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Jeder Klick kann eine Karriere zerstören

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Ein Foto wie Millionen andere: ein Schluck aus einem Plastikbecher, ein verschmitzter Blick in die Kamera. Blitzlicht, Gelächter, Partylaune. Wahrscheinlich ärgerte sich Stacy Snyder auf ihrer Halloween-Party noch über die roten Pupillen, die ihr der Schnappschuss durch das grelle Blitzlicht verpasste. Zumindest die Verkleidung, ein billiges schwarzes Piratenhütchen, saß perfekt.

Eine Userin wie Millionen andere: Stacy Snyder stellte den Schnappschuss auf ihre MySpace-Seite im Internet, gemeinsam mit den anderen Fotos von der kleinen Feier. Schließlich zeigt man sein Fotoalbum gern den Freunden. Das Bild betitelte die 25-Jährige mit zwei kurzen Worten: „Drunken Pirate“, betrunkener Pirat.

Ein Fehler, wie ihn Millionen andere auch begehen. Täglich.

Durch Zufall war die Unileitung auf Snyders Foto im Netz gestoßen. Die Millersville University im US-Bundesstaat Pennsylvania verweigert Snyder nun den Abschluss als Lehrerin in Biologie und Englisch. Das Foto sei „unprofessionell“ und einer Erzieherin nicht würdig, so die Argumentation der Hochschule. Jugendlichen sei Snyder ein schlechtes Beispiel im Umgang mit Alkohol. Trotz guter Noten und tadellosen Lebenslaufs wird die Mutter zweier Kinder auch von der Bildungsbehörde derzeit nicht als Lehrerin in einer staatlichen Schule zugelassen.

Snyders Fall ist nur der erste von vielen, der so beträchtliche Auswirkungen hat, dass er als Präzendezfall „Drunken Pirate“ derzeit die US-Gerichte und -Medien beschäftigt.

In einer Zeit der schnellen Fakten spielt es keine Rolle, ob überhaupt Alkohol in dem gelben Becher mit dem Schokoriegel-Werbeaufdruck war. Es ist irrelevant, ob Stacy Snyder tatsächlich jenseits irgendeiner undefinierten Promillegrenze alkoholisiert war. Und es hat keine Bedeutung, dass das Foto weder im Klassenzimmer noch gemeinsam mit Schülern entstanden war, sondern bei einer kleinen Privatfeier.

Die neue Form des Internets, das so genannte Web 2.0, macht das Private öffentlich. Während Websites früher etwas Statisches waren, das man ansehen, durchlesen oder bestenfalls durchblättern konnte, kann sich mit unterschiedlichen Tools nun jeder selbst einbringen. Auf Plattformen wie MySpace, StudiVZ oder Facebook lassen sich Kontakte quer über alle Kontinente knüpfen. Auf Flickr oder dem österreichischen Szene1-Portal können auch Freunde, die nicht gerade nebenan wohnen, das eigene Hochzeitsalbum oder die jüngsten Urlaubsfotos abrufen. Mehrere hundert Millionen Menschen sind zumindest in einem dieser Portale registriert.

Social Software. Je mehr User solche Plattformen haben, umso besser funktionieren sie (siehe Kästen). Mit so genannter Social Software kommunizieren „many to many“: Sie bilden Netzwerke, tauschen sich in Foren aus und produzieren damit selbst Wissen im Netz („user generated content“), statt lediglich Vorgegebenes zu konsumieren. Bekanntestes Beispiel: das Online-Lexikon Wikipedia, das ausschließlich von Usern geschrieben wird und das jeder bearbeiten kann. Erstmals kürte das renommierte „Time“-Magazin 2007 keinen Weltpolitiker oder Wirtschaftsboss, sondern erklärte den Internetuser zur „Person des Jahres“ auf seinem Cover: „Yes, you. You control the Information Age. Welcome to your World.“

Doch so verführerisch-praktisch und kommunikativ-revolutionär diese neue Welt erscheint, so rasch kann sie – wie im Fall von Stacy Snyder – zum Bumerang werden. Denn Anonymität ist nicht mehr als eine Illusion. Dabei ist es weniger der ominöse „Big Brother“, der mit Rasterfahndung und Überwachungsviren versucht, an intime Daten zu gelangen. Der Einzelne selbst ist es, der durch seine Selbstveröffentlichung im Netz das eigene Grundrecht auf Privatsphäre aushöhlt.

Die Konsequenzen, die sich daraus ergeben, sind noch den wenigsten bewusst. „Kein Mensch kann heute sagen, wie sich ein Eintrag, den er heute macht, in 20 Jahren auf ihn auswirkt. Google weiß mittlerweile mehr über uns als wir selbst“, sagt der Netzexperte und Harvard-Jurist Viktor Mayer-Schönberger. „Das Wissen über unsere Vergangenheit wird dort ja nicht vergraben. Es ist abrufbar. Für jeden.“

Mit Softwaretools wie Spock.com lassen sich ganze Dossiers über das Leben eines Menschen erstellen. Für viele Personalchefs gehört es bereits zur täglichen Routine, Bewerber nicht nur nach deren Lebenslauf zu beurteilen, sondern ihren Namen auch via Google durchs Netz zu jagen. „Es ist teilweise wirklich unglaublich, was man alles über einen Menschen findet“, sagt Gabriele Gradnitzer vom Personalberater Neumann. „Die Österreicher gehen noch sehr freizügig mit ihren persönlichen Daten um. Manche Vereinsmitgliedschaften oder politischen Einstellungen, die dadurch ans Licht kommen, können für einen potenziellen Arbeitgeber ein Grund sein, jemanden nicht einzustellen.“

Dabei muss man einschlägige Informationen gar nicht selbst ins Netz gestellt haben. Selbst Experten wie Mayer-Schönberger können nicht ausschließen, von Freunden oder Bekannten ohne ihr Wissen im Netz „abgelegt“ worden zu sein (siehe Interview Seite 112). Aktuelles Beispiel: das kürzlich auf YouTube.com aufgetauchte Nazi-Video aus einer österreichischen Kaserne. Es ist zu bezweifeln, dass allen Rekruten klar war, per Handykamera gefilmt zu werden. Noch weniger dürften sie damit gerechnet haben, dass ein Kamerad das Video ins Netz stellen würde.

Fallende Schranken. Ob ein Video, ein Foto, ein Text in einen geschlossenen Bereich gestellt wird, ist früher oder später irrelevant. „Irgendwann fallen auch diese Schranken“, sagt Wolfgang Zeglovits, von der Innovationsagentur Datenwerk. „Anonymität ist in Social Networks nicht vorgesehen. Der Austausch funktioniert über Vertrauen. Und alles, was du von dir preisgibst, kann natürlich auch gegen dich verwendet werden.“ Selbst der 34-jährige Internetprofi ist immer wieder überrascht, was als Bumerang wiederkehrt. Zuletzt konfrontierten ihn Studenten, die er unterrichtet, mit Kommentaren, die er während seiner Zeit als Studentenpolitiker in internen Kommunikationsforen geschrieben hatte. Technische und rechtliche Voraussetzungen hatten sich geändert, das einst geschützte Forum war nun öffentlich einsehbar. „Seitdem schreibe ich jedes E-Mail so, als wäre es ein öffentliches Dokument. Irgendwann findet es ohnehin jemand irgendwo.“ Auch seinen Blog schrieb Zeglovits jahrelang geschützt. Obwohl er in diesem Internettagebuch als „Weo“ (Name geändert) alles anonymisierte, fand es sich eines Tages unter den Suchergebnissen, als er seinen realen Namen googelte. „Wie so was passiert, lässt sich nie rekonstrieren“, sagt Zeglovits. „Sicher ist nur, dass es so ist.“ Nun muss Wolfgang Zeglovits zu allem stehen, was er als „Weo“ schreibt.

Internetklagen. Doch nicht nur das: Wolfgang Zeglovits muss nun auch zu allem stehen, was „Weo“ bisher geschrieben hat, auch in jener Zeit, als er noch glaubte, anonym zu sein. „Was glücklicherweise kein Problem für mich ist. Mir war immer klar, dass sich die Verbindung zwischen mir und meinem Pseudonym irgendwann herstellen lässt“, schmunzelt Zeglovits. Alte Texte oder Fotos aus dem Netz nehmen zu wollen ist zwecklos. So versuchte ein deutscher Anwalt jüngst, einen politischen Kommentar, den er als Student geschrieben hatte, via Gerichtsbeschluss löschen zu lassen – und blitzte ab. Doch selbst bei erfolgreicher Klage wäre es faktisch unmöglich. Organisationen wie Archive.com oder Google selbst schicken in regelmäßigen Abständen Speicherprogramme durchs Netz und machen damit längst gelöschte Versionen von Internetseiten für immer abrufbar. Selbst staatliche Stellen übernehmen diese Praxis nun: So soll die Österreichische Nationalbibliothek künftig ebenfalls per Gesetz zweimal jährlich Kopien von heimischen Websites ziehen und wie alte Zeitschriften aufbehalten.

Denn Websites werden prinzipiell wie Zeitungen als Medien behandelt. Ihr Inhalt ist klagbar, von jedem Betroffenen. Der Swingerklub-Betreiber Viktor Hennemann etwa, Nebendarsteller in Ulrich Seidls Alltags-Doku „Hundstage“, klagte einen Blogger wegen übler Nachrede. Der hatte in Internettexten behauptet, „der Vickerl“ pfeife wirtschaftlich „aus dem letzten Loch“. Hennemann gewann. Inzwischen überziehen deutsche Anwälte die Blogger-Szene mit so genannten Abmahnklagen. Für Übertretungen werden tausende Euro Entschädigung gefordert. Von Blog-Provider Dieter Rappold (Agentur Knallgrau und Twoday.net) forderte ein Hamburger Anwalt sogar Entschädigung für das angeblich urheberrechtlich geschützte Foto, das sein Mandant von einigen Scheiben Extrawurst aufgenommen hatte und das ein Blogger auf seiner Seite verwendete. „Wir lassen uns von solchen Schreiben nicht einschüchtern“, sagt Rappold. Ob der Durchschnittsbürger ebensolche Nerven hat, es auf einen Rechtsstreit ankommen zu lassen, ist fraglich.

Anonyme Postings. „Die Rache der Journalisten an den Politikern ist das Archiv“ – der Satz des verstorbenen „ZiB 2“-Anchorman Robert Hochner lässt sich nun auf jedermann ausdehnen. Die Rache des Archivs trifft nun den Durchschnittsbürger, der sich im Netz bisher anonym und damit in Sicherheit wähnte. Selbst die beliebten Postings unter Artikeln erfolgreicher Internetmedien wie derStandard.at oder orf.at, die in der Regel unter Pseudonymen verfasst werden, sind zurückverfolgbar. Diese Erfahrung musste auch Herbert Dietrichstein machen. In einem Chat mit dem Verleger Christian Mucha, bei dem er in der Standard.at-Redaktion über das Internet mit Usern diskutierte, kritisierten diese die Arbeitsbedingungen in Muchas Verlag. Dietrichstein, selbst Ex-Mucha-Mitarbeiter, schaltete sich nur am Rande in die Online-Diskussion ein. Doch Mucha ließ die User ausforschen, die Kommentarschreiber waren ihm schon länger ein Dorn im Auge. Das Landesgericht Wien ordnete auf Muchas Anzeige an, was derStandard.at lange verweigert hatte: die Daten hinter den Pseudonymen herauszugeben. Die Anzeige wurde zwar zurückgelegt, für Dietrichstein trotzdem keine angenehme Situation: „Da realisiert man erst, dass man im Netz nicht mehr anonym ist.“

Der Standard.at kommt als so genannter Host-Provider, der den Platz zur Verfügung stellt, auf dem diskutiert wird, in eine Zwickmühle. Einerseits beschäftigt er Redakteure, die rechtlich heikle Postings löschen, anderseits will er die Meinungsfreiheit nicht überbordend zensieren. „Wir wollen kritische Stimmen nicht mundtot machen, wegen der ein anderer vielleicht genug Grund zur Klage sieht. Die User müssen auch ein gewisses Maß an Eigenverantwortung übernehmen“, sagt Standard.at-Chefin Gerlinde Hinterleitner.

Technisch lässt sich schon jetzt nachvollziehen, wer wo wann was geschrieben hat. Solange ein Provider die Verbindungsdaten speichert, lässt sich über die so genannte IP-Adresse eines Computers rekonstruieren, wann und wo welcher User-Name oder welche E-Mail-Adresse angelegt wurde. Noch ist das nur Usern mit variablen Tarifen möglich. Mit der bevorstehenden Umsetzung der EU-Richtline zur Vorratsdatenspeicherung sollen aber künftig alle Verbindungsdaten zumindest sechs Monate gespeichert bleiben. Gerichtlich strittig ist momentan nur, wer die Herausgabe dieser Daten unter welchen Umständen erzwingen kann; ob nur Behörden bei schweren Vergehen oder auch Unternehmen wie die Musikindustrie, um Raubkopierer zu entlarven. Selbst Richter der Oberlandesgerichte hatten zuletzt in ähnlichen Fällen völlig unterschiedlich entschieden. „Derzeit weiß nicht einmal der Durchschnittsjurist, was in diesen Bereichen eindeutig erlaubt oder eindeutig verboten ist, geschweige denn der Durchschnittsbürger“, sagt der auf Internetrecht spezialisierte Richter Franz Schmidbauer. Er wünscht sich von der Politik klarere Bestimmungen. Einen Schritt weiter geht Internetentrepreneur Rappold: „Es wäre der Auftrag des Bildungssystems, seine Bürger im Umgang mit den neuen Medien zu schulen.“ Hunderttausende Kinder surfen in Österreich im Netz, doch kein Lehrer hat die Verpflichtung, verantwortungsvollen Umgang damit zu lehren. Generell tendieren Jugendliche stärker dazu, permanent in irgendeiner Form online zu ein, bestätigt auch Internetaktivist Joichi Ito. „Dabei ist die Generationskluft ohnehin schwer zu überwinden“, kritisiert Rappold: „Jeder 13-Jährige ist seinem Lehrer in technischen Belangen voraus. Da denkt er sich: Von dem lass ich mir auch sonst nichts sagen.“

Stacy Snyder hätte als Lehrerin sicher einiges zu erzählen. Man müsste das Mädchen mit dem Piratenhut nur lassen.

Von Josef Barth
Mitarbeit: Anna Giulia Fink, Sebastian Hofer, Gunther Müller, Franziska Troger