Homöopathie: „Ich begreife es nicht“

Homöopathie: „Auch ich begreife es nicht …“

Samuel Hahnemann erfand sie vor 210 Jahren

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Die medizinische Welt, in die Samuel Hahnemann am 10. April 1755 hineingeboren wurde, war nicht gerade ein Hort der Wissenschaften. Die Therapien beschränkten sich zum Großteil auf Aderlass, Klistier und die Verabreichung von Brech- und Abführmitteln. Die Ärzte besaßen weder Stethoskop noch Thermometer, anstatt Fieber zu messen, zählten sie lieber den Pulsschlag. Wer das Pech hatte, krank zu werden, dem standen wahre Rosskuren bevor – mit fürchterlichen Qualen, die ebenso oft Folge der Krankheit wie der Therapien waren. Und so wundert es nicht, dass eine medizinische Denkschule im ausgehenden 18. Jahrhundert als „therapeutischer Nihilismus“ bekannt wurde. Die Vertreter dieser in Wien entstandenen Lehre verweigerten selbstkritisch sämtliche Therapien und verließen sich ganz auf die Selbstheilungskräfte ihrer Patienten. Der oft verblüffende Erfolg des Nichteingreifens motivierte diese Ärzte.

Samuel Hahnemann wurde in eine Künstlerfamilie geboren. Großvater, Vater und auch Onkel waren als angestellte Kunstmaler für die berühmte Porzellanmanufaktur im sächsischen Meißen tätig. Bei der Erziehung des begabten Kindes ließ sich Hahnemanns Vater stark von den Ideen Jean-Jacques Rousseaus leiten, der die Freiheit als oberstes Erziehungsmittel propagierte und Acht gab, „dass man einem Kind nicht allzu früh beibringt, was Vernunft ist“.

Der junge Hahnemann entwickelte ein außergewöhnliches Fremdsprachentalent, hielt Vorträge in geschliffenem Latein und Französisch. Während des Medizinstudiums verdiente er Geld als Übersetzer von Fachtexten aus dem Englischen. Diese Tätigkeit blieb ihm über Jahrzehnte eine wichtige Einkommensquelle und hatte zur Folge, dass Hahnemann über ein unglaubliches Wissen aktueller Medizinliteratur verfügte. 1777 wechselte der Student enttäuscht von der ihm allzu theoretisch erscheinenden Medizinausbildung an der Universität Leipzig nach Wien, wo er in Joseph von Quarin, dem Leibarzt Maria Theresias, endlich einen Lehrer nach seinem Geschmack fand. Er sprach von ihm später als dem „großen praktischen Genie, dem ich alles verdanke, was an mir Arzt genannt werden kann“.

Mit 24 Jahren reichte Hahnemann in Erlangen seine Dissertation ein und war daraufhin berechtigt, als Arzt zu praktizieren. Er heiratete eine 17-jährige Apothekertochter, wurde elffacher Vater und entwickelte einen rastlosen Wandertrieb: In den 25 Jahren von 1780 bis 1805 übersiedelte die Familie insgesamt 19-mal kreuz und quer durch Deutschland. Entweder weil nicht genug Patienten in seine Praxis kamen, weil Hahnemann von den ansässigen Ärzten angefeindet wurde oder die Apotheker dagegen Sturm liefen, dass er darauf bestand, seine Arzneimittel selbst herzustellen. Einmal wurde ihm auch ein Patient zum Verhängnis: Hahnemann behandelte Feldmarschall Karl Philipp Schwarzenberg, der als siegreicher Feldherr der Völkerschlacht von Leipzig damals als berühmtester Politiker Europas galt. Als der bereits schwer kranke Habsburger kurz darauf starb, geriet Hahnemann enorm unter Druck, und es galt einmal mehr die Koffer zu packen.

Als Geburtsstunde der Homöopathie gilt Hahnemanns Selbstversuch mit Chinarinde, die als Medikament gegen Wechselfieber (Malaria) eingesetzt wurde. In den damaligen Lehrbüchern wurde die heilsame Wirkung der Chinarinde damit erklärt, dass sie „den Magen stärkt“. Hahnemann gab sich damit nicht zufrieden. Er nahm die Chinarinde selbst ein und bemerkte an sich daraufhin ebenfalls die Symptome des Wechselfiebers. Das brachte ihn im Jahr 1795 auf die Spur des „Ähnlichkeitsgesetzes“, das zum Leitsatz der Homöopathie werden sollte: „Similia similibus curentur: Ähnliches soll mit Ähnlichem behandelt werden“. Der berühmte Chinarinden-Versuch wurde später oft wiederholt. Kurioserweise reagierte dabei kaum jemand so wie Hahnemann mit Fieber. Erst jüngere Forschungen haben nachgewiesen, dass es tatsächlich so etwas wie Chininfieber gibt. Allerdings ist diese Reaktion sehr selten: Hahnemann dürfte auf die Substanz allergisch reagiert haben.

Für Hahnemann galt die Grundregel seiner Lehre hingegen als gesichert, und er baute seine „neue Heilkunst“ Schritt für Schritt aus. In der Folge begann er mit Verdünnungen seiner Arzneien zu experimentieren und kam dabei rasch in immer luftigere Höhen. Je stärker verdünnt ein Arzneimittel wird, so seine These, desto potenter wirkt das Mittel bei den Kranken. Bereits 1801 ist in seinen Krankenjournalen von einer millionenfachen Verdünnung – der heute gebräuchlichen C3-Potenz – die Rede. Vereinzelt wandte er aber auch billion- (C6) und trillionfache (C9) Verdünnungen an und erreichte schließlich die C30-Stufe, wo nach den Gesetzen der Physik kein Molekül der Ausgangssubstanz mehr in der Verdünnung vorhanden sein kann. Dass er damit sogar die Vorstellungskraft seiner Anhänger sprengte, war ihm wohl bewusst: „Ich fordere gar keinen Glauben dafür und verlange nicht, dass dies jemandem begreiflich sei“, schrieb er ihnen und fügte in entwaffnender Offenheit an: „Auch ich begreife es nicht; genug aber, die Tatsache ist so und nicht anders. Bloß die Erfahrung sagt’s, welcher ich mehr glaube als meiner Einsicht.“

Die so genannten Hochpotenzen waren nicht das einzige Phänomen, mit dem Hahnemann die Treue seiner Anhängerschaft prüfte. Er verlangte die strikte Entscheidung für seinen Weg und das Brechen mit der alten Schule. Auch durften Heilmittel nicht gemischt werden. Jeder Patient sollte nach sorgfältiger Anamnese bloß ein einziges Mittel erhalten, das exakt auf sein Leiden und auch auf den individuellen Typ abgestimmt ist. Ein Dogma, das heute noch von der klassischen Homöopathie hochgehalten wird. Komplexmittel, wie sie in den Apotheken abgegeben werden, sind demnach ein Bruch mit Hahnemanns Lehre.

Hahnemann selbst bekam seine Medizin gut. Mit 80 Jahren heiratete er ein zweites Mal und rühmte sich seiner nahezu ungetrübten Zeugungskraft. Er übersiedelte mit seiner um 45 Jahre jüngeren Ehefrau nach Paris, wo er noch acht Jahre lang als berühmter Arzt eine florierende Praxis führte.