„Erstickende Verklärung“

Interview: „Erstickende Verklärung“

Interview mit SPÖ-Chef Alfred Gusenbauer

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profil: Herr Dr. Gusenbauer, ist das nicht riskant, wenn die SPÖ als einzige Partei ihre Vergangenheit untersucht? Es sieht ja so aus, als habe es nur in der SPÖ Nazis gegeben.
Gusenbauer: Es ist gerade im Gedenkjahr wichtig, einen umfassenden Blick auf die Vergangenheit zu richten. Niemand kann ein Interesse an dieser manchmal erstickenden Erinnerungsverklärung haben. Ich habe schon seinerzeit darauf hingewiesen, dass ich das als Aufgabe aller Parteien betrachte. Und damit das nicht ein hohle Phrase bleibt, gehen wir mit gutem Beispiel voran.
profil: Aber es geht niemand hinterher …
Gusenbauer: Die nicht nachgehen, haben offensichtlich ein schlechtes Gewissen, was ihre Vergangenheit betrifft. Wenn die ÖVP nicht bereit ist, sich mit der Rolle ihrer Vorgängerorganisation im Austrofaschismus zu beschäftigen, wenn sie nicht bereit ist, ihre Rolle bei der Integration von Nationalsozialisten nach 1945 aufzuarbeiten, dann besteht der begründete Verdacht, dass hier viel Material vorhanden ist, dem sich die ÖVP nicht mit offenem Blick stellen will.
profil: Laut Studie war der Anteil von ehemaligen NSDAP-Mitgliedern in den Reihen der Abgeordneten und Vorstandsmitglieder von ÖVP und SPÖ etwa gleich hoch.
Gusenbauer: Das war das Ergebnis der Politik in dieser Zeit. Die SPÖ hat in den ersten Monaten mit großer Ernsthaftigkeit versucht, nicht Leute aufzunehmen, die in größerem Ausmaß belastet waren. Der entscheidende Punkt war die Wahl im November 1945 und die Zeit unmittelbar danach, als sich als gesamtstaatlicher Konsens durchgesetzt hat: Man will bei aller Schmerzhaftigkeit der Geschichte nicht Gräben aufreißen, sondern jene, die sich nicht vorsätzlich etwas zu Schulden kommen ließen, wieder sukzessive in das öffentliche Leben integrieren.
profil: Mit der Folge, dass dann in der ersten Regierung Kreisky gleich fünf ehemalige Nationalsozialisten gesessen sind.
Gusenbauer: Wenn jemand Mitglied der NSDAP war, sich dann aber im späteren Leben als untadeliger Demokrat erwiesen und einen anständigen Beitrag zum Wiederaufbau geleistet hat – sollte man ihn da dennoch für alle Zeiten ausgrenzen?
profil: In der SPÖ gab es viele, die sehr skeptisch waren, als Sie vor fünf Jahren diese Studie in Auftrag gegeben haben. Die SPÖ solle nicht ihre wenigen Nazis outen, während die FPÖ sage: Bei uns ist alles in Ordnung.
Gusenbauer: Natürlich hat es bei uns Skeptiker gegeben, vor allem unter den älteren Funktionären. Sie haben erlebt, wie die FPÖ quasi als eine NSDAP-Nachfolgeorganisation gegründet wurde. Sie haben die massiven Anwerbungsversuche der ÖVP unter ehemaligen NSDAP-Angehörigen mitbekommen. Einige haben mir gesagt: Na, hamma das notwendig? Aber es ist für die Identität Österreichs und auch für die Identität der Sozialdemokratie wichtig, diese wissenschaftliche Aufarbeitung durchzuführen, auch wenn sie in einzelnen Punkten schmerzhaft ist.
profil: Besonders wenn es so politische Denkmäler wie Karl Renner betrifft, der laut den jetzt veröffentlichten SPÖ-Vorstandsprotokollen ja unglaubliche Sachen von sich gegeben hat.
Gusenbauer: Daran merkt man, dass selbst Leute, die Großes für die Geschichte des Landes geleistet haben, in dieser Zeit Aussagen getroffen haben, die für uns heute völlig inakzeptabel sind.