Drogen: Kokain Hoch wie nie!

Hoch wie nie! - Kokain: Warum das gefährliche Pulver immer populärer wird

Vom Treibstoff der Schickeria zur Volksdroge

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Eine weiße Hexe“ nennt Luc Bondy das Pulver, das ihm über Jahre „Augenblicke von großer Lebensintensität“ bescherte. Augenblicke, so der Regisseur und Festwochen-Intendant in seiner literarischen Selbstreflexion „Wo war ich?“ aus dem Jahr 1998, „die ich selten, leider, ohne diese Droge kennen gelernt habe, wobei es vielleicht gar nicht gesagt ist, dass so viel und so stark zu empfinden uns angemessen ist“.

Die erste „Line“ eines Abends, erzählt Musicalstar Alexander Goebel, katapultiere einen in den Status „eines vollgetankten Ferraris, der endlich mit vollem Potenzial losdonnern kann“. „Kokain ist eigentlich ein einziges Versprechen“, so der 33-jährige Tontechniker Franz, „dem man beständig hinterherjagt, weil man noch einmal, ein einziges Mal dieses Hochgefühl verspüren möchte, das man bei der allerersten Straße hatte.“

Schneller, weiter, höher! Die Wirkung von Kokain vermittelt seinen Konsumenten die Illusion von Unverwundbarkeit; das Ego wächst in – im nüchternen Zustand – unbekannte Dimensionen. Müdigkeit ist Schnee von gestern; das Hirn bekommt eine kalte Dusche verpasst, der es wenige Minuten nach der nasalen Aufnahme gestärkt, enthusiastisch und erfrischt entsteigt. Ins Wissenschaftliche übersetzt: Körpereigene Opium-Verwandte, die Endorphine, verantwortlich für Euphorie und Enthemmtheit, werden mit Hilfe des Botenstoffs Dopamin so mit der Droge verknüpft, dass dieses „Belohnungssystem“ unwiderruflich ins Gedächtnis eingebrannt wird.

„Den Schnee, auf dem wir alle talwärts fahren, kennt heute jedes Kind“, verkündete Falco in seiner Hitnummer „Kommissar“ schon vor über 20 Jahren.

Im Büro des Wiener Drogenkoordinators Michael Dressel schätzt man, dass vier Prozent der österreichischen Bevölkerung, also 320.000 Menschen, mindestens einmal „mit kokainhältigen Drogen“ in Berührung gekommen sind. Laut Angaben des EU-Drogenbeobachtungszentrums benutzen zwei Prozent der Wiener, rund 30.000 Personen, regelmäßig „nose candy“ oder „Erfrischungen“, so der Benutzerjargon, als Muntermacher. Kokain, einst bevorzugter Treibstoff der gesellschaftlichen Bohème und Szene-Elite, ist zum Spielzeug der Massen geworden. Alle tun es: Bankbeamte, Werbeleute, Immobilienmakler, Journalisten, Politiker, Kellner, Handwerker und die letzten Überlebenden der New Economy, branchenbedingt ramponiert, sowieso.

Preisverfall. „Der Kokainkonsum zieht sich durch alle Branchen und Institutionen“, erklären Ernst Geiger und Herbert Stübler, leitende Beamte der Bundespolizeidirektion in Wien. „Das hängt auch mit der leichten Verfügbarkeit durch vorrangig westafrikanische Tätergruppen zusammen. Der Marktpreis hat sich in den letzten Jahren, bei einer hohen Qualität von 40 Prozent Reingehalt, von 250 Euro auf 100 Euro pro Gramm gesenkt.“ Österreichs EU-Beitritt verhalf dem Drogenschmuggel zu einem Boom und erhöhte das Angebot nachhaltig. Die EU-Erweiterung wird das Gewerbe zusätzlich beflügeln. Allein in Wien konnte laut aktuellem Drogenbericht (siehe Grafik) 2003 im Vergleich zu 1999 die doppelte Menge an Kokain und Crack (Letzteres in Österreich allerdings kaum verbreitet) sichergestellt werden.

Um den gelegentlichen Konsumenten oder „den Kellner, der ein paar Brieferln verdealt“, könne man sich nicht wirklich kümmern, erklärt der Leiter des Suchtmittelreferats, Herbert Stübler. Es gehe vor allem darum, „durch Strukturermittlungen die hochkarätigen Hintermänner und Großlieferanten auszuheben“.

Der wachsende Volksdrogen-Status von Kokain ist ein gesamteuropäisches Phänomen. Laut „Spiegel“ haben eine halbe Million Deutsche in den vergangenen zwölf Monaten mindestens einmal Kokain geschnupft; 3,3 Prozent aller Franzosen konsumieren nach dem Wochenmagazin „Nouvel Observateur“ regelmäßig Kokain; 200.000 Schweizer gehen, so das Magazin „Facts“, relativ konsequent on line.

Auf Events, Clubbings, Privatfesten und in Szenelokalen werden allabendlich hundertfach die gleichen Rituale zelebriert. Entweder hat man sich seine „Post“ in der einschlägigen Briefchenform bereits beim Dealer besorgt, oder er wird per Handy mit chiffrierten Botschaften („Wir brauchen drei Pizzaschnitten“) vor die Lokalität beordert. Lou Reed thematisierte diesen Spannungszustand in seinem Song „I’m Waiting for My Man“.

Irgendwo zwischen Tür und Angel wechselt die Ware, die im „Einzelhandel“ durchschnittlich hundert Euro pro Gramm kostet, schließlich den Besitzer. Und wenig später wandern die fiebrig Vorfreudigen allein, in Zweier- oder Dreiergrüppchen auf die Toiletten, um auf den Ablagen das weiße Pulver mit Kreditkarten zu verfeinern, in Linienform zu bringen und mittels straff gerollter Geldscheine aufzuziehen.

Hypersexualisierung. Kokainisten sind in ihrem Habitus verhaltensauffällig: überzogene Euphorie, verbaler „Durchfall“, Nasenschniefen, geweitete Pupillen, Kiefermalmen, exzessiver Alkoholkonsum, Hypersexualisierung, ans Autistische grenzende Ich-Bezogenheit. Die künstliche Aufgeräumtheit hält zwischen zwanzig Minuten und einer Stunde an. Dann verlangt das Hirn erneut nach einer „Belohnung“.

An genau diesem Punkt kann die Amüsierstrategie in die Abhängigkeit rutschen. Denn durch die Verschiebung des Botenstoff-Gleichgewichts im Hirn braucht der Konsument erneut eine Dosis, um die Entzugserscheinungen zu bekämpfen. Passiert das nicht, kann es zu melancholischen Verstimmungen und Depressionen kommen.

Suchtspezialistin Gabriele Fischer (siehe Interview) unterscheidet drei Typen von Usern: Die „Party-Konsumenten“ aus der sozial integrierten und beruflich verankerten Mittelschicht beschränken ihren Drogenkonsum anfänglich auf das Wochenende und weiten ihn dann sukzessive aus. Im Unterschied zur „Szene-Gruppe“, die sich ihren Stoff vorrangig von nigerianischen „Streetrunnern“ in und um U-Bahn-Stationen „checkt“ und sich das Kokain in Kombination mit Heroin intravenös injiziert, im Unterschied auch zur „Treatment-Gruppe“, die in Erhaltungstherapien mit synthetischen Opiaten versorgt wird, neigt das mittelständische Konsum-Establishment sehr viel stärker zur Bagatellisierung seines Drangs zur Droge.

Kokain vermittelt ziemlich lange die Illusion, „alles unter Kontrolle zu haben“, so Gabriele Fischer. Ein verlässliches Warnsignal wäre die Tatsache, „dass man sich das Wochenende gar nicht mehr ohne vorstellen kann“, erklärt der Psychotherapeut und Wiener Drogenkoordinator Michael Dressel, „und man ausschließlich substanzbestimmt zu denken beginnt“.

Suchtbeginn. Seinen ersten Erkenntnishorror hatte Musical-Darsteller Alexander Goebel, „als ich mir bereits beim Aufziehen einer Line fieberhaft überlegte, woher ich meine nächste kriegen würde“. An dem Morgen, als er sich nach dem Aufwachen noch im Bett die Reste vom Vortag einpfiff, um überhaupt „die Kraft zum Zähneputzen“ aufbringen zu können, beschloss er, das Zeug nie wieder anzurühren.

Der Musiker Boris Bukowski kam nach einigen Erfahrungen mit dem Stoff, „dem ich nie verfallen war“, zu dem Schluss: „Die Droge hält nicht das, was sie verspricht. Ich habe versucht, damit kreativ zu arbeiten: Es schwirren einem zwar zwanzig Melodien durch den Kopf, aber alle gleichzeitig. Wenn die Wirkung vorbei ist, sind die auch wieder weg.“

Dem Theaterregisseur Luc Bondy gelang die Selbstrettung im Alleingang, wie er in einem „Stern“-Interview bekannte: „Ich konnte nicht mehr aufstehen. Ich habe mich nicht mehr im Spiegel angeguckt. Ich hatte Angst, dass ich an mir sehe, dass ich Drogen nehme. Also habe ich mir die Zähne neben dem Spiegel geputzt.“

Das soziale Umfeld spielt bei Kokainkonsumenten eine zentrale Rolle. „Unter lasterhaften Menschen schämt man sich, frei von Laster zu sein“, schrieb Dino Segre in seinem Skandalroman „Kokain“, den er unter seinem Schriftsteller-Pseudonym Pitigrilli 1922 in Italien veröffentlichte. „Kokain hat eine unglaublich demokratisierende Wirkung“, erzählt die frühere Dealerin und ausgebildete Sozialarbeiterin Sabine P. (siehe Kasten S. 116). „In meinem Wohnzimmer haben sich Bankbeamte, Kellner, Friseusen und Rechtsanwälte, die unter anderen Umständen nichts miteinander hätten anfangen können, traut vereint den Mund über Stunden fusselig geredet.“

Depressionen. Eine verschworene Gemeinschaft, geeint durch die Mission, den Falco-Songtitel „Hoch wie nie“ möglichst schnell für den eigenen Gefühlshaushalt zu verwirklichen. Der unerträglichen Leichtigkeit des Seins wird ein langsames Ende gesetzt, wenn sich die Nach- und Nebenwirkungen von Koks der Psyche des Konsumenten bemächtigen. Depressionen, Fahrigkeit, Impotenz, Schlaflosigkeit sowie Aggressionsbereitschaft sind die harmloseren Begleiterscheinungen. Halluzinationen, Panikattacken, paranoide Zustände bis hin zu Psychosen signalisieren, dass die Party unwiderruflich vorbei ist.

„Ich habe meine Wohnung verbarrikadiert“, erzählt ein Wiener Kellner, der im Endstadium seiner Sucht acht bis zehn Gramm pro Woche vernichtete und sich wegen seiner unerträglichen Angstzustände schließlich selbst in die Psychiatrie des AKH einweisen ließ. „Ich war überzeugt davon, dass mich islamistische Extremisten einkassieren wollten. Im Testbild des Fernsehers bildete ich mir ein, Signale von den Amerikanern zu kriegen, damit sie mich aus dieser Hölle evakuieren konnten. Ich trank kein Wasser mehr, weil ich in Panik war, dass alles vergiftet worden ist.“

Die Psychose eines Dealers kostete den Kriminalbeamten Martin Pruckner, seit 25 Jahren Suchtgiftfahnder am Flughafen Schwechat, einmal drei gebrochene Rippen: „Der Mann, voll gepumpt mit Kokain, hat sich durch das Fensterglas seiner Penthousewohnung geworfen. Mein Kollege und ich konnten ihn wirklich nur mit allerletzter Kraft wieder hineinhieven.“

Pruckner und sein Kollege Mario Fröhlich haben gelernt, sich auf ihre Instinkte zu verlassen. Täglich gehen sie in der Ankunftshalle des Flughafens auf Stoffjagd. Ihr Geschäft, „das wir wie einen Sport begreifen“, so Fröhlich, ist durch das Schengener Abkommen und die Durchlässigkeit der Grenzen erheblich mühseliger geworden. Aufgrund neuer Datenschutzbestimmungen haben die Suchtfahnder auch kein Zugriffsrecht mehr auf Flugroutenanalysen. Früher konnte man problemlos nachvollziehen, ob ein Passagier aus Madrid oder Amsterdam ursprünglich aus Südamerika nach Europa eingeflogen war. „Unser Job“, klagen die beiden Beamten, „wird immer mehr zum Ratespiel.“

Schlechte Bedingungen. Durch die verschärften Gepäckskontrollen seit dem 11. September 2001 hat das „Bodypacking“, so der Fachausdruck für Drogenschmuggel am und vor allem im Körper, eine Renaissance erlebt. Das Büro der Suchtgiftfahnder ähnelt einer Trophäengalerie. Da ist ein Foto der 70-jährigen Südamerikanerin im Rollstuhl zu sehen, die das Kokain in ihre Schuhe eingebaut hatte. In einer Zelle steht noch der Koffer, den ein tschechisches Pärchen vergangene Woche einschmuggeln wollte: Der Kleiderinhalt war mit einer kokainhältigen Lösung getränkt und dann getrocknet worden. Unsichtbar für den Laien, nur das Gewicht des Gepäckstücks hatte die prekäre Ladung von zehn Kilo Kokain verraten.

Schaurige Mahnmale sind die postergroßen Fotos von Bodypacker-Leichen mit offenen Brustkörben: Manchmal platzt ein verschlucktes Kokainsäckchen im Magen, was zu einem qualvollen Tod innerhalb von Minuten führen kann. „Die Auftraggeber der Kuriere, die meist ganz einfache Leute ohne jede persönliche Erfahrung mit der Droge sind, rechnen ohnehin mit einer Ausfallsquote von sechzig Prozent“, erzählt Pruckner, „auch durch Verhaftungen natürlich. Sie haben dann zumindest den Anstand, sich um die Familien zu kümmern.“

Undercover. Mario Fröhlich hat auch eine Karriere als Undercover-Fahnder hinter sich. Getarnt als potenzieller Einkäufer, hatte er sich in die Wiener Szene eingeschleust: „Der Job hat mich fast meine Ehe gekostet, ich lebte in der Nacht und verbrachte meine Tage im Büro.“ Zwei seiner inzwischen suspendierten Kollegen sind bei ihren V-Jobs der Versuchung von „Mama Coca“ erlegen: „Irgendwann haben sie begonnen, die Ware, die sie vorgaben, kaufen zu wollen, selbst zu probieren. Als ich von dem einen den Satz ,Ich habe alles unter Kontrolle‘ hörte und ihm dabei ins Gesicht sah, wusste ich, jetzt ist er verloren.“

Der weit verbreitete Mythos, dass Kokain nicht süchtig macht, „trägt einen großen Teil zu dessen Flächenbrand bei“, so der französische Suchtspezialist Mario Sanchez. „In Südamerika ist das Kauen der Blätter Alltagskultur. Diese Form des Konsums bringt das Zentralnervensystem auch nicht so aus dem Ruder.“ Vor 5000 Jahren nutzten die Inkas die Coca-Pflanze als Heilmittel und rituelle Droge bei kultischen Handlungen. Ende des 16. Jahrhunderts brachte ein spanischer Arzt das erste Gewächs nach Europa. Mitte des 19. Jahrhunderts entdeckte die Medizin seine betäubende Wirkung. 1860 promovierte der deutsche Chemiker Albert Niemann über das aus den Coca-Blättern hergestellte Destillat und fungierte gleichzeitig als sein Namenspatron. Die Herstellung ist denkbar einfach: Das aus den Blättern gewonnene Kokain wird mit Backpulver und Wasser vermischt. Nach der Verdunstung des Wassers entstehen die weiß-gelblichen Kristalle. 1884 begann ein aufstrebender Mediziner in Wien, mit dem Rauschgift Kokain zu experimentieren. Die Anregung dazu war von einem preußischen Militärarzt gekommen, der erschöpften Rekruten mit Kokain zu frischem Kampfgeist verholfen hatte.

In seinem Essay „Ueber Coca“ lobte der junge Sigmund Freud die Vorzüge des Wunderstoffs, der nicht nur zur Betäubung der Schleimhäute diene, sondern auch gegen Depressionen, Müdigkeit und Brechreiz helfe, ganz zu schweigen von der „heftigen sexuellen Erregung“, die es Freud besonders angetan hatte. Seiner späteren Ehefrau Martha Bernays schrieb Freud einen ekstatischen Brief, in dem er sich als „großen, wilden Mann, der Kokain im Leibe hat“, bezeichnete.

Das Wechselspiel von Betäubung und Erregung machte Kokain zur Königin Berlins in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Eine „kulturelle Schizophrenie“ nannte ein zeitgenössischer Journalist die „Cocamanie“.

Der Arzt Gottfried Benn dichtete nur mehr im Koksrausch, der spätere Dramatiker Carl Zuckmayer betätigte sich als „stümperhafter Dealer“ und schnupfte selbst immer wieder ein Näschen, und die gefeierte Nackttänzerin Anita Berber zog sich „den Espresso in Pulverform“ bereits zum Frühstück ein. Kokain wurde zum Treibstoff der Kreativen und Enthemmten – bis die Nazis dem Tanz auf dem Vulkan ein Ende machten. „Geistiges Kokain“ nannten sie in der Folge alles Volkszersetzende wie die „Negermusik“, die Emanzipation der Frau oder die Pariser Mode.

Heute erlebt das Kokain in Berlin eine neue Hausse, und nicht nur dort ist es mittlerweile zum Marschierpulver des kleinen Mannes geworden. Den deutschen Modeschöpfer Wolfgang Joop, der in seinem Roman „Im Wolfspelz“ die „desperation of desire“ der „Naseweiߓ-Gesellschaft beschreibt, wundert das nicht:
„Wir können doch alle keinen Schmerz mehr ertragen. Das ganze System des Kapitalismus basiert auf dem masochistischen Schrei: ,Gib mir schnell etwas, das mich tröstet, ich kann es bezahlen.‘“