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Hintergrund: Schlicht ignoriert

Schlicht ignoriert

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Als 1962 die halbe Welt auf die Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils wartete, schmiedete Kardinal Alfredo Ottaviani an einem geheimen Dokument, „De Crimine Sollicitationis – Über das Verbrechen der Unzucht“. Ottaviani, als Pro-Präfekt des Heiligen Offiziums der „letzte Großinquisitor“ der Kirche, adressierte das Papier ausschließlich an die Bischöfe. Der Inhalt war höchst delikat. Es betraf ein Verbrechen, über das bis heute die Kirche lieber schweigt: die Verführung eines Beichtenden zu sexuellen Handlungen durch den Beichtvater.

Die Öffentlichkeit erfuhr erst vor wenigen Tagen aus einer englischen Zeitung davon. In Großbritannien laufen – wie auch anderswo – zahlreiche Prozesse gegen pädophile Priester. Juristen hatten das Dokument aufgespürt und wollen nun damit beweisen, dass die Kirche auf dessen Grundlage jahrzehntelang sexuellen Missbrauch vertuscht hat.
Die Kirche reagierte sofort, auch in Österreich. Das Dokument vertusche keinen Missbrauch, sondern verpflichte vielmehr jeden Gläubigen zur Anzeige beim Bischof, sagte der Pressesprecher der Erzdiözese Wien. Die Schweigepflicht schütze die Opfer und das Beichtgeheimnis. Das ist korrekt – und doch nicht die ganze Wahrheit.

„Crimen Sollicitationis“ regelte 40 Jahre lang nicht nur das kirchliche Strafverfahren für Unzucht während der Beichte, sondern auch für den Fall, dass ein Priester sexuelle Handlungen außerhalb des Beichtstuhls vollzieht – da allerdings nur mit einem Mann, einem Jugendlichen oder mit Tieren. In der neuen Prozessordnung 2001 fehlen Sodomie und Homosexualität: Letztere ist genauso wie heterosexuelle außereheliche Verbindung zweier Personen zwar schwere Sünde; sie werden aber erst zum kirchlichen Gerichtsfall, wenn sie öffentliches Ärgernis erregen.

Während und nach dem Verfahren sind alle Beteiligten zum Schweigen verpflichtet. Wird ein Priester vom Kirchengericht der Verführung eines Minderjährigen für schuldig befunden, droht ihm als Höchststrafe die Suspendierung. Eine Weiterleitung an die Justizbehörde ist nicht vorgesehen, wie auch der Staat die Kirche nicht zur Anzeige verpflichtet: Das ist Sache des Opfers.

Die Missbrauchsvorwürfe gegen Hans Hermann Groer wären ohnedies nie nach diesen Regeln geprüft worden. Für Verfahren gegen Kardinäle ist allein der Papst zuständig. Für alle anderen Fälle, in denen die Bischöfe selbst zuständig gewesen wären, ist auch nichts passiert. Sie haben ihre eigenen Vorschriften über Jahrzehnte missachtet.