Industrie: Salzburger Foto-Synthese

Industrie: Foto-Synthese Leica

Neuer Schwung für die Prestige-Marke Leica

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Richtung Sauerland, eine Stunde nördlich von Frankfurt liegt Deutschlands altes Wirtschaftswunder. Fast möchte man sagen, da liegt es begraben. Die Stadt Solms in der Nähe von Wetzlar kam in den fünfziger und sechziger Jahren zu Wohlstand. Die Gegend empfängt mit der typischen Tristesse ehemals erfolgreicher mittelständischer Industrie, die nichts anzufangen weiß mit dem Jetzt. Und noch weniger mit der Zukunft.

Am Ende einer Straße, die sich durch Einfamilienhäuser des Gelsenkirchener Barock schlängelt, wartet in einer Senke versteckt, fast in Deckung gegangen, ein großer deutscher Name auf seinen neuen Eigentümer: Leica, die edelste Kameraschmiede der Welt. In den letzten Jahren war das berühmte Unternehmen nur noch als Verlustbringer in den Schlagzeilen, ein Fass ohne Boden. Andreas Kaufmann, einer der Neffen der verstorbenen Papierindustriellen Harriet Hartmann (Frantschach), der seinen Teil des beträchtlichen geerbten Vermögens nicht bloß von professionellen Vermögensverwaltern gestionieren lässt, sondern sich selbst bereits seit geraumer Zeit auch als Unternehmer und Investor betätigt, hat sich nach Solms begeben, um diesen Namen zu retten. Der 53-jährige Salzburger spricht Deutsch, doch nicht die Sprache des Unternehmens. Besser gesagt: Das Unternehmen spricht nicht Kaufmanns Sprache. Noch nicht.

Hessische Provinz. Das Hauptgebäude in Solms ist ebenerdig. Rechts vom Empfang wartet eine kleine Ausstellung mit raren Kameramodellen aus der fast hundertjährigen Geschichte des Unternehmens, ein Schatz, der jedem Sammler alter Apparate vor Aufregung die Kehle zuschnürt. Links vom Empfang beginnt eine Ausstellung mit Bildern eines regionalen Leica-Fotografen, die dieser auch mit einem ordinären digitalen Apparat hätte aufnehmen können. Nicht, dass diese Fotos schlecht wären, sie sind nur nicht typisch für die Qualitäten einer Leica-Kamera. Aber sie hängen hier anstelle anderer, viel bedeutenderer Fotos, die beispielsweise Henri Cartier-Bresson, Sebastiao Salgado, Erich Lessing oder René Burri mit ihren Leicas geschossen haben.

Leica wuchert nicht mit den Pfunden. Man kann das als vornehme Zurückhaltung einstufen, man kann dies aber auch als Versäumnis werten. Zwar hat Leica in New York, Tokio und Wien (unter anderen) drei sehr wichtige Fotogalerien unter Vertrag, zwar gibt Leica zwei bedeutende Fotozeitschriften heraus, doch in der Zentrale steht die technische Tradition im Mittelpunkt und nicht das kreative Schaffen, das mit diesem Kamerakonzept erst ermöglicht wurde. In der Zentrale bestimmen die Feinmechaniker und Glasexperten das Bild des Unternehmens, ein paar Dutzend Genies, die Linsen konstruieren, die am Rande trotz eklatantem Weitwinkel kein hundertstel Millimeter Verzerrung zeigen. Alle paar Monate kommt eine neue korrigierte Optik aus den Werkshallen, gekauft wird das teure Stück aber immer häufiger von Sammlern und nicht von echten Anwendern. Das ist ein Teil des Leica-Dilemmas: Mindestens ein Drittel aller Apparate transportiert höchstens einen Film im Jahr. Und nicht wenige keinen einzigen in ihrem langen Leben. Sie bleiben Vitrinenstücke, Prunkstücke und fallweise Handelsware einer Sammlergemeinde – gebaut einzig zum Abstauben.

Andreas Kaufmann will den Sammlern keineswegs die Lust am Erwerb von seltenen Leicas vertreiben, er möchte aber gleichzeitig wieder mehr Anwender, echte Fotografen – ambitionierte Amateure ebenso wie gestandene Profis – verpflichten und zur Nutzung der einzigartigen Qualitäten von Leica-Kameras animieren. Der öffentlichkeitsscheue Geschäftsmann, der schon 2004 über seine Salzburger ACM Projektentwicklung GmbH mit zunächst 27 Prozent bei dem Kamerahersteller eingestiegen ist, hat kurz vor Jahresende 2006 dem zweiten Großaktionär, dem französischen Luxusgüterhersteller Hermès, dessen Anteile abgekauft und kontrolliert nun 93 Prozent der an der Börse Frankfurt gelisteten Leica Camera AG. Den verbliebenen Mitaktionären hat Kaufmann am 27. Dezember 2006 ein Abfindungsangebot zur Übernahme ihrer Anteile unterbreitet. Eine der raren versöhnlichen Nachrichten aus Solms.

Viel zu lange hat man bei Leica den digitalen Trend falsch eingeschätzt und sich bei der verspäteten Reaktion auf die Zusammenarbeit mit den japanischen Anbietern Fuji und Panasonic verlassen. So kam es, dass Leica übereilt digitale Modelle präsentierte, die aber sowohl bei professionellen Sammlern als auch Anwendern nicht den gewünschten Anklang fanden. Und für durchschnittliche Fotoamateure waren die Apparate viel zu teuer. Da half auch kein schickes Design, es entstanden Ladenhüter. Zeitgleich brach der Verkauf analoger Kameras drastisch ein.

Seit bald fünf Jahren ist Leica in den roten Zahlen. Im Geschäftsjahr 2003/2004 schrieb das Unternehmen 20 Millionen Euro Verlust, im Jahr darauf 18 Millionen. Im Geschäftsjahr 2005/2006 betrug der Abgang neun Millionen – bei einem konsolidierten Umsatz von 107 Millionen Euro. Nachdem die Gläubigerbanken Kreditlinien gestutzt hatten, schrammte das Unternehmen zeitweilig hart an der Zahlungsunfähigkeit entlang. Jeder vierte Leica-Mitarbeiter verlor seinen Job, heute stehen bloß noch etwas weniger als eintausend Beschäftigte auf der Gehaltsliste.

Kaufmann muss jetzt rasch vieles besser machen. Er führt Leica einstweilen wie ein Familienunternehmen, das macht ihn vor Ort vorsichtig beliebt.

Abschied von analog. Es ist später Nachmittag in Solms, über die Gebäude legt sich Nebel. Andreas Kaufmann parkt seinen Leihwagen ein paar Meter vom Eingang entfernt und eilt in eine Besprechung mit Stephen Lee, den er als Vorstandsvorsitzenden und operativen Chef ins Unternehmen geholt hat. Der US-Amerikaner asiatischer Abstammung ist Marketingfachmann und – wie Kaufmann – ein pragmatischer Fantast.

Der analoge Bereich bleibt auch im neuen Unternehmenskonzept unverzichtbares Kernsegment. Kaum ein Kamerahersteller ist dort derart geerdet wie Leica. Diesen Vorteil wollen sich Kaufmann und Lee nicht von Unternehmen wie Cosina und Zeiss streitig machen lassen, die zunehmend in diese Nische vordringen. Der japanische Hersteller Cosina hat vor wenigen Jahren die prestigeträchtige deutsche Marke Voigtländer erworben und baut seitdem sehr preisgünstige Kameras, die zusätzlich noch mit dem M-System von Leica kompatibel sind. Von Zeiss gibt es Gleiches, nur eine Preisklasse höher.

Diesem Angriff auf angestammtes Terrain begegnet Kaufmann mit der Entwicklung innovativen Zubehörs und eventuell noch mit der Neuauflage alter Kameralegenden, wie etwa einer weiterentwickelten M3, einer fünfzig Jahre alten Apparatur, deren Exemplare sich heute noch voll tauglich zu tausenden auf dem Gebrauchtmarkt finden. An einer Nachfolgerin der M7, der jüngsten, noch in Produktion befindlichen analogen Leica, wird aber nicht gearbeitet, denn das alte M-System ist am Gipfel seiner ökonomisch sinnvoll realisierbaren Möglichkeiten angelangt. Die eine oder andere Automatisierung, die einer analogen M-Leica noch fehlt, bringt keine neuen Anwender mehr. Von den zuletzt noch 500.000 jährlich in Deutschland verkauften Kameras mit Filmtransport kamen weniger als zwei Prozent aus Solms. Vielleicht folgt nächstes Jahr ein preisgünstiges Modell für fotografische Einsteiger, die nicht auf Film verzichten wollen. Doch hier ist letztlich kein großes Geld zu verdienen, befinden Kaufmann und Lee unisono, obwohl sie gerade diesen Teil des Konzerns fast ekstatisch verehren und sich auch für das vor Jahrzehnten Erreichte euphorisch begeistern können.

Die klassische Leica besteht aus Kameragehäuse und Optik. So sehr die Entwicklung der analogen Gehäuse reduziert wurde, so sehr werden nun Innovationen im optischen Bereich gefördert. Die Gläser aus Solms sowie der portugiesischen Fabrikation des Konzerns bestücken bereits HD-Kameras von Panasonic. Über die Zusammenarbeit mit einem von der Kaufmann-Holding schon 2003 erworbenen Unternehmen namens Viaoptic, einer kleinen High-Tech-Fabrikation von gespritzten Kunststofflinsen, soll nun verstärkt der Markt für hochwertige Miniaturoptiken erschlossen werden – ein asphärischer Vierlinser für Telefone und digitale Aufzeichnungsgeräte, kaum mehr als einen halben Zentimeter im Durchmesser, steht vor der Serienreife. Leica-Linsen auf Handys von Nokia oder anderen Herstellern, das schwebt Andreas Kaufmann als Eventualität vor. Prestige für beide, selbstredend etwas teurer als das Übliche. Es kann aber auch ein eigens entwickeltes Kleinstkamera-System mit Wechseloptiken folgen, das Kaufmann im Gespräch aus seiner Fantasie holt. Dieser scheinen wenig Grenzen gesetzt.

Die digitale Offensive hat dem Konzern nach längerer Zeit wieder positive Schlagzeilen gebracht. Zwar liegen noch keine aktualisierten Geschäftszahlen vor, das aktuelle Topmodell von Leica, die von Andreas Kaufmann so dringlich eingeforderte M8, wird trotz ihres Preises von über 4000 Euro gut angenommen – Leica kämpft das erste Mal seit Jahren mit Lieferschwierigkeiten. Auch die Geräte der darunter angesiedelten Serien Digilux und D-Lux erregen mehr Aufsehen als alle digitalen Leicas zuvor. Die Digilux kann erstmals über einen Adapter mit älteren Wechseloptiken aus der Leica-R-Serie (Spiegelreflex) bestückt werden, die kleine D-Lux lässt sich auch manuell bedienen und schiebt der Kreativität wenig Riegel vor. Mit der schicken D-Lux wird zudem eine Art iPod-Strategie verfolgt: Die Nutzer dieser handlichen und stets griffbereiten Kamera sollen sich als Teil einer digitalen Avantgarde verstehen.

Expansion. Die von Kaufmann angestoßene Strategie lässt sich mit dem ökonomischen Modebegriff „Expand Your Brand“ gut beschreiben. Den digitalen Express soll ein Güterzug begleiten, der das Interieur der neuen Flagship-Stores transportiert. In den wichtigsten Metropolen Europas, Asiens und Nordamerikas soll die Marke Leica nächstes Jahr einen überarbeiteten und einheitlichen Marktauftritt erhalten: entsprechend designte Verkaufspulte, Auslagendekorationen und Vitrinenpräsentation für ausgewählte Geschäftslokale sollen Leica stärker ins Blickfeld der interessierten, potenziellen Kundschaft rücken und Image sowie Markenbindung stärken. Der Absatz an Feldstechern und optisch-elektronischen Entfernungsmessern, den gemeinhin weniger bekannten Nischenprodukten des Konzerns, soll davon ebenfalls profitieren.

Zukäufe. Inzwischen ist es Abend in Solms, und Andreas Kaufmann wird zum Telefon gerufen. Knapp bevor das letzte Flugzeug zurück nach Salzburg abhebt, erreicht Kaufmann ein dringendes Gespräch aus der Schweiz: Der Unternehmer hatte nach monatelangen vertraulichen Gesprächen im September den Erwerb von 51 Prozent der Aktien der Sinar AG vereinbart. Der eidgenössische Hersteller von Großbild- und Balgenkameras befindet sich in diesem extrem kleinen fotografischen Segment in einer ähnlichen Position wie Leica: bekannt, gerühmt und schwer in der Krise. Kaufmann wollte beide Unternehmen enger zusammenführen und sah gemeinsames Potenzial vor allem bei der Entwicklung von Zubehör. Daraus wird jetzt aber nichts.

Mit Sinar-Hauptaktionär Jenoptik wurde für Insider völlig überraschend nun die Rückabwicklung des Aktienverkaufs vereinbart. Kaufmann begründet diesen Schritt, der weit gehend einvernehmlich erfolgte, mit der „Inkompatibilität der beiden Firmen“, die man gerade noch rechtzeitig bemerkt habe. Trotz des abgeblasenen Deals will Leica demnächst schon ein größeres digitales Angebot für Profifotografen entwickeln, umso mehr, als der größte Anbieter mittelformatiger Apparate, der schwedisch-koreanische Kamerahersteller Hasselblad, mit seinem letzten digitalen Modell die angestammte Klientel nicht überzeugen konnte. Diese setzt weiterhin auf digitale Rückteile für analoge Modelle und ergänzend auf Kameras mit Vollformat-Chips, wie sie zum Beispiel von Canon hergestellt werden.

Neben dem mutierenden Markt professioneller Fotografie scheint sich Kaufmanns Expansion vor allem auf die Leistung der Leica-Optiken zu stützen. Und auf ihre Anwendung in allen Bereichen der Fotografie. Zur Fotografie zählt auch der Film, hier finden sich aber außerhalb begrenzter Camcorder-Bestückungen keine Leica-Linsen am Markt. Vor allem die teuren asphärischen Gläser, die etwa bei Zoom-Optiken optimale Verwendung finden, könnten Kameramänner zu Leica-Kunden machen – kein geringer Markt und lukrativ zudem. Auf Kaufmanns Salzburger Schreibtisch liegt eine alte umgebaute Fotolinse, die nach entsprechendem Umbau nun an eine Arriflex-Filmkamera angedockt werden kann. Nur Spielzeug? Das darf bezweifelt werden.

Sammlerstücke. Tags darauf ist Andreas Kaufmann in Wien. Hier führt sein Geschäftspartner und Bekannter Peter Coeln den Leica-Shop und die Leica-Galerie WestLicht. Kaufmann hat Bilder der aktuellen Ausstellung erworben und will mit Coeln auch über die Entwicklung des Unternehmens sprechen. Coeln hatte schon früher gute Kontakte zu den Vorständen des Unternehmens, mit Kaufmann kennt er nun auch einen Eigentümer. Manch einer sagt dem Experten für Apparatur und Fotokunst maßgeblichen Einfluss auf Leica nach, den Coeln aber stets dementiert.

Hier, im Leica-Shop, erkennt man Segen und Dilemma des Unternehmens an einem Ort. Einerseits stehen schöne neue Geräte zur Schau, andererseits füllen viele gebrauchte Leicas die Vitrinen, Anwender- und Sammlerstücke, die manchmal schon fünfzig Jahre und länger Rollfilme belichten. Man kann die alten Geräte aus der Auslage holen und sofort erstklassige Fotos schießen. Die hunderttausenden existierenden analogen Leica-Kameras sind ein eigener Markt, in dem Peter Coeln eine der weltweit bedeutendsten Adressen ist. Bei ihm bestellen arabische Potentaten ihre singulären Museumsstücke (die bis zu 300.000 Euro kosten), und japanische Industrielle werfen sich vor einem Modell der Ur-Leica in den Staub. Die Sammler sind für Leica wichtig, da sie quasi jedes Modell erwerben müssen, während die Anwender in den vergangenen Jahrzehnten immer weniger wurden, da sie sich eine Leica nicht mehr leisten können.

Kaufmann steht vor der mehr als anspruchsvollen Aufgabe, jungen Fotografen, die längst an der unteren Skala bezahlter Kreativität angelangt sind, zu einer Leica zu verhelfen und die Marke wieder sichtbar zu machen.

Von Manfred Klimek