Interview

Interview: „Die Hand ist sehr teuer“

„Die Hand ist sehr teuer“

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profil: Herr Professor, was hat die Scharia der modernen arabischen Gesellschaft zu sagen?
Al Ani: Die Scharia ist ein umfassendes System, das die Beziehungen zwischen Individuum und Gott, aber auch Individuum und Gesellschaft regelt. Sie hat einen theologischen Aspekt – die Grundregel, dass es nur einen Gott gibt und ihm Verehrung gebührt –, einen sozialen Aspekt – Regeln über die Stellung des Individuums in Familie und Gesellschaft –, und einen politischen Aspekt – die Feststellung der Gleichberechtigung der Bürger unter Respektierung der Freiheit des Eigentums.
profil: Im Westen assoziiert man mit Scharia vor allem ein Strafgesetzbuch, das asoziales Verhalten mit drakonischen Strafen bedroht.
Al Ani: Der Vorteil der Scharia ist, dass sie zwei Bestrafungen vorsieht, eine hier auf Erden und die zweite im Jenseits. Das hat auf die Gläubigen stets eine zurückhaltende Wirkung ausgeübt, sie von kriminellem Verhalten abgeschreckt.
profil: Ist eine Strafe wie Handabhacken für Diebstahl nicht unmenschlich?
Al Ani: Ihre Androhung hat ein Verhalten der Gesetzestreue gefördert. Die Hand ist sehr, sehr teuer. Das Gesetz sieht auch vor, dass sich Täter und Opfer auf Schadenersatz einigen, bevor
es zur Ausführung der Strafe kommt. Früher hat man 100 Kamele dafür bezahlt, um dieser Bestrafung zu
entgehen. Das wirkte abschreckend auf andere mögliche Täter.
profil: Trotzdem bleibt ein Beigeschmack des Barbarischen …
Al Ani: Wissen Sie, wie viele Hände in den sechs Jahrhunderten des Kalifats abgehackt wurden? Sechs. Einmal kam ein reicher Mann zu Omar, dem zweiten Kalifen. Sein Diener hatte ihn bestohlen, er forderte Bestrafung. Omar ging der Sache nach, und es stellte sich heraus, dass der reiche Mann seinem Diener den gerechten Lohn vorenthalten hatte. Dem Diener wurde nicht nur nicht die Hand abgehackt, sondern der Kalif befahl seinem Herrn, ihn rechtmäßig zu entlohnen, andernfalls ihm die Hand abgehackt würde.
profil: In Ländern wie Saudi-Arabien, die sich auf die Scharia berufen, werden Hände am Fließband abgehackt …
Al Ani: Wir sind nicht damit einverstanden, wie islamisches Recht in Saudi-Arabien umgesetzt wird. Die Verteilung des Reichtums ist äußerst ungleich, und die Monarchie ist nicht im Einklang mit dem politischen System des Islam.
profil: Wie soll die neue Verfassung des Irak aussehen, wie islamisch soll sie sein?
Al Ani: Sie muss nicht zu 100 Prozent islamisch sein. Sie soll den politischen Willen des irakischen Volks zum Ausdruck bringen, das aus mehreren Gruppen und religiösen Strömungen besteht, dessen Identität aber klar islamisch ist. Viele ihrer Artikel sollten die Scharia zur Quelle haben. Sie soll sich zu politischem Pluralismus, Parlamentarismus, freien Wahlen und Toleranz gegenüber anderen Religionsgemeinschaften bekennen. Und sie muss auch Garantien enthalten, sodass keine Gruppe die anderen hegemonisieren kann.
profil: Soll es Körperstrafen und striktes Alkoholverbot geben?
Al Ani: Körperstrafen sicherlich nicht. Eine rasche, direkte Durchsetzung von bestimmten Schariatsgesetzen ist nicht zielführend. Alkoholverbot? Das müssen das künftige Parlament und die künftige Regierung entscheiden. Unter dem alten Regime wurde die Gesellschaft völlig deformiert, wir müssen sie korrigieren. Wenn die Gesellschaft die Lehren des Islam annimmt und seine Regeln akzeptiert, sind auch solche Gesetze durchsetzbar.
profil: Sind Sie optimistisch, dass das irakische Volk bald nach seiner eigenen Fasson wird leben können?
Al Ani: Ich bin gar nicht optimistisch. Die amerikanischen Besatzer sind unzivilisiert und brutal. Sie gaben vor, Saddam und sein System stürzen zu wollen, aber sie haben den irakischen Staat zerstört. Das Volk ist diese Art von Freiheit nicht gewohnt. Es gibt geheime Hände, die das Land zerstören wollen. Es sind ausländische Hände im Spiel, die das amerikanische Projekt im Irak zum Scheitern bringen wollen, damit es die Amerikaner nicht anderswo neu auflegen. Die Folgen badet die irakische Bevölkerung aus.