Heinz Fischer:

Interview: „,Geteilte Schuld‘ lehne ich ab“

„,Geteilte Schuld‘ lehne ich ab“

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profil: Herr Präsident, das Jahr 1934 ist immer noch ein verdrängtes Kapitel der Zeitgeschichte. Warum ist das so?
Fischer: Es war ein blutiges Kapitel, bei dem es Sieger und Besiegte gegeben hat, wobei die Sieger grausam waren – sie haben vom Standrecht Gebrauch gemacht. Das hat tiefe Wunden geschlagen. Andererseits waren die Bürgerkriegsgegner von 1934 ab 1938 gemeinsam Opfer des Nationalsozialismus und ab 1945 Partner in einer Koalitionsregierung – und das viele Jahre hindurch. Daraus ergibt sich dieses eigenartige Spannungsverhältnis.
profil: Nächste Woche werden Andreas Khol und Sie bei einer Gedenkfeier im Parlament sprechen und wohl immer noch stark divergierende Ansichten vertreten. Ist das nach 70 Jahren nicht seltsam?
Fischer: Ganz im Gegenteil: Es wird eine Gedenkveranstaltung in Form eines wissenschaftlichen Symposiums sein, eine Geste in Richtung einer Aufarbeitung oder auch im Sinne des Wortes von Rosa Jochmann: „Versöhnung ja, Vergessen nein.“ Seit dem Handschlag zwischen dem SPÖ-Vorsitzenden Bruno Pittermann und dem ÖVP-Vorsitzenden Alfons Gorbach im Jahr 1964 sind weitere vierzig Jahre vergangen, und Andreas Khol und ich waren der Meinung, die Wahrheit sei zumutbar. Die Veranstaltung wird also kein vordergründiges Versöhnungsritual sein, sondern sie wird versuchen, sich der Wahrheit anzunähern und aufzuarbeiten.
profil: Auch wenn die Standpunkte so unterschiedlich sind?
Fischer: Auch wenn die Standpunkte unterschiedlich sind. Am unterschiedlichsten sind sie ja bezüglich der Person und der Rolle von Engelbert Dollfuß.
profil: Dollfuß wird in einem von Khol im Parlament vorgestellten Buch des Historikers Gottfried Kindermann nicht als autoritärer Führer gezeichnet, sondern als erstes Opfer der Nazis. Was war er Ihrer Meinung nach?
Fischer: An der Rolle von Dollfuß haben sich immer schon die Geister geschieden. Rein historisch betrachtet, gibt es meiner Meinung nach zwei Wahrheiten. Die erste Wahrheit ist, dass Dollfuß eine verheerende Rolle bei der Ausschaltung des Nationalrats im März 1933 und auch im Februar 1934 gespielt hat. Dass er den Parlamentarismus nicht wollte. Dass er darauf beharrt hat, dass Todesurteile gegen politische Gegner vollstreckt wurden. Die zweite Wahrheit ist, dass Dollfuß von einem fanatischen Nationalsozialisten ermordet wurde und hilflos verblutet ist. Einem Menschen, der auf diese Art ermordet wird, kann Mitleid nicht versagt werden. Aber die Rolle von Dollfuß in den Jahren 1933 und 1934 darf deshalb nicht beschönigt oder verharmlost werden. Die andere Seite scheint das so zu sehen, deshalb hängt ja heute noch ein Bild von Dollfuß im ÖVP-Parlamentsklub. Solange die ÖVP das so sieht, ist eine kritische Analyse der historischen Rolle von Dollfuß schwer möglich.
profil: Kann man nicht von geteilter Schuld sprechen? Schließlich haben die Sozialdemokraten im Parteiprogramm von 1926 den Begriff der Diktatur des Proletariats verwendet und 1931 den angebotenen Koalitionseintritt verweigert.
Fischer: Das sehr pointiert formulierte SP-Parteiprogramm von 1926 hat vielleicht den politischen Diskurs zugespitzt, und es kann die Verweigerung des Koalitionseintrittes richtig oder falsch gewesen sein. Aber man kann das nicht auf eine Stufe stellen mit einem staatsstreichartigen Ausschalten des gewählten Parlaments und schon gar nicht mit der Verhängung des Standrechtes und der Hinrichtung politischer Gegner. Deshalb lehne ich den Begriff von einer in zwei gleich große Hälften „geteilten Schuld“ in Übereinstimmung mit fast allen Historikern entschieden ab. Der Sozialdemokratie kann niemand vorwerfen, dass sie den Nationalrat ausgeschaltet oder die Verfassung gebrochen hat oder dass sie politische Gegner hat hinrichten lassen.
profil: Es gibt noch ein anderes Wort: Die einen waren Patrioten, aber keine Demokraten, die anderen waren Demokraten, aber keine Patrioten.
Fischer: Es ist zu pauschal und zu plakativ. Warum man Karl Renner oder anderen Sozialdemokraten Patriotismus abspricht, muss man erst begründen. Und umgekehrt würde ich etwa dem niederösterreichischen Landeshauptmann Reiter durchaus nicht absprechen, Demokrat gewesen zu sein. Auch Leopold Figl und der niederösterreichische Bauernbund haben durchaus noch zur Demokratie gehalten, als andere schon entschlossen waren, sie zu zerstören. Es war die große Errungenschaft der Zweiten Republik, dass man sich dann auf dem Boden der parlamentarischen Demokratie gefunden hat, die Bundesverfassung von 1929 der weiteren Entwicklung zugrunde gelegt hat und ein gemeinsames Österreich-Bewusstsein entwickelt hat.