Hintergrund: Im Dickicht

War es ein Attentat, und wer hat es geplant?

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Viktor Juschtschenko ist wieder im Dienst – im Wahlkampf für die Präsidentenwahl am 26. Dezember. Das heißt: Auftritte, PR-Termine, angeblich 18 Stunden Arbeit am Tag. Sein entstelltes Gesicht behindert ihn dabei offenbar kaum. Im Gegenteil: Es ist die weithin sichtbare lllustration für den Verdacht, dass der herrschende Klüngel in der Ukraine vor nichts zurückschreckt.

Dem Oppositionskandidaten kann das politisch nur nützen – sein Sieg gilt als sicher, sofern am 26. Dezember alles mit rechten Dingen zugeht. Sollte es also ein Attentat gegeben haben, um Juschtschenko von der Macht fernzuhalten – es hätte das Gegenteil bewirkt.

Geklärt ist der Fall Juschtschenko damit jedoch noch lange nicht. Denn kaum jemand hält die ukrainischen Behörden und Gerichte derzeit für fähig, den Anklagen, die im Raum stehen, unparteilich nachzugehen. Das Land ist praktisch regierungslos, der Russland-freundliche Präsident Leonid Kutschma, ein erklärter Feind Juschtschenkos, ist nach wie vor im Amt und hat es in der Hand, seinen Geheimdienst SBU vor lästigen Ermittlern zu beschützen.

Zaghaft hat es die Staatsanwaltschaft schon Ende September versucht: Sie begann Untersuchungen, schickte ein Dossier an den SBU, von dort kam es mit dem Bericht einer Expertenrunde zurück, Juschtschenko leide an einer Herpesinfektion. Fall abgeschlossen.

Nun, nach den Laborergebnissen westlicher Ärzte, öffnete die Staatsanwaltschaft den Fall erneut. Und gleichzeitig mit ihr das Parlament. Im Mittelpunkt des Verdachts steht dabei Volodymyr Satsyuk, Vize-Chef des SBU und Gastgeber des geheimnisumwitterten Abendessens am 5. September. Doch Satsyuk genießt, weil er gleichzeitig Abgeordneter ist, parlamentarische Immunität. Ein Kiewer Gericht hob diese Immunität jüngst auf. Ein Dekret von Präsident Kutschma zwang die Richter, diese Entscheidung wieder rückgängig zu machen.

In Ermangelung von Zeugen und Aussagen bleibt es vorerst bei Ferndiagnosen von Geheimdienstexperten und abgesprungenen Agenten: Sie wissen über die engen Verbindungen zwischen SBU und dem russischen Geheimdienst FSB. Sie wissen von Labors und Experimenten mit Giften, die schon in sowjetischen Zeiten als „ganz normale Waffen“ gegen Regierungsfeinde eingesetzt worden sind: 1978 starb der bulgarische Dissident Georgi Markov in London nach einer per Regenschirm verabreichten Rizin-Injektion; der russische Banker Ivan Kivelidi kam 1995 nach einem Gespräch an einem vergifteten Telefonapparat um; der russische Präsidentschaftskandidat Ivan Rybkin verschwand vergangenes Jahr tagelang und behauptete, vom FSB unter Drogen gesetzt worden zu sein.

Doch wer wäre in der Lage, einen „politischen Mordversuch, geplant von der Regierung“, wie Juschtschenko vermutet, in diesem autoritären Dickicht nachzuweisen?

Die parlamentarische Untersuchung soll von Volodymir Sivkovych geleitet werden, einem Parteifreund des unterlegenen Regierungskandidaten Viktor Janukowitsch. Viel ist davon nicht zu erwarten: „Wir sind nicht überzeugt, dass (bei der Vergiftung) Absicht nachgewiesen werden kann“, sagt Sivkovych schon vor Beginn der Untersuchung, es gebe da „mehr Spekulation und PR als Wahrheit“.

Juschtschenko will mit der Untersuchung bis nach der Wahl warten. Um die Wahl „nicht zu beeinflussen“, wie er sagt. Aber wohl auch, weil sich das Ergebnis der Wahrheitsfindung oft danach richtet, wer die Macht hat im Land.