Interview: „Die Spaltung wird tiefer“

Nusseibeh über d. Krieg zwischen Fatah & Hamas

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profil: Ist die Spaltung der Palästinensergebiete in Hamastan in Gaza und Fatahstan im Westjordanland die größte Krise innerhalb der palästinensischen Gesellschaft seit den Kriegen 1948 und 1967?

Nusseibeh: Es ist seit Langem die schwerste Krise. Die Spaltung hat sich lange angekündigt. Wer sich jetzt überrascht gibt, hat den Kopf in den Sand gesteckt. Die Palästinenser werden konservativer. Deshalb haben wir überhaupt eine Hamas-Regierung bekommen. Die Leute haben nicht nur deshalb Hamas gewählt, weil sie die korrupte Fatah abwählen wollten. Der Trend zu mehr Religion ist ja nicht nur bei uns spürbar. Ich fürchte, auch die Amerikaner werden konservativer und religiöser. Die Palästinenser aber sind in einer besonders schlechten Lage. Die israelische Besatzung ist ein gravierender Grund für die Misere. Die Jugendlichen wachsen ohne adäquate Erziehung auf, niemand gibt ihnen eine Richtung. In ihrer Ignoranz sind sie leichte Beute für radikale Prediger.

profil: Ist diese Entwicklung auf den Gazastreifen beschränkt, oder spüren Sie diese Veränderung auch in Jerusalem und im Westjordanland?

Nusseibeh: Die Mittelschicht in Jerusalem verschwindet. Relativ gesehen wird sie immer kleiner, die Unterschicht wächst viel schneller. Diese demografische Veränderung ist dramatisch.

profil: Sie beschreiben in Ihrem Buch, wie Ihre Ahnfrau Nusseibah mit dem Propheten Mohammed in die Schlacht zog. Den neuen Herren des Gazastreifens wird diese feministische Geschichte nicht gefallen.

Nusseibeh: Von den 14 Gefolgsleuten, die mit dem Propheten Mohammed von Mekka nach Medina zogen, waren vier Frauen. Das kann man sich heute kaum mehr vorstellen, wo Frauen im Islam so schlecht behandelt werden. Für ihren Einsatz in der Verbreitung des Islam versprach der Prophet diesen Frauen und allen ihren Nachkommen einen Platz im Paradies. Das ist praktisch. Deshalb habe ich es nicht nötig, Märtyrer zu werden.

profil: Im Ernst: In Gaza zünden radikale Islamisten Internetcafés an. Erwarten Sie Ähnliches in Ramallah?

Nusseibeh: In zehn Jahren werden wir vielleicht sagen: Hey, das waren die guten Zeiten damals! Die neue Generation der Hamas wird wohl nicht moderater als die aktuelle sein. Schon jetzt wird Hamas von radikalen Randgruppen herausgefordert, die ihre eigenen Gesetze haben. Schauen Sie sich die „Armee des Islam“ an, die Alan Johnston*) entführt hat – schreckliche Leute! Diese Entwicklung wird nicht vor der Westbank Halt machen. Es würde mich nicht überraschen, wenn wir im Westjordanland schon heute eine Mehrheit für die Hamas hätten.

profil: Revidieren nicht viele Hamas-Wähler ihre Haltung, nachdem sie erkannt haben, wie radikal die Islamisten sind und wie wenig sie zu Stabilität und Wohlstand beitragen?

Nusseibeh: Es hat sicher alle erschüttert, wie grausam die Hamas vorgegangen ist. Fatah-Regierungsbüros wurden verwüstet, die Infrastruktur wurde zerstört, von den Gewaltakten gegen Menschen ganz zu schweigen. Ein Fatah-Führer wurde praktisch gelyncht, seine Leiche dann durch die Straßen geschleppt und vorgeführt. Darüber kann Abu Mazen (Kampfname von Präsident Mahmoud Abbas, Anm.) nicht einfach hinweggehen. Aber ob er sein Image als schwacher Präsident jetzt noch einmal verändern kann, nachdem ihm das halbe Herrschaftsgebiet abhanden-

gekommen ist, bezweifle ich.

profil: Kann sich der Präsident, gestärkt durch das Geld der internationalen Gemeinschaft, vielleicht doch noch fangen: etwa wenn Israel seine Technokraten-Regierung mit vertrauensbildenden Maßnahmen wie der Auflösung von Straßensperren und der Freilassung von Gefangenen unterstützt?

Nusseibeh: Diese neue Regierung ist keine gute Idee, weil sie nicht erfolgreich sein kann. Das Schisma zwischen Fatah und Hamas wird dadurch noch tiefer. Nur durch Diskussion, durch Integration kann man versuchen, den Graben zwischen den zwei Palästinenserlagern zu schließen. Ich bin mir auch nicht sicher, ob wir das Geld der internationalen Gemeinschaft annehmen sollten. Es funktioniert am Ende ja nicht: Zuerst wird Abu Mazen populär sein, weil er Geld bekommt, aber das ist zu wenig, wenn nicht entscheidende Schritte Richtung Frieden gesetzt werden. Dann wird er als Kollaborateur hingestellt, dessen Verrat nicht zu einem lebensfähigen Staat geführt hat. Und dann gewinnt wieder die Hamas Unterstützung.

profil: In den israelischen Medien wird debattiert, ob und wie man Marwan Barghouti (populärer Fatah-Führer, der seit Jahren in Israel eingesperrt ist, Anm.) frei lassen könnte. Ist das der richtige Zeitpunkt, oder ist es noch zu früh?

Nusseibeh: Ich frage mich eher, ob es nicht schon zu spät ist. Marwan ist seit fünf Jahren aus dem Verkehr gezogen. Auch wenn er voriges Jahr einen Kompromiss zwischen Fatah und Hamas aushandeln konnte, so ist keineswegs gesichert, dass er die heute bereits so tiefe Spaltung überwinden könnte. Es ist keine gute Zeit für die palästinensischen Helden. Mohammed Dahlan (einstiger Hoffnungsträger der Fatah, Anm.) zum Beispiel war ein Held, der schnell abstürzte. Auch für Marwan Barghouti wäre es sicher schwierig, aus dem Gefängnis entlassen zu werden und dann einen Kompromiss zu vertreten, der von den Israelis akzeptiert werden könnte. Stellen Sie sich vor, er gibt das Recht auf Rückkehr für die Flüchtlinge von 1948 in den Staat Israel praktisch auf. Das ist auch für einen Volkshelden wie ihn nicht einfach. Da wird man schnell als Kollaborateur hingestellt.

profil: Sie selbst sind dafür, dass Sie den Palästinensern geraten haben, auf das Rückkehrrecht de facto zu verzichten, massiv angegriffen worden. Haben Sie keine Angst, dass der Aufstieg der Hamas Ihre intellektuelle und persönliche Freiheit noch weiter einschränken könnte?

Nusseibeh: Meine politischen Positionen sind seit vielen Jahren immer die gleichen. Die Palästinenser wissen, wer ich bin und was ich denke. Bei mir macht sich keiner Illusionen. Schwieriger ist es, wenn ein Hoffnungsträger nicht einlösen kann, was er versprochen hat. Doch ich glaube sowieso nicht an den großen Führer, der uns vom Elend erlöst. Das Einzige, was uns aus dieser Misere befreien kann, ist eine politische Lösung.

profil: Davon sind die Konfliktparteien sehr weit entfernt. Es gibt keine Verhandlungen.

Nusseibeh: Die Verhandlungen in Camp David, als Bill Clinton 2000 versuchte, Frieden zwischen Jassir Arafat und Ehud Barak zu erzwingen, waren ein Irrtum. Fünfzehn Männer in Anzügen, die weit entfernt der Heimat über deren Schicksal verhandeln, haben die Bevölkerungen kaltgelassen. Wir müssten vielmehr alle handelnden Personen hierher nach Jerusalem holen. George Bush fliegt via Kairo, Riad und Amman nach Tel Aviv. Auf dem Weg sammelt er die Könige Abdallah von Saudi-Arabien und Jordanien ein. Dann bestellt man Ehud Olmert und Mahmoud Abbas dazu und verhandelt. Man darf natürlich das King David Hotel nicht nur für eine Woche buchen, eher schon für ein Jahr. Dann wird verhandelt. Über kurz oder lang liegt ein Paket auf dem Tisch, das Olmert und Abbas annehmen. Tun sie das nicht, dann haben der US-Präsident und das Nahost-Quartett dennoch etwas in der Hand: einen Friedensplan, den sie den Bevölkerungen zur Abstimmung vorlegen können. Ich bin überzeugt, dass es in beiden Völkern große Mehrheiten für ein Ende dieses Konfliktes auf der Basis eines Kompromisses gibt: Jerusalem als Hauptstadt beider Völker, Palästina als demilitarisierter unabhängiger Staat, die Auflösung der Siedlungen, die Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge in einen palästinensischen Staat plus Kompensation. Eine Zwei-Staaten-Lösung eben.

profil: Ist Ihr Vorschlag nicht schon aus der Mode gekommen? Heute denken viele, dass es zu einer Zwei-Staaten-Lösung nicht mehr kommen wird. Und gar nicht kommen soll. Die Palästinenser hoffen, dass die Demografie ihnen in die Hände spielt, in etwa 20 Jahren gibt es eine arabische Mehrheit zwischen Mittelmeer und Jordan-Fluss. Bei vielen Israelis macht sich das unangenehme Gefühl breit, dass ihnen der eigene Staat unsympathisch wird. Das untergräbt die Moral und schwächt das Friedenslager.

Nusseibeh: Ich bin nicht Teil dieser intellektuellen Debatte. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass eine Zwei-Staaten-Lösung allen die beste Möglichkeit gibt, nach ihrem Willen zu leben. Es ist auch die einzig realistische Version. Religiöser Fatalismus à la Hamas ist mir unverständlich. Ich hoffe für meine Kinder, dass wir eine Zwei-Staaten-Lösung zustande bringen. Ich bin kein Freund von großen Theorien und Worten, wenn die Leute hier und heute vor die Hunde gehen.

Interview: Tessa Szyszkowitz/Jerusalem

Sari Nusseibeh, 58,
ist Rektor der Al-Kuds-Universität in Jerusalem. Der Philosophieprofessor war einige Jahre lang PLO-Vertreter in Jerusalem. Der Befürworter einer Zwei-Staaten-Lösung hat soeben seine Familiengeschichte veröffentlicht. „Once Upon a Country.
A Palestinian Life“ (auf Englisch im April 2007 erschienen) erzählt die Geschichte der Nusseibehs vom Propheten Mohammed bis zu Jassir Arafat.