Bernard-Henri Lévy: „Eine kranke Linke“

Interview: „Eine kranke Linke“

Frankreichs Star-Philo- soph im profil-Interview

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profil: Wem werden Sie bei den kommenden französischen Präsidentenwahlen nächsten Monat die Stimme geben?
Lévy: Ich habe ein Prinzip: so spät wie möglich meine Wahlentscheidung öffentlich zu machen. So kann ich den Druck auf die Kandidaten auch so lang wie möglich aufrechterhalten – bei Themen, zu denen Intellektuelle etwas zu sagen haben. Am wahrscheinlichsten ist, dass ich für Ségolène Royal (die sozialistische Kandidatin, Red.) stimme. Nicht aus einem automatischen Reflex heraus und nicht aus politisch-doktrinalen Gründen, sondern wegen der Positionen, die Frau Royal zu verschiedenen Themen einnimmt.
profil: Zum Beispiel?
Lévy: Zu Darfour. Zu den Menschenrechten in Russland. Zum Iran und seinen nuklearen Ambitionen. Vor allem aber zu Europa.
profil: Sie sind bekannt, ein Pro-Europäer zu sein. Aber sind das nicht auch alle drei Kandidaten, die eine Chance haben, gewählt zu werden – der Gaullist Nicolas Sarkozy, der liberale Christdemokrat François Bayrou und die Sozialistin Royal?
Lévy: Das stimmt. Aber wichtig ist die Frage, wie kann man jene in das europäische Lager wieder zurückbringen, die es verlassen haben. Wer hat die Mittel, diese Aufgabe zu lösen? Das scheint mir Royal zu sein. Es gibt sogar in ihrem Wahlkampfteam Leute, die mit Nein beim EU-Verfassungsreferendum gestimmt haben – wegen allgemeiner Unzufriedenheit. Die gilt es zurückzuholen.
profil: Unter den französischen „Großintellektuellen“ sind sie da recht einsam. Die meisten von ihnen, vor allem auch jene, die früher links waren, wählen diesmal Sarkozy.
Lévy: Ich gehöre jedenfalls nicht zu den Sarkozy-Wählern.
profil: Und wie erklären Sie sich diese Rechtsentwicklung der französischen Intelligenzija?
Lévy: Dafür habe ich keine Erklärung. Da müssen Sie die fragen, die Sarkozy wählen. Aber es ist keine Sünde, für ihn zu stimmen. Den Slogan „Sarko Fasho“ (Anm.: Sakozy Faschist) halte ich jedenfalls für idiotisch. Er ist ein interessanter Politiker. Es ist nicht unwürdig, ihn zu wählen.
profil: Sie haben Frau Royal mehrfach getroffen. Welchen Eindruck haben Sie von ihr? Sie ist ja zweifellos ein neues Phänomen in der französischen Politik.
Lévy: Sie sagen es. Sie repräsentiert eine neue Art, Politik zu machen. Das heißt nicht, dass sie nicht auch ein Produkt der alten Politik wäre, dass sie sich nicht in gewisser Weise dem Apparat der Sozialistischen Partei unterordnet. Trotzdem hat sie eine Art zu denken, zu reagieren, zu agieren, die anders ist. Nehmen Sie ihr Konzept der partizipativen Demokratie. Anfangs war ich sehr skeptisch. Aber ich bin inzwischen zum Schluss gekommen, dass diese Methode gerade in der jetzigen Situation nicht so schlecht ist: zuzuhören, bevor man redet, zu erkunden, was die Wünsche und Überlegungen der Menschen sind, bevor man politische Entscheidungen trifft – dabei ist Frau Royal eine sehr entschiedene und eigensinnige Person. Aber in der jetzigen politischen Krise Frankreichs, wo es gilt, Reformen durchzusetzen, bei denen man die Zustimmung der Bevölkerung braucht, ist ihre Art, Politik zu machen, wahrscheinlich das einzig Richtige. Und entgegen der Kampagne der Gaullisten gegen sie, die sie als inkompetent darstellen, ist sie viel kompetenter, als die meisten glauben.
profil: Und ist sie so charmant, wie viele ihr nachsagen?
Lévy: Auf diese Frage möchte ich nicht antworten. Würde man bei Sarkozy oder Bayrou auch fragen, ob sie charmant sind?
profil: Warum nicht? Offensichtlich charmiert Madame Royal einen Teil Frankreichs.
Lévy: Also gut. Sie ist eine ausgesprochen charmante und attraktive Frau.
profil: Auch mit autoritären Zügen …
Lévy: Was mich erstaunt hat, ist ihre Fähigkeit zuzuhören. Auch ihre Bescheidenheit.
profil: Hat sie nicht etwa vorgeschlagen, delinquente Jugendliche in militärischen Einrichtungen zu drillen?
Lévy: Das ist etwas, worin ich mit ihr absolut nicht übereinstimme.
profil: Alle wollen mit der alten Art von Politik brechen. Warum fühlen sich alle dazu veranlasst, sich so von der bisherigen Politik zu distanzieren? Warum hassen die Franzosen diese Politik?
Lévy: Weil sie dieser Politik zu lange geglaubt haben. Frankreich ist das Land der Revolution, das Land der Politik. Die Desillusionierung heute ist so groß, wie die Illusion vorher groß war. In den angelsächsischen oder den skandinavischen Ländern, wo die Wahrheiten nie so absolut waren, wo die gemäßigten Lösungen die besten sind, wo die Politik Kompromiss bedeutet, also in jenen Ländern, wo die Politik nicht das Objekt von Exaltationen ist, gibt es auch nicht diese radikale Desillusionierung wie bei uns in Frankreich.
profil: Hängt die miese Stimmung des französischen Elektorats nicht auch damit zusammen, dass die Nation nicht mehr jene weltpolitische Rolle spielt, die sie einst als imperiale Macht spielte, und dass die Franzosen nun gekränkt sind?
Lévy: Das kennen viele. Solch einen Niedergang habt ihr Österreicher erlebt, so wie die Russen auch. Im Falle Deutschland ist das anders. Deutschland hat sich mit der Wiedervereinigung 1989 in seiner Ausdehnung quasi verdoppelt, und sein Gewicht hat sich in Relation etwa zu Frankreich vergrößert. Natürlich ist der Bedeutungsverlust bitter für Frankreich, für ein Land, das beansprucht, das Universelle zu repräsentieren, und dessen Rede in seinen besten Momenten seiner Geschichte auf der ganzen Welt Widerhall fand. Der Bedeutungsverlust mag eine gewisse Art von Melancholie hervorgerufen haben.
profil: Eine depressive Verstimmung?
Lévy: Depression ist zu viel gesagt. Melancholie ist ein viel leichterer Zustand der Malaise. Und dazu kommt Resignation. Die Franzosen sind traurig, ohne genau zu wissen, warum, und ohne den Willen, aus dieser Situation herauszukommen.
profil: Und welchem Gemütszustand schreiben Sie den Ausbruch der Gewalt in den Pariser Vorstädten vor zwei Jahren zu?
Lévy: Das war – und ist nach wie vor – eine soziale Bewegung mit nihilistischen und barbarischen Zügen.
profil: … von Jugendlichen, die in ihrer Mehrzahl aus Nordafrika stammen und einen moslemischen Hintergrund haben. Der Islamismus spielt aber bei dieser Revolte kaum eine Rolle.
Lévy: Nein, der ist unter diesen Jugendlichen ganz wenig verankert. Im Gegenteil, der französische Staat hat ja versucht, sich auf die islamische Geistlichkeit zu stützen, um die Gewaltausbrüche einzubremsen. Aber die Kids haben keine Lust, den Imamen zuzuhören. Dass die brennenden Banlieues irgendetwas mit dem Islamismus zu tun hätten, war eine Fantasie ausländischer – aber auch französischer – Beobachter. Das war und ist ein nihilistischer Protest mit unakzeptablen Ausdrucksformen. Vor allem aber ist er selbstbeschädigend, eine Art Selbstbestrafung: Die haben ihre Schulen, ihre Kindergärten, die Autos von Papa und Opa abgefackelt. So drücken sie ihre Verzweiflung aus.
profil: Wenn solch eine radikale Bewegung kein Rekrutierungsfeld für Islamisten ist, wo ist dann die islamistische Gefahr in Europa, von der auch Sie so oft sprechen?
Lévy: Ich glaube, dass der Islamismus eine große Gefahr ist, aber ich habe nie gesagt, dass er für Frankreich bedrohlich ist. Die Terroristen rekrutieren sich ja auch nicht aus dem nicht integrierten verzweifelten Jugendmilieu der Vorstädte. Die Terroristen, die in London die Anschläge verübt haben, die Organisatoren des 11. September und die anderen waren alle überdurchschnittlich in der europäischen Gesellschaft integriert. Der Islamismus ist gefährlich in Pakistan, in Afghanistan, in der arabischen Welt.
profil: Trotz Madame Royal – alles redet in Frankreich von der Krise der Linken. Steckt sie wirklich in der Krise, und wenn ja, warum?
Lévy: Der Grund dafür liegt darin, dass die Linke noch nicht wirklich die Lehren aus der Geschichte des Totalitarismus gezogen hat.
profil: Was haben die Sozialisten mit dem Totalitarismus zu tun?
Lévy: Die Linke nimmt noch immer an, dass Kommunisten und Sozialisten letztlich die gleiche Familie sind, nur zwei Flügel derselben politischen Strömung.
profil: Was ja historisch stimmt.
Lévy: Mag sein, aber solange die Sozialisten nicht klar sagen, dass sie mit den Kommunisten nichts, aber auch wirklich nichts zu tun haben, so lange werden sie eine Leiche im Keller haben.
profil: In der französischen Linken ist man stolz darauf, „antiliberal“ zu sein. Für Nichtfranzosen ist das nicht ganz verständlich.
Lévy: Für mich ist das auch völlig unverständlich. „Liberal“ ist ein wunderschönes Wort. Das war der Begriff der Revolution 1848, der besten Momente unserer Geschichte. Das zu einem Schimpfwort zu machen heißt, sich der eigenen guten Geschichte zu entledigen. Ein echtes Problem: Eine Linke, die sich nicht vollständig vom Totalitarismus löst und die besten Seiten ihrer Geschichte verleugnet, ist eine kranke Linke.

Interview: Georg Hoffmann-Ostenhof