"Ich will oben bleiben. Ich will!"

"Ich will oben bleiben. Ich will!" - Die Gefängnistagebücher von Bruno Kreisky

Die Gefängnistagebücher von Bruno Kreisky

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Vor einem Jahr bekam die langjährige Kreisky-Sekretärin Margit Schmidt ein geheimnisvolles Päckchen zugestellt. Anonym. Darin steckten, in einem Heftumschlag aus grobfasrigem, grauem Papier, rund 50 handschriftlich beschriebene Blätter: das Gefängnistagebuch von Bruno Kreisky aus dem Jahr 1935. Bis dahin hatte das Kreisky-Archiv nur über unvollständige Kopien des Originals verfügt.

Bruno Kreisky war 24 Jahre alt und Funktionär der damals verbotenen Sozialistischen Arbeiterjugend, als er im Morgengrauen des 30. Jänner 1935 von der Staatspolizei aus dem Bett geholt und in das Polizeigefangenenhaus an der Rossauer Lände eingeliefert wurde. Sechs Monate später überführte man ihn ins Wiener Landesgericht. Die Anklage lautete auf Hochverrat. Nach einem halben Jahr in der Zelle, die er mit einem Kommunisten und einem Nazi teilte, begann Kreisky, ein Tagebuch zu führen. Es strukturierte den eintönigen Gefängnisalltag und disziplinierte die Gedanken, die um eine ungewisse Zukunft kreisten. Kreisky schrieb sich das Angstgefühl von der Seele und verfasste Gedichte, in denen er – unter anderem – die Verhöre, in denen er nach Namen von Genossen gefragt wurde, auf die Schaufel nahm. Seine größte Sorge war, man könnte draußen glauben, er würde sie verraten. Er las Unmengen von Büchern, auch politische Literatur, die das ungebildete Wachpersonal anstandslos durchgehen ließ. Er war bemüht, unter schwierigen hygienischen Bedingungen äußerlich nicht zu verwahrlosen und sich im fremden Kriminellenmilieu auf die Menschen einzulassen. Für den jungen Kreisky war die Haft eine „Charakterprobe“. Besonders bitter stieß ihm auf, dass ihn das Regime als Hochverräter betrachtete, während es sich zur selben Zeit jener Hilfsaktion für arbeitslose Jugendliche brüstete, die er einst gemeinsam mit katholischen Jugendgruppen initiiert hatte. Die Eintragungen beginnen am 27. Juni und enden am 21. August 1935. Von diesem Zeitpunkt an dürfte sich Kreisky auf die Verteidigungsrede seines Prozesses im März 1936 vorbereitet haben.

27. Juni 1935
Es ist in meiner kleinen Zelle jetzt schrecklich schwül. In den Nächten kann man fast nicht schlafen. Da liegt man auf dem Rücken, starrt durch das Gitter am Fenster in den Himmel und denkt an das, was man schlecht gemacht hat in seinem Leben, und es war sehr viel!, denkt, was wohl der und jener treiben mag. (…) Was werde ich nur anfangen, wenn ich wieder einmal draußen bin? Soll’s wirklich aus sein mit der Juristerei? Mit 25 Jahren wieder von vorne anfangen? Dann sehe ich mich in der Verhandlung, der Kämpfer erwacht in mir. Ich will und werde mutig sein – das weiß ich. Ich werde zu meinen Richtern treten und ihnen von meinem Leben erzählen, wie die herrliche Jugendbewegung zum Lebensinhalt für mich geworden ist, was sie aus mir gemacht hat. Ich werde mein politisches Bekenntnis ablegen. (…) Ich darf meiner Lebenshaltung nicht untreu werden. Das bin ich mir schuldig und vor allem aber all denen, die an mich glauben. Hat ein Schwimmer, wenn er Wasser in den Mund bekam, aufgehört zu schwimmen, nein, er wollte ja nicht untergehen, er wollte oben bleiben. Ich will oben bleiben! Ich will!

29. Juni 1935
Ich habe heute ein prächtiges Buch ausgelesen. Eine junge Amerikanerin, Tochter eines kleinen Farmers und späteren Bergarbeiters, kämpft sich zum Sozialismus durch. Ich will den Titel dieses Buches hier nicht nennen, denn es bestünde die Gefahr, dass es aus der Anstaltsbibliothek ausgeschieden wird. Dieses Buch ist neuerdings ein Beweis, dass in Österreich alles „gemildert“ ist durch Schlamperei. (…) Ein paar Sätze, sie stehen in dem Buche drinnen, will ich hier setzen; sie sind gut und tun wohl: „Wenn sie in unsere Bewegung eintreten, können sie nicht wie mit einem Abenteuer einige Monate spielen. Es ist eine Arbeit fürs ganze Leben und eine sehr gefährliche. Sie erfordert Wissen und die Fähigkeit, für ein Prinzip zu leiden – Dazu muss man es in seiner ganzen Bedeutung kennen: Es müsse im Herzen ein Glaube sein, so gläubig, dass er wieder aufersteht, sogar wenn er niedergeschlagen wird.“ (…) Noch etwas, einen Satz fand ich drinnen, den ihr ein Polizeikommissar gesagt hat. (…) „Wenn Sie uns alles sagen, sind Sie in zehn Minuten frei.“ Jawohl ich erinnere mich noch sehr gut daran – draußen schien die Sonne, es war ein wunderschöner Tag. Ich hatte Hunger, wollte rauchen, wollte mich wieder einmal kämmen. Wollte so viel – wollte wieder einmal ein Mensch sein! Man verlernt das so rasch – was die Äußerlichkeiten betrifft.

1. Juli 1935
Man begibt sich in eine Höhle, um den Ausgang besser zu finden, rollt einen Faden ab, der reißt plötzlich irgendwo. Man wird schon hinausfinden, denkt man nach dem ersten Schrecken, dann merkt man, dass die Höhle viele Gänge hat. Man findet doch nicht so bald hinaus, wie man dachte. So ähnlich war mir! Ich habe noch immer nicht ­hinausgefunden. (…)

4. Juli 1935
Die Not der arbeitslosen Jugend stieg immer mehr, die Zahl der ausgesteuerten jugendlichen Arbeitslosen wuchs täglich. Mit Bangen dachte man an den kommenden Winter. Für uns, die wir unter dieser Jugend in Not lebten, bedurfte es keiner umfangreichen Berichte über ihre Lage, wir kannten sie. Waren doch unter dieser Jugend in Not viele unserer besten Freunde. Die Kreisleitung der Wiener S.A.J. trat zusammen. (…) Ich schlug damals vor, unsere Heime ganztägig zu öffnen, Kurse zu veranstalten und Beschäftigungsgruppen zu bilden. (…) wenige Wochen später fanden wir uns im Sitzungssaal des Rathauses ein, um das Kuratorium zu bilden. Sozialisten und Katholiken beschlossen gemeinsam, der Jugend in Not zu helfen. (…) Wo sind heute die Schöpfer dieser „großen Aktion“? (…) Wir sind alle „Hochverräter“, weil wir angeblich die Tätigkeit der verbotenen S.A.J. weitergeführt haben. (…) dass die Jugend (…) das „edelste Gut eines Volkes“, nicht körperlich und moralisch zugrunde geht. (…) Die einen sind in der Emigration, die anderen im Kerker und die Dritten in der Vaterländischen Front. Dieses Schicksal hätten wir uns wohl damals nicht träumen lassen. Wir, die 25-Jährigen, wir haben also auch schon eine Vergangenheit, wir haben „unser Fronterlebnis“!

7. Juli 1935
Die aus wohl behüteter Bürgerlichkeit entspringende Scheu vor „Verbrechern“ ist durchaus unangebracht, wenn es auch oft arge Patrone unter ihnen gibt. Man muss es nur verstehen, die Menschen dazu zu bringen, ein wenig ihr Inneres nach Außen zu kehren. Das habe ich hier ein bisschen gelernt, und das ist doch sehr viel.

Heute am 14. Juli 1935 –
Rückschreitende Metamorphose (…)

Du stehst am Morgen auf wie sonst/
Es ist dir gar nicht sonntäglich zumute/ und schaust, ob du noch hinter Gittern wohnst/
und findest, alles liegt dir schon im Blute/
Manchmal da bleibst du stehen mitten in der Zelle/
und denkst: Ist doch ein Tag von deinem Leben/
So leicht willst du ihn von dir geben?/
Ein leichter Krampf umspannt den Mund vor Bitterkeit/
Das alles dauert nun schon eine Ewigkeit/
Wann wird’s wohl enden?
– ja richtig, heute darfst du schreiben. Die ganze Woche hast du daran gedacht – willst dem und jenem einmal ein paar Zeilen schicken – Doch wem zuerst? – Du kannst dich nicht entschließen und schreibst nach Haus: „… seid unbesorgt, mir geht es selbstverständlich gut“ (…)
Dein Stil ist kurz und sachlich heiter,
und wo es geht, da schreibst du usw./
Das spart dir Platz und das Gefühl/
Sie sollen nur um Himmels willen nicht merken, wie dir manchmal zumute ist.
Der Nachmittag ist hier ein langer Abend, und trotzdem kommt die Dunkelheit zu früh. Sie senkt wie Nebel sich in meine Zelle, man merkt sie kaum, doch plötzlich ist sie da. Irgendwo singt jemand leise. Man liegt am Rücken, träumt im Wachen, und ganz weit hört man ein paar Frauen lachen.
Alfred Adler: „Menschen, die bewusster leben,
leben im großen Raum.“

21. August 1935
Ich habe viel zu tun, wirklich viel zu tun. Von sechs Uhr Früh bis sechs Uhr abends lerne und lese ich (manchmal allerdings gibt es Tage, an denen man sich leer und ausgebrannt vorkommt, dann tut man nichts als herumliegen).

Lose Blätter, undatiert
Ich sitze hier im Grauen Haus
und denke mir mein Hirn heraus
ich rate hin und rate her
und weiß auch nachher nicht viel mehr
es tut mir ja so schrecklich leid
ich weiß bei allen nicht Bescheid
ein paar, die kommen nicht und nicht
aus der Erinnerung ans Licht
denn durch des Hauses Öde
wurd’ ich ein wenig blöde

Auf meinem Leintuch trafen sich zwei Wanzen
Sie waren prall und fett von meinem Blut
Vor Übermut und Freude begannen sie zu tanzen
das fette Mahl tat ihnen gut
Sie tanzen lang, sie tanzen viel
sie tanzen bis in den Morgen
Sie trieben mitsammen ein munteres Spiel
und vergaßen all ihre Sorgen
Sie tanzten mitsammen ein Menuett
Sie trieben die losesten Scherze
Sie huldigten der Liebe in meinem Bett
wussten nichts von meinem Schmerze
Doch plötzlich, wer weiß, wieso es kam
Ich drehte mich um im Schlafe
Vielleicht war es der wilde Traum vom Mond
und seinem Schafe
Der Wanzerich blies ein Marsch
so feurig und possierlich
er sah nicht wie mein wuchtiges A.
zerquetscht die Wänzin zierlich