Hirnforschung: Gut und Böse

Hirnforschung: Gut und Böse

Neurowissenschafter auf Spurensuche

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Als Soldaten auf das Haus zustürmen, flüchten die Bewohner in ein Kellerversteck. Sie hören, wie die Uniformierten über ihnen ein Zimmer nach dem anderen durchsuchen. Plötzlich fängt das Baby im Arm einer jungen Frau an zu schreien. Die im Dunkeln Kauernden wissen, dass sie des Todes sind, wenn die Soldaten sie entdecken. Soll die Frau das Kind in ihrem Arm ersticken, um sich und die anderen zu retten?

Zum Glück ist die Situation nur ausgedacht, als Teil eines ungewöhnlichen Experiments. Die Studentin Catherine Adams sitzt nicht wirklich mit ihrem Baby im Keller, sondern steckt in der Röhre eines Kernspintomografen und stellt sich das Entscheidungsdilemma möglichst plastisch vor. Forscher am Center for the Study of Brain, Mind and Behavior der amerikanischen Princeton-Universität wollen auf diese Art herausfinden, wie das Gehirn versucht, ein solches moralisches Problem zu lösen.

Studienleiter Joshua Greene, Philosoph und Neurowissenschafter, steht im Nebenraum hinter einer Glasscheibe und beobachtet seine Versuchsperson. Während Catherine Adams nachdenkt, nimmt der Kernspintomograf Schnappschüsse ihrer Gehirntätigkeit auf. Die von der Maschine ausgesendeten und von Körperzellen reflektierten elektromagnetischen Wellen ergeben millimetergenaue Bilder. Bei jeder Aufnahme rumort es kräftig in der Magnettrommel. Schließlich entscheidet die Studentin: „Nein“, sie wird das Baby nicht ersticken.

Greenes Forschungsteam ist nicht die einzige Gruppe, die sich den Kopf darüber zerbricht, wo die Moral im Kopf ihren Sitz hat. Etliche Wissenschafter bemühen sich derzeit darum, den biologischen Grundlagen unseres ethischen Denkens auf die Spur zu kommen. Der vorläufige, überraschende Befund: Moral, so scheint es, nährt sich nicht nur aus hehren Prinzipien, wie sie Immanuel Kant vor mehr als dreihundert Jahren gefordert hatte. Bei unserem Urteil, ob wir etwas als „gut“ oder „schlecht“ empfinden, mischt offenbar das Gefühl im Bauch kräftig mit – weit stärker, als mancher Philosoph oder auch Jurist es wahrhaben möchte.

Dilemma. Probandin Adams muss noch weitere Fragen beantworten. Versuchsleiter Greene bittet die junge Frau, sich in folgende Situation einzufühlen: Fünf Personen befinden sich auf einem Eisenbahngleis, während ein Zug herannaht. Ist es moralisch richtig, den Zug auf ein anderes Gleis umzuleiten, wo er eine andere Person überrollt? Adams sagt Ja. Doch als Greene nachfragt, ob es auch korrekt wäre, diese Einzelperson auf das Gleis zu stoßen, um dadurch die anderen fünf zu retten, meint sie nach längerem Zögern: „Nein.“

Konnte man noch verstehen, dass eine Frau kein Kind umbringen will, wird bei dem Zug-Beispiel ein Dilemma deutlich, für das professionelle Ethiker bisher keine befriedigende Erklärung hatten. „Denn distanziert betrachtet“, erklärt Neuroethiker Greene, „gibt es keinen Grund, warum unsere moralische Intuition so unterschiedlich ausfällt. Schließlich könnten wir in beiden Fällen fünf Personen das Leben retten, indem wir eine Person opfern.“

Greenes, im renommierten Wissenschaftsmagazin „Science“ erschienene Studie klärt das Rätsel ein wenig auf: Bei der Vorstellung, eine Person mit bloßen Händen in den Tod zu stoßen, regen sich hemmende Gefühle. Davon zeugen winzige Flecken im Stirnlappen, im Scheitelhirn und an der Basis der Großhirnrinde, die auf den vom Kernspintomografen aufgenommenen Bildern gelb und rot aufleuchten – dieselben Regionen, die bei Angst oder Trauer aufblinken. „Bisher haben Philosophen behauptet, unsere Vernunft treffe moralische Urteile“, sagt Greene. „Die Aufnahmen zeigen uns aber, welch bedeutende Rolle Emotionen für unsere Entscheidungen spielen.“ Was immer wir nachträglich auch an Argumenten oder Begründungen „fabrizieren“, diene nur dazu, das eigene Verhalten rückblickend zu rechtfertigen.

Gefühle sind jedoch keine bloßen Wallungen in der Magengegend. Sie stellen konzentrierte Lebenserfahrung dar, die uns in kritischen Situationen blitzschnell entscheiden lässt. So hat ein Team von Neurowissenschaftern um Alan Sanfey an der Universität Arizona den neuronalen Schaltkreis für Fairness entdeckt. Ökonomen wissen seit langem, dass Menschen extrem verärgert sind, wenn sie sich benachteiligt fühlen. Im so genannten Ultimatum-Spiel bekommen zwei Spieler die Chance, sich etwas Geld zu teilen. Ein Spieler schlägt vor, in welchem Verhältnis das Geld verteilt werden soll, der andere kann das Angebot annehmen oder ablehnen. Weist er den Vorschlag zurück, bekommt keiner der beiden Spieler etwas.

Emotionen. Handeln beide Spieler rational, wie die meisten Ökonomen unterstellen, sollte das Spiel ein vorhersagbares Ergebnis haben. Der erste Spieler wird dem zweiten so wenig wie möglich anbieten – und der zweite wird akzeptieren, weil selbst die kleinste Summe besser ist als leere Taschen. Aber die meisten Menschen neigen dazu, ihrem Mitspieler fast die Hälfte anzubieten. Offerieren sie bedeutend weniger, werden sie oft zurückgewiesen, und beide gehen leer aus. Sanfey entdeckte auch, dass unfaire Angebote eine starke Reaktion im insularen Kortex des Gehirns hervorrufen, einem Areal, das in der Regel mit Ärger und Ekel gleichgesetzt wird. Je stärker die Reaktion in diesem Bereich, desto höher sei die Wahrscheinlichkeit, dass die Versuchsperson das Angebot ablehnt.

Greene erklärt die Bedeutung der Gefühle aus der evolutionären Perspektive. Unsere Primatenvorfahren besaßen weder Sprache noch die Möglichkeit, abstrakt zu denken. Aber sie waren soziale Tiere mit Instinkten und Emotionen, die ihnen halfen, miteinander auszukommen. Viele dieser Emotionen haben wir geerbt. „Wir haben aber außerdem die Fähigkeit zum abstrakten Denken entwickelt. Diese wenden wir auf alles an, auch auf Fragen der Moral.“ Das Zug-Beispiel demonstriert, dass unser Instinkt spontan abrät, eine Person körperlich anzugreifen, um sie auf die Gleise zu stoßen – auch Primaten mögen dasselbe fühlen. Aber sie kennen keine Welt, in der sich Züge durch einen Mord umleiten lassen. Dementsprechend leuchten im Gehirn jene Bereiche auf, die mit Gefühlen assoziiert sind; geht es hingegen darum, nur eine Weiche umzustellen, beschäftigt sich damit vorwiegend die Zone für logisches Denken im vorderen Stirnlappen.

Philosophen zeigen sich von Greenes Studie keineswegs überrascht. So erblickt Thomas Metzinger, Philosoph an der Universität Mainz, in dem Versuchsergebnis ein probates Hilfsmittel für eine realistischere Sicht auf das moralische Denken. Zugleich schränkt er ein: „Nur weil wir verstehen, dass bei einer Entscheidung Gefühle beteiligt sind, sind wir der eigentlichen Frage, was eine Handlung gut oder schlecht macht, keinen Millimeter näher gekommen. Es ist eine alte Weisheit der Ethik, dass aus einem Sein kein Sollen folgt.“

Auch Jonathan Haidt, Psychologe an der University of Virginia, weiß um das oftmalige Dilemma und um die teilweise Spiegelung des evolutionären Erbes. „Das erklärt aber nicht die Ausprägung, wie wir sie in verschiedenen Gesellschaften finden.“ So sieht er als zusätzliches Element moralischer Urteile die kulturelle Prägung, die bei Kindern an und jenseits der Schwelle zur Jugend, also im Alter von neun bis fünfzehn Jahren, stattfindet. Wenn etwa japanische Kinder während dieser Zeitspanne in den USA leben, entwickeln sie ausgeprägte amerikanische Wertvorstellungen und Gepflogenheiten.

Kulturschock. Verbringen sie dagegen die Jahre davor in den Staaten, ehe sie in ihre Heimat zurückkehren, hinterlässt der Aufenthalt in ihrem Verhalten nur oberflächliche Spuren. Emigrieren sie erst nach dem fünfzehnten Lebensjahr in die USA, so erleben sie einen Kulturschock, ohne sich jedoch das moralische Denken ihrer Umwelt zu Eigen zu machen. Im Kernspintomografen ließe sich dieser Sozialisationsprozess freilich nur schwer nachweisen, meint der Experte für Moralpsychologie.

Die Psychologen Paul Rozin und Laura Lowery von der University of Virginia führen die in allen Kulturen herrschende Moral auf drei Grundprinzipien zurück: auf die Werte von Autonomie, Gemeinschaft und Erhabenheit. Wer eine dieser drei Regeln verletzt, so ihre These, ruft drei entsprechende Urgefühle im Menschen hervor: Ärger, wenn individuelle Rechte verletzt werden, Verachtung, wenn eine Person den sozialen Code verletzt, und schließlich Ekel, wenn jemand gegen das verstößt, was eine Gruppe als rein oder heilig hochhält. Erste gezielte Verhaltensexperimente mit Studenten in Japan und Amerika untermauerten diese weltumspannende Sicht unserer Moralvorstellungen. Der Kernspintomograf kam dabei allerdings noch nicht zum Einsatz. „Aber daran arbeiten wir“, sagt Greene.