„Ich habe Angst vor Irrlichtern“

Interview. Der Mathematiker Rudolf Taschner über Rechtspopulismus und den Reiz von Primzahlen

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Interview: Herbert Lackner

profil: Herr Professor, in welchen Fächern hatten Sie in der Schule Zweier?
Taschner: Im Maturazeugnis in Englisch, Latein und Dar­stellender Geometrie. Darstellende Geometrie war ein Freifach. Der Professor hat mit mir einen Handel gemacht: Wenn ich nicht antrete bei ihm, gibt er mir einen Zweier, und die Sache ist ­erledigt.

profil: Mochten Sie das Fach nicht?
Taschner: Ich mag es heute sehr. Ich liebe es.

profil: Sie waren sicher der Klassenbeste.
Taschner: Nein, ich war immer der Zweitbeste. Ich war auch nicht so ehrgeizig, dass ich der Beste sein wollte.

profil: Wie sehr ist Ihre Hochbegabung vom Umstand beeinflusst worden, dass Sie Ihre Eltern schon mit neun bzw. zehn Jahren verloren haben?
Taschner: Schon etwas, weil die Schule meine Heimat geworden ist. Ich bin ein spät geborenes Kind, meine Mutter war 40, mein Vater 42, als ich auf die Welt gekommen bin. Nachdem mein ­Vater tödlich verunglückt ist, hat ein Bekannter zu meiner Mutter ­gesagt: Der Bub soll ins Theresianum gehen. Sie war damals schon krank und hat mich ins Vollinternat eingeschrieben. Sie ist ­gestorben, als ich in der ersten Klasse war. Und so bin ich im ­Theresianum aufgewachsen. Gewisse Erfahrungen haben mir ­gefehlt, aber intellektuell war es schon sehr gut.

profil: Mathematisch begabte Menschen neigen mitunter zur Schrulligkeit. Haben Sie das bei sich selbst auch diagnostiziert?
Taschner: Ganz einfach bin ich sicher nicht. Aber es ist schon eine Leistung, wenn man weiß, dass man schrullig ist.

profil: Es gibt Leute, die die Zahl π bis auf 1000 Kommastellen runtersagen können …
Taschner: Nein, so viele nicht. Aber es gibt einen „Klub der Freunde von π“, die müssen 100 Kommastellen können. Da bin ich nicht dabei, ich kann 30 oder 35. So wie andere Bierdeckel sammeln, sammle ich die ersten 30 Kommastellen von π. Das ist ein Zeichen von Schrulligkeit.

profil: Sie scheinen Fan der Primzahlen zu sein. Zitat Taschner: „Sogar Berge zerbröseln irgendwann, die Primzahlen werden ­immer gleich sein.“
Taschner: Ja, sie haben Ewigkeitscharakter!

profil: Es gibt in Ihrer Zunft einen Wettlauf um die größte Primzahl.
Taschner: Das ist mehr die Zunft derer, die einen Computer gut programmieren können. Auch das ist eine Schrulligkeit. Man weiß ja, dass es unendlich viele Primzahlen gibt, es ist also relativ ­uninteressant, eine riesengroße zu kennen, weil die in Wirklichkeit auch noch klein ist.

profil: Wie viele Stellen hat die größte?
Taschner: Rund dreizehn Millionen Stellen.

profil: Ist das nicht völlig sinnlos?
Taschner: Völlig sinnlos. Aber relativ große Primzahlen mit 500 oder 600 Stellen sind wichtig: Wenn man die miteinander multipliziert, kann man verschlüsseln. Der Briefbomber Fuchs hat zum Beispiel zwei Primzahlen miteinander multipliziert und ­einen Verschlüsselungscode gefunden. Aber die beiden Primzahlen, die er miteinander multipliziert hat, waren etwa gleich groß, und so konnte man den Code relativ schnell knacken.

profil: Sind Sie eigentlich ein Atomkraftgegner?
Taschner: Atomkraft als solche kann man nicht mehr wegbringen, sie ist da. Wie gehen wir also damit um? Nach Fukushima sagt man: Wir wollen sie verbannen. Aber man hätte nach dem Unglück auch sagen können: Das waren noch alte Reaktoren, und die Firma war nicht gerade am letzten Stand der Technik – das müssen wir einfach besser machen.

profil: Wären Sie dafür, dass in Österreich ein modernes Atomkraftwerk gebaut wird?
Taschner: In der Schweiz tuckern die schon lange, da passiert gar nichts.

profil: Jetzt sind Sie meiner Frage elegant ausgewichen.
Taschner: Ich entscheide das nicht, aber ich bin kein dezidierter Atomkraftgegner. Atomkraft erzeugt jedenfalls kein CO2.

profil: Mathematiker und Physiker sind ja sehr fortschrittsgläubig. Und Sie sind beides …
Taschner: Ich glaube einfach, dass Skepsis dem Fortschritt gegenüber ein bisschen mehr begründet gehört, als dass man nur sagt: Mein Gefühl spricht dagegen. Das ist zu wenig.

profil: Also Begründung: Wohin wollen Sie mit dem Atommüll?
Taschner: Ich würde sagen, es ist so genannter Atommüll. Vielleicht kann man ja aus dem Zeug etwas Sinnvolles machen. Vor Atommüll fürchte ich mich nicht, wenn er gut gelagert ist.

profil: Sie haben auch sicher nicht das Gentechnik-Volksbegehren unterschrieben. Oder?
Taschner: Nein, habe ich nicht unterschrieben. Es ist ja sehr interessant: Die Leute sind für die rote Gentechnik, aber gegen die grüne Gentechnik.

profil: Rote Gentechnik?
Taschner: Gentechnik im medizinischen Bereich. Da sagt man: Ja, das sollte erforscht werden. Aber im grünen Bereich, der Landwirtschaft, da ist man dagegen. Das ist die gespaltene Persönlichkeit des österreichischen Souveräns.

profil: Wieso sind die Österreicher so skeptisch, was den naturwissenschaftlichen Fortschritt betrifft?
Taschner: Der Österreicher ist ein ­religiöser Mensch, er sucht sich nach der Krise der Kirche eine ­Ersatzreligion. Das Credo lautet: In der Natur ist alles gut. Ich gehe in den Wald und suche dort Gott. Ich suche das Gute in der Natur. Das ist sehr österreichisch, aber das ist nicht Meines. Daran glaube ich nicht.

profil: In der Mathematik spielt der Begriff der Unendlichkeit eine große Rolle. Schreckt Sie der nicht?
Taschner: Das Unendliche selbst ist unfassbar, es ist ein Grenzbegriff. Das menschliche Denken ist dem Unendlichen gegenüber nicht angepasst. Aber der ­Begriff schreckt mich nicht. Unendlichkeit ist die Her­ausforderung der Mathematik. Einstein hat übrigens gesagt: „Es gibt vielleicht nur zwei unendliche Dinge: das Universum und die menschliche Dummheit. Beim Universum bin ich mir nicht sicher.“

profil: Hat bei den Zahlen, mit denen Sie operieren, zwischendurch schon einmal der liebe Gott herausgelugt?
Taschner: Das Unendliche ist ja auch eine Art göttliche Eigenschaft. Gott selbst ist ebenfalls undenkbar. Also: Der liebe Gott lugt hervor, aber man berührt nur seinen Saum, mehr ist nicht drinnen.

profil: Würden Sie sich als gläubigen Menschen bezeichnen?
Taschner: Katholisch ist für mich ein bisschen zu schwer. Der katholische Glaube hat gewisse Ansprüche, denen ich nicht ganz folgen kann. Das Holz des Kreuzes zu verehren, die Erbsünde – solche Dinge kann ich nicht begreifen. Aber ungläubig bin ich nicht.

profil: Auf ein Leben nach dem Tod hoffen Sie?
Taschner: Der Tod ist nicht so, dass man irgendwo verscharrt ist und die Würmer kommen. Wenn man stirbt, stirbt eine ganze Welt. Alles. Man stirbt nicht nur selbst, sondern alles stirbt. Was übrig bleibt, ist logisch nicht mehr fassbar. Das ist dann eine Glaubensfrage.

profil: Beim ersten Opernball, den Alfred Gusenbauer als Bundeskanzler bestritten hat, hat er Sie und Ihre Frau als Ehrengäste in seine Loge geladen. Wieso?
Taschner: Er hatte ein Buch von mir gelesen. Wir sind in ein Lokal gekommen, in dem er gerade gesessen ist, er hat mich angeschaut und gesagt: „Musil, Gödel, Wittgenstein und das Unendliche.“ Wir haben dann einige Wochen später einen Anruf und eine Einladung zum Opernball bekommen und gedacht, das muss ein Fake sein. Darum haben wir zurückgerufen. Aber es war echt.

profil: Viele haben gesagt: „Gusenbauer war für das Amt zu g’scheit.“ Kann man zu gescheit für die Politik sein?
Taschner: Kreisky war ja auch sehr intelligent. Er hatte in seinem Zimmer einen Horaz-Spruch hängen: „Den Gleichmut – wahr’ ihn im Ungemach. Wahr’ ihn desgleichen, lacht dir hold das Glück.“ Gleichmut wäre auch für Gusenbauer sehr wichtig gewesen. Wenn man noch mit dem Siegesschrei auf den Lippen in Koalitionsverhandlungen geht, werden die anderen keine guten Freunde werden. Das hat sich ja auch gezeigt.

profil: Sie haben ein Buch über Gerechtigkeit mit der Grundaussage geschrieben: Gerechtigkeit gibt es nicht, man kann sich ihr nur annähern wie die Asymptote einer Hyperbel. Ist das nicht ernüchternd?
Taschner: Gerechtigkeit ist ein Sehnsuchtsort oder ein Kampfbegriff derer, die sich ungerecht behandelt fühlen.

profil: Der gegenwärtige Bundeskanzler Werner Faymann verwendet den Begriff sehr häufig.
Taschner: Er war sozusagen der Anlass dafür, dass ich das Buch geschrieben habe. „Zeit für Gerechtigkeit“ stand auf seinen Plakaten, das ist ein guter Trick.

profil: Ein Trick?
Taschner: Wir Mathematiker verwenden auch oft Tricks. Tricks sind nichts Schlechtes. Sie machen auf etwas aufmerksam. Das Problem ist, dass die Leute fragen könnten: Wo ist jetzt die Gerechtigkeit, die du uns versprochen hast?

profil: Was wird Faymann darauf antworten?
Taschner: Er wird sagen: Wir sind auf einem guten Weg. Das wird auch immer so bleiben. Wir werden immer auf einem guten Weg bleiben.

profil: Eben asymptotisch.
Taschner: Ja. Ich würde ihm raten: Sagen Sie den Leuten, wir sind auf dem Weg dorthin. Jeder Weg, auch wenn er kilometerlang ist, beginnt mit ein paar kleinen Schritten.

profil: … und wir werden das Ziel nie erreichen. Sollte er das auch dazusagen?
Taschner: Ganz werden wir dieses Ziel nie erreichen, das sollte er auch dazusagen. Es gibt keine Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeit entsteht dadurch, dass wir sie suchen.

profil: Halten Sie Faymann für einen guten Bundeskanzler?
Taschner: Ich glaube, dass er immer besser weiß, in welcher Verantwortung er jetzt steht. Und die Verantwortung wird ja auch immer größer. Ich glaube, dass er eine bessere Figur macht als mancher seiner Vorgänger.

profil: Warum ist in Österreich der Rechtspopulismus so stark wie in kaum einem anderen Land?
Taschner: Der Rechtspopulismus, den wir haben, ist in Wahrheit kein eingewurzelter, sondern ein irrlichterndes Wesen, das versucht, irgendwie der Stimme des Volkes zu lauschen und gewisse Tendenzen herauszuhören. Strache geht sogar nach Israel, um den dortigen Populisten schönzutun – das sind alles Irrlichter. Davor habe ich Angst. Vor Irrlichtern in der Politik muss man Angst haben.

profil: Gibt es in der Mathematik noch große Rätsel, deren Lösung die Welt verändern könnte?
Taschner: Ein aktuelles scheint soeben gelöst: Nehmen Sie irgendeine Zahl. Wenn sie gerade ist, halbieren Sie sie. Wenn sie ungerade ist, multiplizieren Sie sie mit drei, und geben Sie eins dazu. Und dann machen Sie das mit dem, was Sie herausbekommen haben, wieder und wieder und wieder. Ich fange an mit eins – ungerade. Also 3 plus 1 ist 4, halbiert ist 2, halbiert ist wieder 1 – dann bin ich im Zirkel drinnen, 1, 4, 2, 1. Wenn ich mit 5 anfange: verdreifachen, 1 dazu ergibt 16, das kann man halbieren, halbieren, halbieren und halbieren – dann bin ich wieder bei 1. Die Frage ist, ob man bei jeder Zahl zu 1 kommt. Vor ein paar Wochen hat ein Mathematiker behauptet, dies stimme. Aber seine Lösung dürfte falsch sein.

profil: Wie?
Taschner: Das Problem ist noch offen und sehr schwer zu behandeln. Es ist natürlich völlig sinnlos, aber es ist ärgerlich, dass wir es nicht lösen können.

profil: Ist das nicht wissenschaftliche Masturbation?
Taschner: Ja, Hirnwichserei. Es gibt aber Probleme mit mehr Relevanz, Strömungslehre zum Beispiel: Fließt Wasser aus einer Wasserleitung, entstehen Wirbel. Wie entwickeln sich diese Wirbel? Das ist eines der sieben mathematischen Probleme, durch deren Lösung man eine Million Dollar gewinnen kann. Eines ist vor Kurzem gelöst werden, die Poincaré-Vermutung. Dem russischen Mathematiker Grigori Perelman sollte die Million auch ausbezahlt werden, aber er hat sie abgelehnt.

profil: Mathematiker brauchen wohl kein Preisgeld, weil sie sich ja ein perfektes Lotto- oder Roulettesystem ausdenken können. Haben Sie das schon versucht?
Taschner: Der Mathematiker Blaise Pascal soll der Erfinder der Theorie gewesen sein, dass man beim Roulette nach verlorenem Spiel immer verdoppeln muss. Ganz langsam könnte man damit wirklich reich werden. Das wissen auch die Casinos, darum setzen sie ein Limit. Reich kann man nur werden, wenn man selbst ein Casino aufmacht.

profil: Spielen Sie?
Taschner: Ich kaufe mir alle heiligen Zeiten einen ­Lottoschein.

profil: Füllen Sie den nach eigenem System aus?
Taschner: Nein, ich kauf mir immer einen mit Quicktipp.

profil: Haben Sie schon einmal gewonnen?
Taschner: Am Anfang einmal einen Dreier, aber seither nichts mehr. Dummerweise habe ich gleich wieder gesetzt, dann habe ich natürlich alles verloren.

profil: Das ist die Gerechtigkeit.
Taschner: Nein, Glücksspiel ist die institutionalisierte Ungerechtigkeit. Wer gewinnt, gewinnt ja auf Kosten anderer. Und die anderen sind nicht einmal böse, dass er gewinnt – das ist doch unglaublich.