Innovative Unter-nehmen: Strategien

Innovationsprozesse: Anwender-Orientierung

Innovationsprozesse: Anwender-Orientierung

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Wohin das Auge im Büro des Wiener Unternehmens Edelwiser auch schweift – nichts als Skier. Es gibt sie in den verschiedensten Farben, es gibt solche mit aufgedruckten Slogans, Logos und Motiven berühmter Gemälde. Das Besondere am Design all der Modelle: Keines stammt von einem Skiproduzenten, sondern ausschließlich von Kunden.

Vor einem Jahr gründeten die frühere Skirennläuferin Nicola Werdenigg-Spiess und ihr Mann Erwin Werdenigg, von Beruf Internet-Entwickler, die Edelwiser Sporthandel GmbH. Die Grundidee: Jeder Kunde kann hier die Oberfläche seiner Skier individuell gestalten. Laien bekommen dazu ein leicht zu bedienendes Online-Werkzeug in die Hand, den „interactive skiDesigner“.

Das Konzept sprach sich offenbar in kürzester Zeit herum: Inzwischen kreieren Privatkunden, Kleinbetriebe und auch Großunternehmen wie Chello, Canon, der ORF und A1 Mobilkom Austria ihre individuellen Bretter – Letztere beispielsweise als Werbeträger. Designer können ihre Werke zudem gegen Entgelt über die Edelwiser-Homepage vertreiben. Man sehe sich als eine Art Agentur für kreative Ideen, erklärt Erwin Werdenigg.

Doch dies soll erst der Anfang sein. Die Werdeniggs wollen ihre Kunden künftig noch viel intensiver in die Produktentwicklung einbinden. So planen sie, demnächst Ski-Accessoires herauszubringen. Die Konsumenten dürfen dabei vorschlagen, welche Produkte es sein sollen, welche Funktionen diese erfüllen und, natürlich, wie die Kreationen aussehen sollen. „Die Accessoires sollen den Bedürfnissen der sich laufend entwickelnden Spielarten beim Wintersport Rechnung tragen“, findet Werdenigg.

Außerdem denkt man bei Edelwiser bereits daran, dass sich Konsumenten künftig auch in Bezug auf Material, Form und Bindung der Skier kreativ betätigen könnten. Zudem müssten die derartigen Aktivitäten nicht bloß auf die eine Produktgruppe beschränkt bleiben: Auch Skateboards und viele weitere Sportgeräte haben schließlich ihren Anwenderkreis.

Edelwiser folgt mit seinem Geschäftskonzept durchaus einem Trend. Denn immer mehr Unternehmen setzen professionelle Prozesse und teils auch spezielle Werkzeuge ein, um die Innovationskraft von Anwendern zu erschließen. So gelangen die Unternehmen nicht nur zu mitunter funktionstüchtigeren und vielfältigeren Produkten, sondern spüren oft sogar völlig neue Kreationen und Produktlinien auf.

Im Zentrum steht dabei so genannte User Innovation: Demnach tragen viele Anwender, die sich intensiv mit einem Thema beschäftigen, eine Menge an Ideen mit sich herum. Sie wissen um noch nicht befriedigte Bedürfnisse und um neue Wege, bestimmte Probleme zu lösen. Seinen Ausgang nahm dieses Konzept einst am Massachusetts Institute of Technology (MIT). Dort wurden auch bereits ausgeklügelte Instrumente zum Heben der Ideenschätze ersonnen.

Strategischer Prozess. Heute beginnen Unternehmen dieses Potenzial strategisch zu nützen, auch in Europa und Österreich. Nikolaus Franke, Leiter der Abteilung für Entrepreneurship und Innovation an der Wiener Wirtschaftsuniversität (WU), dessen Institut sich unter anderem auf Innovationen spezialisiert hat, die durch Anwender erfolgen, stellt seit ein bis zwei Jahren ein „stark erwachendes Bewusstsein“ dafür fest. „Die Einbindung von Anwendern schwappt derzeit wie eine Woge nach Europa“, so Franke. „Wir stehen am Beginn einer Zeit, in der sehr viel auf diesem Gebiet experimentiert wird.“

Ein Unternehmen, das schon seit mehreren Jahren unterschiedliche Instrumente zum Anzapfen der Ideenpools von Anwendern nutzt, ist BMW, wie Marc Jokisch, Marketing Innovationsplaner bei der BMW Group in München, erklärt: „Wir denken, dass Kunden Anregungen für gänzlich neue Innovationen liefern können.“ Freilich, so Franke, besteht in vielen Unternehmen nach wie vor auch Widerstand: Schließlich stellen diese Methoden oftmals gewohnte Strukturen und Abläufe infrage, etwa die Rolle von Marktforschungsabteilungen.

Ein Instrument, mit dem sich mitunter radikale und weit reichende Innovationen aufspüren lassen, ist die so genannte Lead-User-Methode. Lead User gelten als ausgewiesene Experten auf einem bestimmten Gebiet. Derartige Benutzer haben Bedürfnisse, die jenen der Masse zumeist deutlich vorauseilen. Zu diesem Personenkreis zählen zum Beispiel Extrem-sportler, denen die Funktionalitäten ihrer Geräte nicht mehr genügen und die deshalb beginnen, selbst daran herumzubasteln. Beim Lead-User-Verfahren machen Unternehmen gezielt solche Anwender ausfindig, um mit deren Hilfe aktuelle und künftige Bedürfnisse und neue Lösungswege auszuloten.

Neue Produktlinien. Aus solchen Prozessen sind zahlreiche heute bereits etablierte Innovationen hervorgegangen. So suchte der im Baubereich tätige Hilti-Konzern derart nach neuen Methoden zum Fixieren von Rohrleitungen. Das Ergebnis war ein Befestigungssystem, das bald patentiert wurde und aus dem der neue Geschäftsbereich Montagetechnik hervorging. Der US-Mischkonzern 3M wiederum führte bereits eine ganze Reihe von Lead-User-Projekten durch. Eigenen Angaben zufolge weisen die daraus entstandenen Ideen im Schnitt ein mehr als achtfach höheres Umsatzpotenzial auf als traditionell entwickelte Konzepte. Aus jedem der Projekte ging nach Eigendarstellung sogar eine gänzlich neue Produktlinie hervor. Eine der jüngsten derart generierten Errungenschaften ist ein neuer Ansatz zur Infektionskontrolle für die Medical Division des Konzerns.

Am Anfang eines Lead-User-Projekts gilt es stets, ein konkretes „Suchfeld“ festzulegen. Dann sind wichtige gesellschaftliche und technologische Trends und Bedürfnisse zu identifizieren, die für das Suchfeld, aber auch für so genannte „analoge Märkte“ von Bedeutung sind. Zu chirurgischen Hygieneprodukten etwa wäre die Halbleiterproduktion ein analoges Feld – schließlich sind beide Branchen mit der Anforderung der Keimfreiheit konfrontiert. Derart lassen sich branchenübergreifende, inhaltliche Überschneidungen eruieren, wodurch sich nicht selten fruchtbare Anregungen ergeben.

Aufbauend auf den Ergebnissen dieser Phase, startet die Akquisition geeigneter Lead User. Der Mineralölkonzern OMV, der nach Zusatzleistungen für Tankstellen suchte, bat beispielsweise einen Computerexperten, einen Berater der Mineralölbranche, einen Motorjournalisten und einen passionierten Motorradfahrer zu sich. Schließlich ersinnen Mitarbeiter des jeweiligen Unternehmens gemeinsam mit den Lead Usern konkrete Produktideen, die abschließend noch bewertet werden müssen.

Neben der OMV führten in Österreich beispielsweise Frequentis Nachrichtentechnik, der Spirituosenhersteller Stock Austria sowie zuletzt Siemens Österreich Lead-User-Projekte durch, und zwar in Kooperation mit dem WU-Institut für Entrepreneurship und Innovation. Marion Pötz, die dort als wissenschaftliche Mitarbeiterin diese Projekte betreute, berichtet, dass mehrere der dabei entwickelten Ideen bei den Bewertungen Bestnoten in Bezug auf ihren Innovationsgehalt eingeheimst hätten. Alle Unternehmen würden denn auch an der Umsetzung entstandener Konzepte arbeiten. Dies gelte auch für Stock und Frequentis, welche die Projektergebnisse offenbar für so wertvoll halten, dass sie nichts davon verraten mögen.

Tankstellenkonzepte. „Unsere Erwartungen in Bezug auf die Ergebnisse wurden mehr als erfüllt“, sagt Gerald Fliegel, der die Abteilung Intellectual Asset Management bei Siemens leitet und nach neuen Kommunikationslösungen für den Arbeitsplatz suchen ließ. Zwei Konzepte hätten dabei das Zeug zu viel versprechenden Innovationen, darunter eines zur Dokumentation von Kommunikationsabläufen.

„Sobald wir eine konkrete Fragestellung haben, machen wir das sofort wieder“, schwärmt Walter Böhme, Leiter der Abteilung für Innovationsmanagement bei der OMV. Unter den Konzepten für Tankstellen fanden sich ein virtueller holografischer Tankwart und eine vollautomatische Zapfsäule. Eine Idee bestand darin, während des Tankens automatische Service- und Sicherheitschecks am Wagen ablaufen zu lassen. Ein weiterer Vorschlag sah die Nutzung von Tankstellendächern als „Heliports“ vor, als Landeplätze für Hubschrauber.

Die meisten der Vorschläge werden laut Böhme zumindest „weiterverfolgt“. Gleichzeitig zeigen sich freilich auch die Grenzen der Umsetzbarkeit. Wenig überraschend etwa, dass Böhme im Zusammenhang mit der Heliport-Idee den Bedarf bezweifelt. Außerdem sei man stets damit konfrontiert, dass die Umsetzung gänzlich neuer Ideen naturgemäß äußerst zeit- und kostenintensiv sei.

Web-Werkzeuge. Ein weiteres Instrument zum Heben von Ideenschätzen sind so genannte Toolkits for User Innovation. Dabei handelt es sich um Online-Werkzeuge, vielfach Konfiguratoren, deren Funktionalität von simplen Multiple-Choice-Anwendungen über interaktive Oberflächen bis hin zu bestimmten Möglichkeiten des Programmierens reicht. Mit derartigen Toolkits sollen Anwender ihre Ideen auf spielerische Weise einbringen können.

Der Spielraum ist dabei sehr unterschiedlich. Low-End-Toolkits sind noch recht nahe an der bloßen Individualisierung sonst bereits fertiger Produkte – erlauben also etwa die Auswahl einiger Farben und Komponenten, bieten jedoch keinen umfassenderen Gestaltungsspielraum. Demgegenüber ermöglichen High-End-Toolkits deutlich weiter gehende Eingriffe.

In den Bereich Low End fällt beispielsweise jenes Tool von Adidas, das kleinere Auswahlmöglichkeiten bei der Gestaltung von Turnschuhen bot. Mehr kreativen Einsatz erlaubte indes ein von Swarovski genutzter Toolkit. Der Tiroler Kristallhersteller ließ damit neue Motive für direkt auf die Haut zu klebende „Crystal Tattoos“ kreieren. Mithilfe virtueller Steinchen auf einer Homepage konnten die Teilnehmer des Projekts eigene Motive entwerfen. Swarovski übernahm zahlreiche davon fast unverändert in sein Sortiment.

Mit vergleichbaren Werkzeugen begaben sich Audi und BMW auf die Suche nach Infotainment-Ideen für Telematik- und Online-Systeme im Auto. Laut BMW-Manager Jokisch kam es letztlich nicht nur zu Verbesserungen bestehender Produkte, es seien auch gänzlich neue Konzepte entwickelt worden.

Ein typisches Feld für Toolkits, die tiefer greifende Neuerungen begünstigen, sind solche für Software und Computerspiele. Zum Statistikprogramm Stata werden Werkzeuge offeriert, mit denen Anwender relativ einfach neue Funktionen programmieren können. Entdecken die Stata-Hersteller einen Vorschlag, den sie für interessant halten, auch für andere Nutzergruppen, nehmen sie ihn in die nächste Version der Software auf. Auf diese Weise verfolgt das Unternehmen das Ziel, über die Jahre Innovationsführer zu bleiben.

Der Kreativität seiner Fans verdankt auch das Computerspiel SIMS einen erheblichen Teil seines Erfolgs. In dem Spiel lässt sich das Alltagsleben virtueller Personen simulieren. Der Hersteller Electronic Arts stellte zwecks kontinuierlicher Weiterentwicklung zunächst Toolkits ins Internet, mit denen SIMS-Spieler relativ kleine Veränderungen vornehmen konnten.

Charakter-Kreation. Doch das war diesen schon bald zu wenig, und sie programmierten selbst neue Toolkits, mit denen sich das Spiel noch mehr erweitern ließ. So entstanden zahlreiche neue Figuren und Umgebungen, etwa eine Bowling- und eine Eislaufbahn, und die Figuren wurden mit neuen Handlungsmöglichkeiten ausgestattet. So sind sie heute in der Lage, gegeneinander zu kämpfen – was ursprünglich nicht vorgesehen war. Auch SIMS-Versionen, in denen die Figuren nackt herumlaufen, entstanden. Electronic Arts griff die Kreationen der Fans dabei von Anfang an auf und bot sie mehr oder weniger unverändert als Erweiterungen an – leichter käme der Spielehersteller schließlich niemals an hoch motivierte und zugleich kostenlose Mitarbeiter.

Als besonders ergiebig gilt auch, spezielle Online-Communities anzuzapfen oder selbst solche zu initiieren. WU-Professor Franke: „Zu praktisch jedem Thema besteht ein Forum oder eine Newsgroup, wo über neue Bedürfnisse und Ideen diskutiert wird.“ Von Jeff Bezos, dem Gründer des Online-Buchhändlers Amazon, ist bekannt, dass er seine Idee zunächst in Communities debattieren ließ – und schon im Vorfeld der Gründung Ideen potenzieller Anwender sammelte und zugleich kostenlos die Werbetrommel rührte.

Auch für SIMS spielen Communities eine zentrale Rolle. Rund um das Spiel existieren zahlreiche Homepages, über welche die Anwender ihre Neuschöpfungen austauschen. Reinhard Prügl und Martin Schreier vom WU-Institut für Entrepreneurship fanden in einer Studie über derart selbst tätig gewordene Spielernaturen heraus, dass die jeweils populärsten neu geschaffenen Varianten von nur 53 besonders innovationsstarken Nutzern kreiert und bereits 3,12 Millionen Mal heruntergeladen worden waren.

Inzwischen gibt es jedoch nicht nur Unternehmen, die Anregungen der Verbraucher bei ihren Produkten berücksichtigen, sondern sogar solche, die das Prinzip User Innovation überhaupt gleich zum Kerngeschäft machen. So hat sich die im Jahr 2000 gegründete Münchner Hyve AG insbesondere dem Konzipieren von Toolkits verschrieben. Hyve hat bereits für eine Reihe international tätiger Unternehmen Projekte durchgeführt, darunter für Swarovski, Adidas, BMW und Audi. „Am Anfang wurden wir als Spinner hingestellt“, berichtet Mitgründer und Wahltiroler Johann Füller. Mittlerweile würde die Nachfrage jedoch stark anwachsen.

Neues Spiel. Eines der bei Hyve entwickelten Produkte, der multifunktionale Wintersportrucksack „Diggit“, ist heute bereits in Sportgeschäften erhältlich. Er verfügt über eine integrierte Lawinenschaufel, die auch als Gepäckträger etwa für ein Snowboard zu gebrauchen ist. Die jüngste Neugründung im Hyve-Umfeld ist die GameCreator GmbH. Hyve schuf mit Informatikern der Technischen Universität München ein Tool, mit dem sich bestehende Handy-Spiele abändern sowie erweitern lassen und Konsumenten sogar neue Spiele programmieren können. Ein großes Mobilfunkunternehmen hat bereits angekündigt, den Game Creator in sein Portal integrieren zu wollen.

Üblicherweise erhalten die Ideenlieferanten bei all diesen Methoden kein Geld. Doch wie sich herausgestellt hat, sind gerade die ideenreichsten Anwender so interessiert an der jeweiligen Materie, dass sie ihre Geistesblitze gerne gratis weitergeben – und schließlich mit Fug und Recht behaupten können, aktiv an Produktentwicklungen mitgewirkt zu haben.