Horst Köhler

Interview: „Drei-Prozent-Grenze nicht verabsolutieren“

„Drei-Prozent-Grenze nicht verabsolutieren“

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profil: Kürzlich wurde der russische Ölbaron Michail Chodorkowski verhaftet, seine Aktien sind beschlagnahmt. Das wird vielfach als politischer Akt von Präsident Wladimir Putin gesehen. Und international geht die Angst um, die Eigentumsrechte in Russland könnten bedroht sein. Teilen Sie die Befürchtungen?
Köhler: Mir wird die ganze Debatte etwas zu aufgeregt geführt. Ich weiß schlicht noch nicht, ob ein Rechtsbruch geschehen ist oder ob die Staatsanwaltschaft gegen Grundsätze des Rechtsstaats verstoßen hat. Das mag so sein, aber ich möchte die Situation genauer und im Einzelnen kennen, bevor ich mir eine Meinung bilde und diese äußere.
profil: Ist der Aufschrei des Auslands, nach dem, was man bereits weiß, nicht verständlich?
Köhler: Es ist vor allem erst einmal eine Affäre, die Russland selbst bereinigen muss. Es war richtig, dass Präsident Putin, als er sein Amt antrat, klargemacht hat, dass eine funktionierende Marktwirtschaft Rechtsstaatlichkeit verlangt. Er wird nicht überrascht sein, dass ihn die internationale Gemeinschaft beim Wort nimmt.
profil: Rechtssicherheit war in Russland in den wilden neunziger Jahren Mangelware. Aber damals hat der IWF als bedeutender Geldgeber diesen Punkt nicht zur Bedingung seiner finanziellen Zuwendungen gemacht.
Köhler: Das war stets eine Kernforderung des IWF. Wahr ist aber auch, dass der IWF zusammen mit der Weltbank und der gesamten internationalen Gemeinschaft durch die Art und Dynamik der Privatisierungspolitik praktisch überrollt wurde. Michail Chodorkowski hat sich damals wenig um internationale Standards geschert. Vielleicht waren der IWF und andere zu blauäugig. Es fällt mir jedenfalls schwer, jetzt in Chodorkowski nur ein Unschuldslamm zu sehen. Aber die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen. Jetzt muss man nach vorn schauen.
profil: Ist es vorstellbar, dass der IWF Kredite an Russland fällig stellt?
Köhler: Der IWF ist keine Bank. Vorzeitiges Fälligstellen gehört nicht zu unseren Instrumenten. Wenn es sich irgendwo als Faktum – ich betone: als Faktum – herausstellt, dass ein Staat gegen eine bestehende Vereinbarung mit uns verstößt, gehen wir dem selbstverständlich nach und stellen gegebenenfalls auch Zahlungen ein. Russland allerdings hat von uns keine Zahlungen mehr zu erwarten. Russland bedient seine Kredite. Da gibt’s keine Beschwerden.
profil: Der amerikanische Präsident George W. Bush sagt, er sei besorgt über die Entwicklung in Russland.
Köhler: Die gesamte internationale Gemeinschaft hat natürlich ein Interesse, dass Russland in Sachen Marktwirtschaft und Demokratie nicht einen Rückschlag erleidet. Ich habe hier aber einiges Vertrauen in Präsident Putin. Manche Medien schießen mir einfach zu schnell. Ich werde mich dann definitiv äußern, wenn ich über konkrete und sichere Informationen verfüge.
profil: Also Themenwechsel. Was die internationale Konjunkturentwicklung angeht, haben Sie sich zuletzt mehrfach recht positiv geäußert. Was stimmt Sie so optimistisch? Bei den guten US-Wachstumswerten im dritten Quartal dieses Jahres könnte es sich doch auch um ein vorübergehendes Hoch handeln.
Köhler: Zunächst sollten wir uns alle freuen, dass sich in Amerika jetzt offenbar eine wirtschaftliche Erholung durchsetzt. Eine Erholung, die der europäischen erneut vorauseilt. Die Europäer erhoffen sich von den USA wieder Hilfe für den Aufschwung. Zu Ihrer Frage – natürlich gibt es weiter Risiken für einen Rückschlag. Aber insgesamt glaube ich, dass die Weltwirtschaft tatsächlich auf Erholungskurs ist. Auch Europas Voraussetzungen für Wachstum sind besser als früher, weil notwendige Strukturreformen inzwischen angegangen worden sind. Die Lage in Japan entwickelt sich positiv, in Lateinamerika kann man von Stabilisierung sprechen. Ich glaube, das Schlimmste der dreijährigen Stagnationsphase liegt hinter uns.
profil: Was halten Sie von dem Argument, Europa könne sich allein durch Strukturreformen nicht aus dem Sumpf ziehen? Es fehle an Nachfrage, und deshalb sei es angebracht, den EU-Stabilitätspakt für eine Weile außer Kraft zu setzen?
Köhler: Ich halte es für ein schweres politisches Versäumnis vor allem der großen Länder Europas, dass sie ihre finanzpolitischen Hausaufgaben – sprich: den Abbau der Haushaltsdefizite – nicht in konjunkturell guten Zeiten gemacht haben. Hätten sie das getan, stünde man jetzt nicht vor diesen Kalamitäten mit dem Stabilitätspakt. Wobei ich einen solchen Pakt im Grundsatz sehr befürworte. In seiner Substanz halte ich ihn zur Disziplinierung der Finanzpolitik für unbedingt erhaltenswert. Immerhin hat Europa die Geldpolitik zentralisiert, die Finanzpolitik blieb aber dezentral – also braucht es ein solches Instrument.
profil: Erfordert die Konjunkturlage in Europa jetzt ein Aufweichen des Pakts?
Köhler: Er muss jetzt situationsgerecht angewandt werden. Weltweit bestehen derzeit beträchtliche Ungleichgewichte in den Außenwirtschafts-Positionen zwischen den USA, Europa und Ostasien. Die USA haben ein hohes Defizit in der Leistungsbilanz, die EU dagegen macht, so wie wichtige Länder Ostasiens, außenwirtschaftlich Überschüsse. Nun neigen allerdings EU-Länder wie Deutschland oder auch Österreich dazu, immer dann, wenn die Wirtschaft schlecht läuft, ihre Hoffnungen in besonderem Maß auf ein Ankurbeln des Exports zu setzen.
profil: Was ist daran verkehrt?
Köhler: Nichts Prinzipielles. Bloß befinden wir uns gegenwärtig in einer Situation, in der die genannten internationalen Ungleichgewichte behutsam zurückgeführt werden müssen. Überschuss- und Defizitländer dürfen sich nicht noch mehr auseinander entwickeln, sonst erhöht sich die Gefahr, dass die Anpassung in Form eines Crashs – möglicherweise eines Dollar-Crashs – passiert. Das könnte fatal sein. Ungleichgewichte lassen sich aber nicht ewig aufrechterhalten.
profil: Das heißt, von europäischen Exportsteigerungen sollte man sich für den Aufschwung nicht mehr viel erwarten?
Köhler: Es ist zumindest davon auszugehen, dass Europa seine Ausfuhren in die USA nicht ad infinitum steigern kann.
profil: Was bedeutet das für die Einhaltung des EU-Stabilitätspakts?
Köhler: Lassen Sie mich nochmals das Gesamtbild aus weltwirtschaftlicher Sicht darstellen: Faktum ist erstens, dass die Volkswirtschaften in den Weltregionen außerhalb der USA derzeit nicht genug Binnenwachstum aufweisen, als dort für einen soliden Aufschwung nötig wäre. Faktum ist zweitens, dass diese an Binnennachfrage armen Volkswirtschaften mit der alternativen Strategie, nämlich forcierter Exportankurbelung, an Grenzen stoßen. Ich sage daher: Jetzt, nachdem das Kind schon mal in den Brunnen gefallen ist, nachdem es also wichtige EU-Staaten versäumt haben, in guten Zeiten vorzusorgen – jetzt ist nicht der Moment, die 3-Prozent-Grenze des Stabilitätspakts zu verabsolutieren.
profil: Also keine Sanktionen für Defizitsünder?
Köhler: Was fehlt, was gewünscht ist, das ist europäische Binnennachfrage. Wenn man jetzt die Staatsdefizite in den Sünderländern binnen Jahresfrist unter die 3-Prozent-Defizit-Grenze von Maastricht zu drücken versucht, dann kann dies sogar das Gegenteil des Gewünschten – nämlich eine konjunkturelle Dämpfung – bewirken.
profil: Heißt das, dass Sie die Defizite in Frankreich und Deutschland begrüßen?
Köhler: Ich habe zuvor gesagt, dass ich sehr bedaure, dass manche Länder ihre Hausaufgaben nicht in guter Zeit hinter sich gebracht haben.
profil: Okay – aber nachdem das nun mal passiert ist, nachdem, wie Sie gesagt haben, das Kind nun mal in den Brunnen gefallen ist: Begrüßen Sie die französisch-deutsche Linie?
Köhler: Nein, ich will diesen Ländern keinen Freispruch geben. Ich halte den Vorschlag der EU-Kommission für vernünftig, die jetzt von den Mitgliedsstaaten verlangt, dass sie das so genannte „strukturelle Defizit“ in ihren Haushalten Jahr für Jahr mindestens um einen halben Prozentpunkt abbauen. Der Stabilitätspakt kann also in seiner Substanz erhalten werden, wenn in Europa jetzt mutige Strukturreformen für mehr Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt und eine verbesserte Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft durchgeführt werden.
profil: Aber Sie hielten es für schädlich, beim Gesamtdefizit in der jetzigen Situation auf dem Einhalten der 3-Prozent-Obergrenze von Maastricht zu beharren?
Köhler: Ich würde ein nochmaliges Überschreiten der 3-Prozent-Grenze von Maastricht im kommenden Jahr hinnehmen, wenn zur gleichen Zeit Strukturreformen eingeleitet werden, die mittelfristig zuverlässig zu einem ausgeglichenen Haushalt führen.
profil: Sehen Sie in dem Dollar-Crash, den Sie nicht ganz ausschließen, eine reale Gefahr?
Köhler: Das Risiko besteht, dass der Dollar unkontrolliert abwertet. Allzu wahrscheinlich ist das aber nicht. Bisher ist die Dollarabwertung nicht nur kontrolliert verlaufen, sie geht aus ökonomischer Sicht auch in die richtige Richtung – als Beitrag, das große Leistungsbilanzdefizit der USA abzubauen.
profil: Das aber bereits gewaltige Ausmaße angenommen hat. Und das Haushaltsdefizit ist explodiert.
Köhler: Der Internationale Währungsfonds und ich selber sind die Ersten, die sagen: So ist das nicht haltbar. Ich fürchte, die US-Administration hofft noch zu sehr, dass sich das Defizitproblem in der Leistungsbilanz über Wachstum allein lösen lässt. Die Amerikaner müssen, glaube ich, auch über Ausgabeneinsparungen nachdenken, aber sie müssen das in einer Form tun, die die notwendige Reform ihres Gesundheitswesens und ihres Rentensystems nicht beschädigt oder noch schwerer macht. Deshalb schließe ich nicht aus, dass sie gegebenenfalls auch ihre Steuersenkungspolitik überprüfen müssen.
profil: Die USA haben ein Doppeldefizit: in der Außenwirtschaft und jetzt auch wieder im Bundeshaushalt. Brauchen nicht auch sie jetzt ganz nötig das Ausland, damit es ihnen ihre Defizitgebarung bis auf weiteres brav weiterfinanziert?
Köhler: Was die Amerikaner vor allem brauchen, ist ein starkes Produktivitätswachstum. Und da haben sie die besten Voraussetzungen dafür. Die Produktivität der US-Wirtschaft ist in den neunziger Jahren enorm gestiegen. Darin sehen die Analysten den Grund dafür, dass der Dollar nicht abstürzt. Ein starkes Produktivitätswachstum bildet immer noch die beste Gewähr dafür, dass Kapital, das nach Amerika geht, eine gute Verzinsung bekommt. Denn wenn Kapitalgeber auf einmal die Idee hätten, sie kriegen keine vernünftige Verzinsung in den USA, dann hätten die Amerikaner und die ganze Weltwirtschaft wirklich ein Riesenproblem.
profil: In seinem Bestseller „US-Weltmacht. Ein Nachruf“ hat der französische Politologe Emmanuel Todd die These aufgestellt, Amerika entindustrialisiere sich zunehmend, sei wirtschaftlich am absteigenden Ast und treibe aus Kompensation seine martialische Weltpolitik. Ist da was dran?
Köhler: Überlegenswert daran ist, dass Amerika aufpassen muss, sich nicht zu überdehnen – mit Leistungen, mit Kriegen. Aber es ist ja nicht so, dass man mehr Autos oder mehr Stahl produzieren muss, um nachzuweisen, dass man eine moderne und leistungsstarke Wirtschaft ist. Modern heißt doch zunehmend Wissen, Technologie und Dienstleistungen. Nehmen Sie Bill Gates oder die Stärke des Finanzdienstleistungssektors – da kann man doch nicht sagen, dass Amerika auf dem absteigenden Ast sei.
profil: Auch ernsthafte Leute zeichnen derzeit Negativszenarien für die Entwicklung der Weltwirtschaft. Sie bleiben Optimist?
Köhler: Sehen Sie: Wir hatten die Finanzblase in den USA und das Platzen dieser Blase – ein gewaltiger Schock. Dann hatten wir den 11. September 2001. Dann den Skandal von Enron und anderer Konzerne. Und schließlich den Irak-Krieg. Die Tatsache, dass man diese turbulenten letzten drei Jahre relativ gut überstanden hat, zeigt, dass das internationale Wirtschaftssystem, auch das der USA, widerstandsfähiger, flexibler ist, als man das vielleicht in abstrakten Analysen angenommen hätte. Da wurden offenbar auch einige Lehren aus den Krisen vor 2000 gezogen. Es ist nicht so, dass man sagen könnte, alles ist in Butter. Aber es gibt Grund genug, jetzt nicht übertrieben in Pessimismus zu machen.