„Heute schlafe ich nirgendwo länger als zwei Nächte“

Irak. Er verlor seinen Bruder, sein Haus und seine Heimat: Ziad Haris über den Irak-Krieg und sein eigenes Schicksal

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Mein Bagdad ist nicht mehr das Bagdad, das es einmal war. Mein Viertel Zayouna, das im Osten der Stadt liegt, zwischen dem Al-Shaab-Stadion und dem Armee-Kanal, ist nicht mehr das Viertel, das ich kannte. Und mein Leben ist auch nicht mehr das Leben, das ich dort gelebt habe. Im Bagdad meiner Erinnerung gab es schöne Geschäfte, exzellente Restaurants, gut sortierte Märkte. Wir lebten dort als Sunniten, Schiiten, Christen, Turkmenen oder Kurden, ohne dass uns interessiert hätte, wer welcher Religion oder Volksgruppe angehörte. Wir waren Bürger eines besseren Viertels der Stadt.

Der Zusammenbruch nach dem Einmarsch der Amerikaner hat dieses soziale Gefüge zerstört: Nicht nur das bei vielen verhasste Regime ist kollabiert, sondern damit auch jede Art von Ordnung. Die Plünderer, die nach dem Ende Saddams als Erstes kamen, konnten wir noch abwehren. Doch gegen die religiösen Milizen und die kriminelle Energie der Repräsentanten des neuen Staats waren wir chancenlos.

Plötzlich lebten wir nicht mehr in Bagdad. Wir lebten in der Hölle.
Ich bin heute 61. Wenn ich in den Spiegel schaue, sieht mich ein 81 Jahre alter Mann an. Zuerst haben die schiitischen Todesschwadronen meinen Bruder ermordet. Er war ein stiller, einfacher Mann, der als Rechtsanwalt in seiner eigenen, kleinen Kanzlei tätig gewesen war. Er hatte niemandem etwas zuleide getan, war kein Büttel des Saddam-Regimes gewesen. Er musste sterben, weil er sich als Laie in seiner sunnitischen Moschee engagiert hatte. Sie lauerten ihm auf, verschleppten ihn, schossen ihm in den Kopf und warfen ihn in den Straßengraben.

Bei mir hatten sie es auf mein Haus abgesehen. Nachdem die Justiz wieder zu arbeiten begonnen hatte, wurde ein weit in die Vergangenheit zurückreichender Rechtsstreit zwischen dem Vorbesitzer und dem Vorvorbesitzer neu aufgewärmt. Anfangs schien es, als würde alles gut ausgehen. Doch dann bekam ein Mitglied der Mahdi-Armee, der stärksten schiitischen Miliz, Wind von der Sache.

Mein Haus, das umgerechnet immerhin 300.000 Euro wert war, gefiel ihm. Ihm wurde außerdem noch zugetragen, dass ich für amerikanische Medien arbeiten würde – das stimmte zwar nicht, ich bekam aber trotzdem Morddrohungen. „Verschwinde aus Bagdad, oder du bist tot“, sagten sie mir.

Meine Familie – Frau, Sohn und zwei Töchter – hatte ich schon lange vorher nach Amman, die Hauptstadt von Jordanien, gebracht. Ich blieb, versuchte mich aber möglichst unsichtbar zu machen.
Einmal stürmten Bewaffnete das Haus. Ich war glücklicherweise nicht daheim. Nachbarn erzählten mir später, was geschehen war: „Wo ist Ziad, dieser Hund?“, hatten die Eindringlinge gerufen. Später regelten meine Feinde dann auch den „Papierkram“. Das heißt: Ich wurde enteignet und zum heimatlosen Flüchtling gemacht.

In Zayouna habe ich noch meine Schwester, die ich besuche, und einige Freunde von damals, die nicht weggegangen sind. Viele sind es nicht, denn in der Stadt gibt es keine gemischten Viertel mehr.

Bist du Schiit, gehörst du in ein schiitisches Viertel, bist du Sunnit, in ein sunnitisches. Dazwischen wurden meterhohe Betonwände hochgezogen und Checkpoints errichtet, als müsste man feindliche Stämme voneinander trennen. Aber eigentlich haben nicht die Menschen ein Problem miteinander. Vielmehr sind sie Geiseln des wechselseitigen Misstrauens, der Angst vor Terroristen und Todesschwadronen.

Den Ton geben die Extremisten an. In Zayouna erinnern sich alle noch an Leila Kadim. Der Beauty-Salon, den sie vor 2003 betrieb, war schick und angesagt, Leila selbst schön, jung und intelligent – der Typ Frau, der sich in einer langsam moderner werdenden arabischen Gesellschaft durchzusetzen vermag. In der Auslage des Geschäfts, das in fröhlichen Farben strahlte, warben die Porträtfotos unverschleierter, westlicher Frauen um Kundinnen.

Jetzt ist der Salon geschlossen. Auch Leila wurde von Fundamentalisten bedroht. Sie lebt jetzt im Nordirak, in der kurdischen Autonomieregion. Und Auslagen mit den Fotos von Frauengesichtern gibt es in ganz Bagdad nicht mehr.

Viele Frauen streifen sich aus Angst vor Übergriffen von Religiösen inzwischen das Kopftuch über. Die Lehrerin Salma Abdul Karim hat es früher nie getragen, jetzt sitzt es eng gebunden auf ihrem Kopf. Die 35-Jährige hüllt sich in ein schlichtes schwarzes Kleid, denn sie will nicht auffallen: „Aber selbst so kann man als Frau alleine kaum auf die Straße gehen“, hat sie sich vor Kurzem bei mir beklagt.

Es sei zwar nicht mehr so schlimm wie 2006 und 2007, als Menschen wegen der Zugehörigkeit zur falschen Konfession von Milizionären an Ort und Stelle erschossen wurden. Doch ein Gefühl des Unbehagens bleibe, wenn ihr Weg sie in ein Viertel der „anderen“ führt.

Meine Autos ließ ich immer von Ali Mahmud reparieren. Er hatte seine eigene Werkstatt in der Scheich-Omar-Straße, die im Volksmund die Schlosser-Straße heißt, weil dort so viele Autowerkstätten sind. Alis Laden war immer gut gelaufen und nach der US-Invasion zuerst sogar noch besser. Die ruinösen Zölle und Einfuhrbeschränkungen der Saddam-Ära waren Geschichte, und damit begann im Irak die eigentliche Motorisierung. Nun konnte ein jeder ein Auto haben, auch wenn es nur ein für eine Handvoll Dollar importiertes fahrendes Wrack war. Ali konnte sich seines Glücks nicht lange freuen.

Schon 2005 entführte eine Miliz seinen achtjährigen Sohn. Um die verlangten 20.000 Dollar Lösegeld aufzubringen, musste er seine Werkstatt verkaufen. Er arbeitet jetzt als einfacher Karosserieschlosser und Mechaniker in der Scheich-Omar-Straße. Hätte ich noch einen Wagen, würde ich ihn zu ihm bringen.

In Bagdad fahre ich jetzt mit dem Taxi. Nicht selten bekomme ich von den Fahrern zu hören, dass sie früher Militärpilot waren. Oder Ministeriumsbeamter. Oder Techniker in der Rüstungsindustrie. Gleich nach dem Einmarsch haben die US-Verwalter die Armee und die herrschende Baath-Partei aufgelöst und alle Mitglieder aus dem Staatsdienst entlassen. Inzwischen gibt es zwar wieder ein Heer und Rüstungsbetriebe. Doch Sunniten haben unter den seit 2006 schiitisch dominierten Regierungen keine Chance auf Wiedereinstellung. Sie sind als „Baathisten“ abgestempelt.

Wie etwa Basim Abdullah, 45, der bis 2003 als Techniker in einer Geschützfabrik angestellt war. Er schlägt sich heute als Tagelöhner durch. An Tagen, an denen er Arbeit hat, verdient er 20 Dollar. Er nimmt an den wöchentlichen Demonstrationen teil, die von Irakern veranstaltet werden, denen man den Job weggenommen hat. Für die Politiker empfindet Abdullah nur Verachtung: „Sie sind untereinander zerstritten, und ein jeder reklamiert für sich, Saddam gestürzt zu haben. Dabei haben ihn allein die Amerikaner gestürzt.“

Unsere neue Elite gibt tatsächlich kein gutes Bild ab. Ihre Vertreter haben sich die besten Villen am Tigris unter den Nagel gerissen – jene Anwesen, in denen früher Saddams Funktionäre logierten. Ihr Reichtum zeigt sich an den riesigen Jeeps mit den verdunkelten Scheiben und an den Heerscharen bewaffneter Leibwächter, die sie umgeben.

Man sagt, dass sie die Whiskey-Flasche unter dem Turban tragen, das heißt: Um in einem bigott gewordenen Land nicht aufzufallen, feiern sie ihre Exzesse im Verborgenen. Politik ist für sie eine reine Bereicherungsquelle. Mit Patriotismus, Religion oder dem Dienst am Volk hat ihr Treiben nichts zu tun.

Ich pendle heute zwischen Amman, Erbil im Nordirak und Bagdad. Wenn ich in meiner alten Heimatstadt bin, schlafe ich nirgendwo länger als zwei Nächte. Paranoia? Ich weiß es nicht. Neulich, bei meinem letzten Besuch in Bagdad, hielt ein riesiger Geländewagen auf der Straße neben mir. Das verdunkelte Seitenfenster senkte sich.

„Wo geht es zum Andalus-Markt?“, fragte jemand aus dem Inneren des Wagens. Ich erklärte den Weg. „Danke. Musst du vielleicht auch dorthin? Steig ein, fahr mit uns mit“, sagte die Stimme. Sie klang sympathisch, jung und unverstellt.

Ich stieg trotzdem nicht ein, denn man kann einfach nicht mehr wissen, woran man ist im neuen Irak.