Aus dem Innenleben des Naziterrors

Hitlers Heimkehr: Vor 70 Jahren wurden Österreich & Deutschland "wiedervereinigt"

Teil 1 der profil-Serie: Hitlers Heimkehr

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Vor 70 Jahren begann die Herrschaft der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei in Österreich. Sie dauerte vom 13. März 1938 bis zum 27. April 1945. In keiner Phase wurde das Leben des Landes von einer Partei so massiv beeinflusst wie in diesen sieben Jahren und 58 Tagen. Die bombastische NS-Propaganda und die Macht der Diktatur er­fassten alles. Selbst Kinder wurden politisch indoktriniert. Über interne Parteianordnungen wurden besonders Frauen von SS-Männern zur „Kindergruppenarbeit“ aufgerufen. Die höchste Zahl an offiziellen Parteimitgliedern in Österreich erreichte die NSDAP, als der Zweite Weltkrieg bereits in sein viertes Jahr ging: 1942 waren es 690.000.

Wie die Partei der „kleinen Leute“ ihre Macht organisierte, aus welchen Quellen sie sich finanzierte und auf wessen Kosten sie profitierte, ist bis heute weitgehend unbekannt – nicht zuletzt deshalb, weil eine his­torisch korrekte Aufklärung nach wie vor an Tabus rühren würde. Es dauerte Jahrzehnte, bis Österreich sich vor dem Hintergrund der Waldheim-Wahl 1986 seiner Mitverantwortung am Holocaust stellte. Die vorgeblich „saubere“ Wehrmacht wurde gar erst Mitte der neunziger Jahre durch eine aufsehenerregende Ausstellung über ihre Beteiligung an Kriegsverbrechen zur Kenntlichkeit entstellt.

Seit einigen Jahren rückt auch die NSDAP zusehends in den Blickpunkt der Öffentlichkeit. Trotz des Befehls, vor Eintreffen der Alliierten alle Unterlagen zu vernichten, sind – auch in Österreich – zigtausende Seiten interner Papiere erhalten geblieben. Sie stammen zum Großteil aus dem Büro von Hitlers starkem Mann in Österreich, Joseph Bürckel, und liegen heute, in 400 Kartons gepackt, im Archiv der Republik.

Die Dokumente gewähren Einblicke in den Alltag der totalitären Machtmaschine. profil präsentiert Auszüge aus hunderten Akten, von handgeschriebenen Kontoauszügen über nicht bezahlte Flugtickets bis zu den geradezu grotesken internen Parteianordnungen für die Licht- und Luftberater des Gauamtes „Schönheit der Arbeit“. Es sind faszinierende und ebenso verstörende Zeugnisse: wie die ­nationalsozialistische Herrschaft sich etwa im Parlamentsgebäude in ­Wien einrichtete: mit SS-Wachen und der Ausgabe von Gasmasken im Haus schon im September 1938. Wie Mercedes-Benz der NS-Spitze in Österreich zur imposanten Auffahrt rund um die Volksabstimmung über den „Anschluss“ am 10. April 1938 dutzende Limousinen zur Verfügung stellte. Wie die NSDAP – SS und SA waren Teil der Partei – sich aus den Enteignungen und Beschlagnahmungen alimentierte und wie gewaltige Summen auf Sonderkonten umgeleitet wurden.

Von diesen „schwarzen Konten“ wurden freihändig und nach Gutdünken Gelder weiterüberwiesen. Im Archiv der Republik finden sich Abrechnungen, wonach von einem der vielen Sonderkonten Joseph Bürckels allein in einem Monat 1,3 Millionen Reichsmark (umgerechnet sechs Millionen Euro) abgezweigt wurden. Zum Auftakt einer Serie bietet profil einen Überblick über zentrale, aber auch skurrile Aspekte der NS-Herrschaft. In der Folge werden unter anderem die Machtkämpfe in den sieben „Gauen“ in Österreich oder das Leben unter der NS-Herrschaft im „Gau der guten Nerven“ (Salzburg) beleuchtet. In einem Interview wird der Sohn von Kurt Schuschnigg, dem 1938 zur Abdankung gezwungenen Bundeskanzler, über die damaligen Ereignisse und die Erinnerungen an seinen Vater sprechen.

Es ist ein Samstag. Gegen 4.30 Uhr landen an diesem 12. März 1938 in Wien-Aspern zwei Flugzeuge. Sie ­bringen den Reichsführer SS Heinrich Himmler und den Chef der Sicherheitspolizei, Reinhard Heydrich, in ihr neues Tätigkeitsfeld. Himmler und Co. nehmen die wartenden Autos in Beschlag, die zum Empfang angetretenen heimischen Naziführer Odilo Globocnik und Friedrich Rainer bleiben ohne Transportmittel zurück. Himmler und Heydrich organisieren in Wien bereits Verhaftungen, ehe die Deutsche Wehrmacht um acht Uhr in Österreich einmarschiert.

Am nächsten Tag wird Realität, was Adolf Hitler in „Mein Kampf“, erster Absatz, vorweggenommen hat: die „mit allen Mitteln durchzuführende Lebensaufgabe“ der „Wiedervereinigung“ der „zwei deutschen Staaten“. Danach werde es an fremden Grund und Boden gehen: „Der Pflug wird dann das Schwert, und aus den Tränen des Krieges erwächst für die Nachwelt das tägliche Brot.“

Am 13. März 1938 wird Österreich per Gesetz „ein Land des Deutschen Reiches“ – und das österreichische Heer bereits Teil der Deutschen Wehrmacht. Zur Übernahme der Geldreserven vier Tage später genügt eine simple Verordnung: „Die Österreichische Nationalbank tritt in Liquidation und wird von der Reichsbank für Rechnung des Reiches abgewickelt.“ Josef Goebbels wird am 27. März in Berlin die tiefroten Zahlen des Reichshaushalts entspannt kommentieren: „Wir haben einen bedeutenden Fehlbetrag. Dafür aber Österreich.“

Am 15. März bekommen die Werktätigen ab Mittag arbeitsfrei, um dem „Führer“-Auftritt auf dem Wiener Heldenplatz zu folgen. Die NSDAP wird auch in Österreich allein herrschende Staatspartei. SA, SS, NS-Kraftfahrerkorps, Hitler-Jugend, NS-Frauenschaft sind als so genannte angeschlossene Gliederungen Teil der Partei. In einer der ersten internen Anordnungen wird die politische Funktion der hierarchischen Stufen der NSDAP – Block, Zelle, Ortsgruppe und Gau – definiert: „Die Möglichkeit der totalen Volksführung ist erst garantiert, wenn die Wurzeln der Parteiorganisation den letzten Volksgenossen erfassen.“

Scheinlegal. Der erste bis ins Detail ­organisierte Einsatz der Partei gilt der Volksabstimmung am 10. April 1938. Aus HJ- bis SS-Angehörigen gestellte „Schlepperdienste“ haben ab Mittag „allen bis dahin nicht erschienenen „Volksgenossen“ die schriftliche Mahnung über die Wahlpflicht zu überreichen. Zur „Wahl“ steht eine einzige Frage: „Bist Du mit der am 13. März 1938 vollzogenen Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich einverstanden und stimmst Du für die Liste unseres Führers Adolf Hitler?“ Von den 4,453 Millionen Wahlberechtigten kreuzen 11.929 „Nein“ an. 5776 geben einen ungültigen Zettel ab. 99,73 Prozent stimmen mit Ja. Juden sind von der Abstimmung ausgeschlossen.

Der österreichische Zeithistoriker Gerhard Botz skizziert das damit abgeschlossene politische Geschehen als dreiteiligen Prozess: "Pseudorevolutionäre Machtübernahme von unten, scheinlegale Machtergreifung von oben und übermächtige Intervention von außen."
Mit der Abstimmung ist Joseph Bürckel beauftragt, der seine Durchschlagskraft bei der Eingliederung des Saarlandes 1935 bewiesen hat. Ende April 1938 wird er „Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich“ und Hitler direkt unterstellt. Er steht auch an der Spitze der NSDAP im Land und ist damit höchste politische Autorität. Bürckel kann allen Dienststellen des „Reiches“ im „Lande Österreich“ – die Wehrmacht ausgenommen – Weisungen erteilen, auch Arthur Seyss-Inquart: Er war auf deutschen Druck in der Nacht vor dem Einmarsch als Bundeskanzler eines NS-Kabinetts in Österreich angelobt worden. Nun ist er untergeordneter Leiter einer Landesregierung.

Die von Hitler ernannten Gauleiter der sieben Gaue – das Burgenland wird auf „Niederdonau“ und die Steiermark aufgeteilt, Vorarlberg und Tirol werden ein Gau – sind auch Landeshauptleute. Das bedeutet Einheit von Staat und Partei. Vier der Gauleiter haben SS-Ränge. Die von Bürckel ausgegebene Richtung ist klar: „Totalitätsanspruch der Partei, Kontrolle der Wirtschaft und Umwandlung der Menschen zu ‚Volksgenossen‘“ (Zeithistoriker Gerhard Jagschitz). Die Werte, die das Regime umverteilen kann, sind gewaltig. Österreich brachte das 17-Fache des damaligen deutschen Bundesschatzes mit. Daraus wird die Beseitigung der drückenden Arbeitslosigkeit finanziert , die bis heute als eine der „gu­ten Seiten“ dem Nationalsozialismus gedankt wird. Die Wiener bekommen 60.000 Wohnungen vertriebener Juden.
Mit April 1940 endet der Bestand Österreichs als „Land des Deutschen Reiches“. Ab 1942 ist auch die 1939 eingeführte Bezeichnung „Ostmark“ untersagt. Die offizielle Sprachregelung lautet ­„Alpen- und Donaureichsgaue“. 1942, im vierten Kriegsjahr, erreicht die Zahl der Parteimitglieder der NSDAP mit 688.000 ihren Höhepunkt.

Am 27. April 1945 erfolgt per Proklamation die „Wiedererrichtung der Republik Österreich“. Die Führerkorps der NSDAP werden bei den Nürnberger Prozessen 1946 als verbrecherische Organisationen eingestuft.