„Bouquet an weicher Evidenz, die es zu ­erhärten gilt“

Hormonforscher Harald Dobnig: „Bouquet an weicher Evidenz, die es zu ­erhärten gilt“

Hype. Der Grazer Hormonforscher Harald Dobnig über Vitamin-D-Studien

Drucken

Schriftgröße

Interview: Robert Buchacher

profil: Ist der Hype um Vitamin D berechtigt?
Dobnig: Allein im Vorjahr gab es dazu weltweit mehr als 2000 Studien. Das wissenschaftliche Interesse wäre nicht so breit, wenn die vermuteten Zusammenhänge physiologisch nicht so plausibel wären.

profil: Aber harte Beweise für die Wirksamkeit von Vitamin D gibt es nicht?
Dobnig: Von den rund 2000 Studien können Sie wahrscheinlich mehr als 90 Prozent eliminieren, weil sie nur Beobachtungen, aber keine Langzeit-Wirkungsstudien darstellen.

profil: Gibt es solche Langzeitstudien überhaupt?
Dobnig: Ja, es gibt einige. Ich war skeptisch, bis wir vor Jahren selbst begannen, Vitamin-D-Studien durchzuführen. In einer ersten Beobachtung testeten wir anderthalb Jahre lang in 95 Altenheimen der Steiermark und in den angrenzenden Regionen der Nachbarbundesländer die Beinmuskelkraft von etwa 1200 Bewohnern. 85 Prozent der Probanden zeigten dabei katastrophal niedrige Vitamin-D-Spiegel. Die Muskelkraft und das Ausmaß des Knochenabbaus zeigten dabei ­einen eindeutigen Zusammenhang mit dem ­Vitamin-D-Wert im Blut. Das führte zu einer zweiten größeren Studie mit Senioren über 70, die einen niedrigen Vitamin-D-Spiegel hatten. Es ging darum, Effekte auf das Sturzrisiko zu untersuchen.

profil: Den Vitamin-D-Spiegel haben Sie dann künstlich erhöht?
Dobnig: Ja, es war eine so genannte Kalzium-kontrollierte Vergleichsstudie. Das heißt, beide Gruppen erhielten ausreichend Kalzium, eine Gruppe zusätzlich eine relativ niedrige Dosis von 800 Internationalen Einheiten Vitamin D, normalerweise würde man heute 1000 bis 1500 verabreichen. Die Vitamin-D-Gruppe zeigte nach etwa einem Dreivierteljahr zunehmend verbesserte Leistungen der Beinmuskulatur. Die Zahl der Stürze ging nach einem Jahr um 27, nach anderthalb Jahren um 39 Prozent zurück. In der mit Vitamin D behandelten Gruppe traten auch numerisch weniger Brüche auf, und das alles bei verschwindend geringen Behandlungskosten.

profil: Warum zeigten sich die Erfolge erst relativ spät?
Dobnig: Alles, was wie der Vitamin-D-Mangel über Jahre auf den Körper einwirkt, lässt sich nicht über Nacht kurieren. Manche Effekte benötigen einfach Zeit, um sich in klinisch harten Endpunkten zu manifestieren.

profil: In welchen Bereichen gibt es Wirksamkeitsbeweise für Vitamin-D-Gaben?
Dobnig: Es gibt nur wenige fundierte Untersuchungen betreffend Sturzrisiko, Knochenbrüche, Blutdruck, Immunabwehr, Diabetes, multiple Sklerose oder Krebsentstehung, teils mit positiven, teils mit negativen Ergebnissen. Die meisten dieser bisherigen Studien kann man kritisieren, denn ein wesentliches Kriterium für eine aussagekräftige Arbeit ist wohl ein nachgewiesener Vitaminmangel zu Studienbeginn, ein ausreichend hoher erzielter Vitamin-D-Spiegel und eine lange Studienlaufzeit.

profil: Wie lange sollte so eine Studie laufen?
Dobnig: Vermutlich müsste man die Probanden schon ab jungen Jahren prospektiv verfolgen, aber so eine Studie ist einfach nicht zu bezahlen.

profil: An der Meduni Graz gab es auch eine Studie über Vitamin D und Intensivpatienten?
Dobnig: Die von uns initiierte Vergleichsstudie mit 490 behandelten Patienten wurde im vergangenen Spätherbst abgeschlossen. Es soll getestet werden, ob ein rascher Ausgleich eines Vitamin-D-Mangels die Aufenthaltsdauer auf Intensivstationen verkürzt. Dabei sollen Effekte auf das Immunsystem, den Kalziumstoffwechsel, das Herz-Kreislauf-System und die Beeinflussung der Muskulatur eine Vermittlerrolle spielen. Das Ergebnis, das in den nächsten Tagen vorliegen soll, wird auch international mit Spannung erwartet, weil es bisher zwar viele Hinweise, aber noch keinen wissenschaftlichen Beweis in diese Richtung gibt.

profil: Insgesamt also noch wenig ­Evidenz für die Wirksamkeit von Vitamin D?
Dobnig: So würde ich das nicht sagen. Es gibt einfach zu viele epidemiologische Hinweise, Daten aus Tierversuchen und der Zellkultur, die mannigfache Wirkungen vermuten lassen. Vitamin D beeinflusst die Aktivität von mehr als 200 Genen in unserem Körper. So kann Vitamin D etwa für jede Art von Muskulatur eine Rolle spielen – von den Muskelfasern in den Blutgefäßen über die Bronchialmuskulatur bis zu Gebärmutter und Wehentätigkeit. Es gibt weiters starke Hinweise darauf, dass Vitamin D für das Immunsystem und die Schwangerschaft wichtig ist, für die Regulation der Zellteilung und damit für das Krebsrisiko. Sehr wahrscheinlich sind auch antientzündliche Effekte, die bei multipler Sklerose eine Rolle spielen. Es gibt in Summe aus heutiger Sicht ein fülliges Bouquet an weicher Evidenz, die es durch rigorose Interventionsstudien zu erhärten gilt.