Homer-Forschung: Genesis der Ilias

Wie die größte Dichtung aller Zeiten entstand

Drucken

Schriftgröße

Um 700 vor Christus schrieb der griechische Dichter Homer die „Ilias“, das „Gedicht von (der Stadt) Ilios“. Das 15.693 Verse in 24 Gesängen umfassende Epos, verfasst im Versmaß des Hexameters, gilt als bedeutendstes Werk antiker Dichtkunst, stellt den Beginn der abendländischen Literatur dar – und war lange der wichtigste Hinweis auf die Existenz Troias.

Der Troia-Mythos ist eine Geschichte, in der es um Macht, Stolz, Zorn, Intrige und Vergeltung geht. Paris, der Sohn des troianischen Königs Priamos, entführt Helena, Gattin des Sparta-Königs Menelaos. Dessen Bruder Agamemnon aus Mykene führt deshalb die Griechen in den Kampf gegen Troia. Wichtigster Held der Griechen in der Ilias ist Achilleus, jener der Troianer Hektor. Die List des Odysseus mit dem hölzernen Pferd erwähnt Homer nur beiläufig in seinem zweiten großen Werk, der „Odyssee“. Die Stadt selbst – in der „Ilias“ 53-mal Troia und 106-mal Ilios genannt – bildet die Kulisse für die Schilderung einer 51-tägigen Episode aus dem zehn Jahre dauernden troianischen Krieg.

Die Griechen der Antike bezogen aus dem Triumph über Troia zum Teil ihre Identität. Später leiteten die Römer ihre Herkunft aus der von ihnen Ilium genannten Stadt her: Dem Mythos zufolge flüchtete der Troianer Aeneas – Vorfahr von Romolus und Remus – aus der brennenden Stadt nach Italien.

Bis ins 16. Jahrhundert galt der Troianische Krieg, so der Schweizer Gräzist Joachim Latacz, als das „erste beglaubigte Ereignis der nichtbiblischen Weltgeschichte“. Im Zuge der europäischen Aufklärung wurde die Authentizität des Stoffes jedoch bezweifelt – bis selbst die alleinige Urheberschaft Homers an der „Ilias“ infrage gestellt und der Text als literarische Fiktion eingestuft wurde.

Erst die Grabungen des deutschen Hobbyarchäologen Heinrich Schliemann brachten die Existenz Troias wieder ins öffentliche Bewusstsein. 1871 fand Schliemann jene Schmuckstücke, die er irrtümlich für den „Schatz des Priamos“ hielt. Seit damals hat die Debatte, ob die „Ilias“ als Geschichtsbuch taugt oder Troia nur literarischer Schauplatz ist, nicht mehr geendet.

Diskutiert wird auch, wie Homer von Troia wissen konnte. Die erste griechische Hochkultur der Mykener war um 1200 vor Christus, wie Troia selbst, zerfallen, nicht einmal Schrift gab es in der Folgezeit – Homer lebte erst ein halbes Jahrtausend danach. Heute glauben Forscher wie der Wiener klassische Philologe und Homer-Experte Georg Danek, dass der Dichter das Ruinenfeld in Troia einfach besichtigt hat. „Homer ist viel herumgereist“, sagt Danek, „er kannte Griechenland gut und war wohl auch in Troia.“

Als wesentlich für die Überlieferung durch 500 Jahre ohne Schrift gilt die Tatsache, dass Homer in der Tradition der Sängerdichtung stand. Geschichten wurden mündlich von Generation zu Generation weitergegeben und dabei verändert. „Das waren ausgebildete Sänger“, so Danek. „Sie tradierten Texte über Jahrhunderte, jeder Sänger erarbeitete seine Version. Die Mythen sind dabei oft aufgeblasen worden und wurden so immer bedeutender.“

So gesehen war Homer wohl nicht der Schöpfer der „Ilias“, sondern deren literarischer Vollender. Die zentralen Handlungselemente und Protagonisten waren durch den traditionellen Mythos vorgegeben, für die Überlieferung einzelner Details konnte das gebräuchliche und starre Versmaß sorgen. Latacz: „Konserviert in der Hexameter-Dichtung hielten sich Erinnerungssplitter fast 500 Jahre bis in die Zeit Homers.“