein schnelleres, ökonomischeres Drehen, wie es Tizza Covi und Rainer Frimmel praktizieren: „Wir arbeiten ohne Team, nur zu zweit und mit minimalen Budgets“, erklärt Tizza Covi – „aber genau das sichert uns die maximale Freiheit: nämlich Zeit, die Dinge zu planen, an den Drehorten zu entwickeln und zu inszenieren“. Vom Dokumentarischen zum Fiktionalen ist es in ihrem Fall nicht weit, sagt sie noch: „Das ist immer noch genau dieselbe Arbeit. Wir haben ,La Pivellina‘ an Originalschauplätzen gedreht, mit Schauspielern, die sich im Rahmen einer vorgegebenen Erzählung selbst darstellen.“ Rainer Frimmel ergänzt: „Wir erzählen da eine Geschichte, die zwar erfunden ist, die aber genau so tatsächlich passieren könnte. Die meisten unserer Laiendarsteller und ihre Lebensumstände kennen wir seit zehn Jahren, das gab uns die Sicherheit, ihr Milieu realistisch darzustellen.“ Als Teil der österreichischen Filmszene sehen sich Frimmel und Covi wohl, „aber wir wollen unseren eigenen Weg gehen und unsere Arbeitsweise beibehalten. Man kann Filme mit wenig Geld drehen, das ist auch eine Frage der Einstellung.“

Um Geld muss sich Michael Haneke einstweilen keine Sorgen machen. „Das weiße Band“ ist der teuerste Film, den Haneke je realisiert hat. An die zwölf Millionen Euro hat er gekostet, fast 13 Wochen lang dauerten die Dreharbeiten. Er habe für das Buch lange recherchiert, für die Ausstattung „Tonnen von Fotos“ gesehen, „ganze Festplatten voll“. Die Mühe hat sich bezahlt gemacht: Der Film wurde im Rahmen von Vorverkäufen bereits an eine stattliche Reihe internationaler Verleiher abgesetzt: „Das weiße Band“ ist schon vor seiner Uraufführung ein Verkaufserfolg. Einen „romanesken, choralen“ Film nennt Haneke selbst seine Arbeit – und meint damit einerseits etwa den literarisierenden Erzähler, der aus dem Off reflektierende Distanz zum Geschehen wahrt, andererseits die unüblich hohe Zahl an Sprechrollen. Filmförderer Roland Teichmann nennt Hanekes neuen Film „großes europäisches Kino in Perfektion“. Er lasse den Zuschauer „wie durch ein historisches Schlüsselloch eine schleichende gesellschaftliche Entwicklung beobachten, die im Totalitarismus endet“.

Der Kritiker Dave Calhoun notierte Ende vergangener Woche im Londoner Magazin „Time Out“, dass es zwar „aberwitzig früh“ sei, „um bereits auf Favoriten im Wettbewerb um die begehrte Goldene Palme in Cannes zu tippen“, aber wenn er sein Geld schon jetzt auf jemanden setzen müsste, so wäre es Haneke. Denn mit „Caché“ habe dieser 2005 in Cannes den Regiepreis gewonnen, vier Jahre davor ebendort mit seiner Jelinek-Adaption „Die Klavierspielerin“ den Großen Preis der Jury. „Das weiße Band“ nun erforsche die Wurzeln des Nationalsozialismus – „ein ernstes, potenziell auch kontroverses Thema, das Kritiker und Jury für sich einnehmen könnte“. Die Preisverleihung am Abend des 24. Mai wird in dieser Frage Klärung bringen. Österreichs Kino legt es jedenfalls erneut darauf an, eine weitere der vielen Chancen, die ihm von der Politik so nachhaltig verweigert werden, für sich zu nützen.