Iberische Geister

Iberische Geister: WM-Titel löst Spaniens Krise nicht, erzeugt aber Optimismus

Spanien. Der WM-Sieg löst die wirtschaftliche Krise nicht. Aber Optimismus macht sich breit.

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Von Manuel Meyer, Madrid, und Gunther Müller

Es ist ein schwüler Mittwochabend in der Hauptstadt Madrid, drei Tage nach dem großen Sieg in Süd­afrika. Ministerpräsident José Luis Zapatero hat gerade seine Rede zur Lage der Nation gehalten. Es ging um die soeben beschlossene Arbeitsmarktreform, die das Leben der Spanier von Grund auf ändern wird. Vereinfacht gesagt, bedeutet die Reform nämlich Folgendes: zwei Jahre länger arbeiten, gekürzte Beamtengehälter, 13.000 gestrichene Stellen im öffentlichen Dienst, Nulllohnrunde für Pensionisten und einen gelockerten Kündigungsschutz für Arbeitnehmer.
Zapatero wirkte müde und ausgelaugt, und das lag nicht so sehr an seiner Feier mit der siegreichen spanischen Nationalelf in Madrid zwei Tage zuvor. Der sanfte Mann, den sie einst „Bambi“ und „Europas letzte Hoffnung der Sozialdemokratie“ nannten, gilt heute allgemein als „Schlächter der Arbeiterklasse“ und „Spaniens Antwort auf Thatcher“. Zweimal forderte ihn die konservative Opposition der Partido Popular vergangene Woche zum Rücktritt auf, der Druck wächst täglich.
Noch steht Zapateros sozialistische Partei PSOE in der Öffentlichkeit geschlossen hinter ihrem Premier. Im Hintergrund sollen aber bereits mehrere Minister gegen seinen Kurs rebellieren – und das aus gutem Grund. Die Zustimmungsraten Zapateros sind derzeit schlechter als die von Angela Merkel und Nicolas Sarkozy, mehr als drei Viertel der Spanier haben kein Vertrauen mehr in seine Arbeit.
So wie Miguel Gil, ein 49-jähriger Barbesitzer aus Madrid. „Diese Regierung ist die Wirtschaftskrise viel zu spät angegangen, hätte der Premier früher reagiert, ständen wir jetzt vielleicht nicht so schlecht da.“ Miguel hat seine Kneipe im Stadtteil Ciudad Lineal, einem linken Arbeiterbezirk mit Siebziger-Jahre-Plattenbauten, kaputten Straßen und Graffiti an den Mau­-ern. Zwei größere Firmen in der Nähe seiner Bar haben heuer bereits zugemacht, zur Mittagszeit fehlen daher die Stammkunden, abends kommen auch immer weniger Leute, weil sie sich ohne Job kein Bier leisten können. „Ich weiß im Moment nicht, ob ich meine Familie in den nächsten Jahren ernähren kann“, sagt Gil und blickt sich sorgenvoll um. Gerade einmal vier Gäste sind heute in seine Bar gekommen. „In der WM-Zeit war alles wunderbar, ich habe gut verdient. Aber jetzt geht es so weiter wie schon seit zwei Jahren“, klagt der bullige Mann mit dem schütteren Haar, zapft ein Bier und wischt sich den Schweiß von der Stirn. „Als das Tor gegen Holland fiel, war ich fast traurig, weil ich wusste, dass jetzt wieder die Normalität beginnt.“

Geplatzte Blase. Und Normalität bedeutet in Spanien anno 2010 zunächst einmal: Krise. Das Land steht bei seinen Gläubigern im In- und Ausland mit mittlerweile knapp mehr als 550 Milliarden Euro in der Kreide. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt, sind Spaniens Staatsschulden von 40 Prozent 2008 auf 53 Prozent 2009 gestiegen, für heuer werden 66 Prozent erwartet. Damit liegt Spanien aktuell zwar noch deutlich hinter Griechenland (125 Prozent), Italien (117 Prozent) oder auch Portugal (85 Prozent). Dennoch reagieren internationale Investoren zunehmend nervös. Unter den genannten Ländern – sie werden längst unter dem mäßig schmeichelhaften Akronym „PIGS“ sub­sumiert – hat Spanien traditionell die mit Abstand höchste Arbeitslosenrate. Sie lag zuletzt bei 20 Prozent, unter den Jungen finden sogar fast 40 Prozent keinen Job. Seit die Immobilienblase vor zwei Jahren geplatzt ist und Häuser und Wohnungen rasant an Wert verloren haben, kämpfen auch die Eigenheimbesitzer um ihre Existenz: Rund sechs bis acht Millionen Spanier haben sich für einen Immobilienkauf verschuldet und können ihre Hypotheken nun nicht mehr zurückzahlen.

Anpacken, durchbeißen, den Schwung des WM-Triumphs mitnehmen, lautet die Devise, die den Spaniern dieser Tage gebetsmühlenartig von den Medien vorgetragen wird. „Die Heldentat der Nationalmannschaft kommt gerade zur rechten Stunde“, frohlockt „El Mundo“. „Die spanische Nationalelf fungiert immer mehr als politischer und gesellschaftlicher Friedensstifter“, schwärmt der berühmte Sportkommentator José Sámano von der Tageszeitung „El País“. Industrieminister Miguel Sebastián hatte bereits vor dem Finalsieg orakelt, wenn Spanien das Finale gewinne, müssten die Schätzungen für das Bruttoinlandsprodukt korrigiert werden. Ökonomen der ABN Amro Bank haben nun errechnet, dass der Triumph in Johannesburg tatsächlich dazu beitragen könnte, das BIP um 0,25 Prozentpunkte zu steigern – für 2010 war zuletzt ein Schrumpfen der Wirtschaft um 0,4 Prozent prophezeit worden. Selbst unter Einrechnung eines allfälligen WM-Bonus käme Spaniens Konjunktur also vorerst nicht vom Fleck.

Langfristig dürfe man sich davon ohnehin nicht zu viel erwarten, meint etwa der Madrider Wirtschaftsanalyst Jorge Lage: „Wenn es einen Auftrieb gibt, dann ist der wohl sehr kurzfristig.“ Ein paar Tage werde die Euphorie reichen, weiter nicht, glauben auch andere Experten. Danach müsse das Land sich wieder seinen Problemen stellen. Und da geht es nicht nur um Staatsschulden und leer stehende Wohnungen.

Spaniens Jugend ist viel schlechter ausgebildet als in anderen europäischen Ländern. In der PISA-Studie von 2006 lagen die Schüler weit unter dem OECD-Durchschnitt, seither hat sich nicht viel verändert. 30 Prozent der Schüler brechen derzeit die Schule ab, das sind doppelt so viele wie im EU-Durchschnitt. Und wer sich dennoch für Matura und Uni-Abschluss entscheidet, hat kaum Chancen, einen gut bezahlten Job zu finden.
Gisella Basurto, die an diesem Donnerstag im Madrider Szene- und Schwulenviertel Chueca im Zentrum Madrids mit ein paar Freunden ausgeht, ist so ein Fall. Die 29-Jährige hat Englisch in Madrid studiert, danach in London einen Master in englischer Philologie gemacht. Drei Jahre lang lebte sie auf der Insel, um im Anschluss für zwei weitere Jahre ihre Ausbildung zur Französisch-Übersetzerin in Frankreich zu machen. „Doch selbst mit diesen Qualifikationen bekomme ich derzeit in Spanien keinen vernünftigen Job. Es gibt einfach nichts, oder es ist zu schlecht bezahlt“, klagt die zierliche Frau.

Aus diesem Grund ist Basurto wieder zu ihren Eltern in die Madrider Vorstadt Rivas gezogen. Auch ihr 25-jähriger Bruder Alfonso wohnt noch zu Hause. Die Geschwister gehören einer Generation an, die Soziologen als „generación ni-ni“ bezeichnen, als „Weder-noch-Generation“. Das sind junge Spanier, die weder studieren noch einen Job haben und zumeist noch bei den Eltern wohnen. Fast die Hälfte aller 18- bis 34-jährigen Spanier zählt sich mittlerweile zu den „ni-nis“.

Weder noch – diese Worte waren bis vor Kurzem undenkbar in einem Boom-Staat wie Spanien. Es galt als das coolste Land Europas, ein Land, in dem Schwule heiraten dürfen und die Kirche aus der Politik zurückgedrängt wurde; ein Land mit den besten Tennisspielern (Rafael Nadal),
den schönsten Schauspielern (Penelope Cruz) und brillantesten Regisseuren (Pedro Almodóvar); es war außerdem das Land mit den billigsten Krediten und einem jähr­-lichen Haushaltsüberschuss. Spanien, das einstige Armenhaus Europas, wurde zur viertgrößten Volkswirtschaft der Eurozone.
Dann kam die große Krise – und plötzlich verlor das Land seine Leichtigkeit.
Da kommt der lang ersehnte WM-Titel gerade zur rechten Zeit.

Einheitsgefühl. Von dieser neuen Stimmung versucht nun auch Premierminister Zapatero zu profitieren und appelliert an den iberischen Geist und das Einheitsgefühl der Spanier. „Diese Mannschaft kennt keine politischen Ideologien. Jeder einzelne Spieler der Nationalelf ist uns dafür ans Herz gewachsen“, sagte er vergangene ­Woche. Das war ein Appell an die Basken und Katalanen, die dieser Tage wieder auf ihre Unabhängigkeit drängen. In Barcelona demonstrierten Samstag vorvergangener Woche mehr als eine Million Menschen für die Unabhängigkeit der Region. Der Anlass: ein Verfassungsgerichtsurteil, in dem einige Punkte im katalanischen Autonomiestatut für unwirksam erklärt worden waren – unter anderem der Passus über den Vorrang der katalanischen Sprache und die Bezeichnung des katalanischen Volks als „Nation“.
Es ist zehn Uhr abends, mittlerweile ist Miguels Bar wieder richtig voll geworden. Eine Gruppe Jugendlicher ist gekommen und will noch einmal auf den WM-Sieg der Nationalkicker anstoßen. Im staatlichen Fernsehen TVE zeigen sie jetzt nicht Zapatero, sondern noch einmal das Goldtor von Andrés Iniesta und die anschließende Siegesfeier der Mannschaft. Miguel beginnt zu lächeln: „Herrlich ist das, finden Sie nicht? Unsere Jungs sind einfach himmlisch. Unser Land wird wieder aufsteigen, kein Zweifel.“