Interview: 'Massaker, aber nicht Völkermord'

Interview: „Massaker, aber nicht Völkermord“

Selim Yenel, türkischer Botschafter in Österreich

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profil: Herr Botschafter, glücklicherweise führen wir dieses Gespräch in Wien. Wenn wir in Istanbul oder Paris wären, könnten wir im Gefängnis landen …
Yenel: In der Türkei nicht.
profil: Warum? In der Türkei ist die Behauptung eines Völkermordes mit Strafe bedroht, in Frankreich will man nun seine Leugnung verbieten.
Yenel: In der Türkei kommt es ganz darauf an, wie das Gesetz interpretiert wird. Manche Staatsanwälte legen es strenger aus, manche weniger streng.
profil: Im Fall des Schriftstellers Orhan Pamuk wurde es streng ausgelegt – er sollte vor Gericht gestellt werden, nur weil er gesagt hatte, dass eine Million Armenier ermordet wurde.
Yenel: Aber Pamuk musste nicht vor Gericht. Der Staatsanwalt wollte ihn anklagen, der Richter hat den Fall aber nicht zugelassen. Das ist in vielen anderen Fällen genauso gewesen.
profil: Hätte er einen anderen Richter gehabt, wäre möglicherweise auch eine andere Entscheidung gefallen.
Yenel: Vergessen Sie nicht, es gibt noch höhere Instanzen. Und es gibt Mechanismen, um die Meinungsfreiheit zu schützen. Im Fall Pamuk haben sofort die Medien aufgeschrien, auch die Regierung hat klargemacht, dass dies nicht der richtige Weg ist, das Gesetz zu interpretieren. Er war also nicht allein auf weiter Flur.
profil: Das klingt nicht so, als ob das Gesetz in der Türkei unumstritten wäre.
Yenel: Das Gesetz wurde von der EU heftig kritisiert. Deshalb hat das türkische Justizministerium entschieden, erst einmal zu beobachten, wie es in der Praxis angewandt und ob es missbraucht wird. Dann wird entschieden, ob wir es ändern müssen.
profil: Warum soll Geschichte – oder im Fall der Türkei eine Geschichtsinterpretation – überhaupt durch Gesetze geschützt werden?
Yenel: Soll sie ja gar nicht. Wir glauben, dass Geschichte von den Historikern diskutiert werden soll. Es ist nicht Sache der Politiker und der Parlamente, darüber zu entscheiden.
profil: Aber inzwischen darf man seine Meinung darüber offenbar nicht frei äußern – oder in Bezug auf die Armenier etwas sagen, das viele renommierte Historiker genauso sagen würden.
Yenel: Es sollte so viel Meinungsfreiheit geben wie möglich, die Menschen sollten so viel sagen dürfen wie möglich – aber ohne jemanden zu beschimpfen. Es geht in dem Gesetz ja auch nicht in erster Linie um die Armenier, sondern um die Beschimpfung des Türkentums.
profil: Und die Aussage, dass es einen Völkermord an den Armeniern gegeben hat, ist schon eine Beschimpfung?
Yenel: Ja, und ich sage Ihnen auch, warum. Das Wort Völkermord hat ein großes Gewicht. Wenn es auf die Armenier angewendet wird, ist das ein direkter Vergleich zum vorsätzlichen Versuch, die Juden auszurotten. Im Osmanischen Reich war die Situation aber eine völlig andere als in Nazi-Deutschland: Im östlichen Teil der Türkei herrschte 1915 Bürgerkrieg, die Russen versuchten, den Aufstand der Armenier für ihre Zwecke zu benutzen. Deshalb wurden die Armenier von den Osmanen aus der Grenzregion weggeschafft.
profil: Im Zuge von Deportationen, die so angelegt waren, dass viele von ihnen umkommen mussten.
Yenel: Das ist wahr, die Situation damals war sehr schwierig. Ich streite auch gar nicht ab, dass Gräueltaten gegen Armenier begangen wurden. Über 1000 osmanische Bürger wurden dafür vor Gericht gestellt. Das heißt, es gab Verbrechen, für die aber auch jemand zur Verantwortung gezogen wurde. Es sind schlimme Dinge passiert, keine Frage. Aber sie sind auf beiden Seiten geschehen, auch gegen Türken. Nach dem Krieg kam es auch zu einem Prozess auf Malta. Dabei wurden jedoch keine Beweise für einen Genozid gefunden.
profil: Moment: Winston Churchill, damals britischer Kriegsminister, sprach von einem beschämenden Massenmord.
Yenel: Ja. Nennen Sie es Gräueltaten oder Massaker, aber nicht Völkermord. Dieses Wort ist zu viel. Das sollte für etwas viel Schlimmeres vorbehalten sein, für die Ausrottung eines ganzen Volkes.
profil: Nicht notwendigerweise. Nach der Genfer Konvention kann es auch um den Teil eines Volkes gehen. Abgesehen davon: Orhan Pamuk hat nicht einmal das Wort Völkermord in den Mund genommen und wird in der Türkei jetzt dennoch als Verräter betrachtet.
Yenel: Das Wort nicht. Aber er hat gesagt, dass eine Million Menschen gestorben sind.
profil: Wie viele waren es denn Ihrer Meinung nach?
Yenel: Nicht eine Million, um einmal damit zu beginnen. Wir wollen die Zahl nicht kleinreden, jeder Ermordete ist zu viel. Im Osten der Türkei lebten damals zwischen 300.000 und 600.000 Armenier. Selbst wenn es eine Million gewesen wäre – die Armenier behaupten, dass es eineinhalb Millionen Tote gegeben hat.
profil: Das deutsche Kaiserreich, damals ein Verbündeter der Türkei und mit Militär im Land präsent, ging von 800.000 Toten aus.
Yenel: Sie sehen, die Zahlen sind umstritten.
profil: Aber selbst das wären weitaus mehr als die 600.000, von denen Sie gesprochen haben.
Yenel: Es ist möglich. Die Deutschen waren sogar im osmanischen Generalstab vertreten. Sie haben möglicherweise eine gute Vorstellung davon, was passiert ist. Aber überlassen wir es doch den Historikern, in die Archive zu gehen und zu forschen.
profil: Halten Sie es denn für legitim, dass der iranische Präsident Mahmoud Ahmadinejad etwas Ähnliches fordert – eine Historikerkommission über den Holocaust an den Juden?
Yenel: Definitiv nein. Das ist nicht vergleichbar. Der Genozid an den Juden ist gut dokumentiert. Die Vorgänge im Osmanischen Reich sind es nicht. Hier gibt es noch viel, was untersucht werden muss. Das ist es, was wir wollen: eine offene Diskussion.
profil: Eine solche gibt es in der Türkei aber nicht. Ein Beispiel: Sie selbst haben etwa einen Gastkommentar in der „Presse“ veröffentlicht. Darin verwenden Sie das Wort „Massaker“ bei Übergriffen auf Türken, nicht aber bei Morden an Armeniern. Sie schreiben, dass 235 armenische Funktionäre verhaftet wurden, nicht aber, dass man sie anschließend umgebracht hat.
Yenel: Wissen wir das? Das ist Ihre Interpretation.
profil: Nein, eine weithin anerkannte – unter anderem vom Deutschen Bundestag.
Yenel: Das ist jetzt über Jahrzehnte hinweg so gegangen, und wir haben erst in den letzten Jahren begonnen, uns zu verteidigen. Inzwischen haben die Armenier ihre Darstellung zu einem in vielen europäischen Ländern akzeptierten Faktum gemacht, über das sie nun nicht mehr diskutieren wollen. Für sie hat es einen Völkermord gegeben, und daran gibt es ebenso wenig zu rütteln wie an der Tatsache, dass sich die Erde um die Sonne dreht.
profil: Aber die Türkei hat sich ebenfalls bereits festgelegt. Bei Ihnen heißt es eben: Es hat keinen Völkermord gegeben. Könnte dann bei einer Historikerdebatte auch herauskommen, dass es einen Genozid gegeben hat?
Yenel: Nein. Aber das heißt nicht, dass es keine Debatte darüber geben kann. Beide Seiten haben gelitten, die Armenier möglicherweise mehr, weil die Regierung in osmanischen Händen war. Aber es war kein Völkermord.
profil: Der Deutsche Bundestag sieht das völlig anders – und das ist nur ein Beispiel von vielen höchst renommierten und auch unverdächtigen Institutionen.
Yenel: Ich würde ein Urteil von Historikern akzeptieren. Was ich nicht akzeptiere, sind Leute, die einfach sagen: Das ist so passiert, Punkt. Ich frage mich auch, was dahintersteckt, dass die Armenier das Thema nicht ruhen lassen wollen. Was würde passieren, wenn die Türkei akzeptiert, dass es einen Genozid gegeben hat, frage ich jetzt einmal Sie.
profil: Wir nehmen an, Sie wollen auf Wiedergutmachungsforderungen hinaus.
Yenel: Exakt. Armenien wird Territorium fordern. Es steht jetzt schon in seiner Verfassung, dass die Grenzen der Türkei nicht akzeptiert werden.
profil: Macht sich die Türkei mehr über finanzielle und territoriale Ansprüche Sorgen, oder ist es eine Frage der Ehre?
Yenel: Ich würde sagen, dass es überwiegend eine Frage der Ehre ist: die Unvorstellbarkeit, dass wir so etwas gemacht haben.
profil: Wenn Beweise für einen Völkermord auftauchen, sollte die Türkei dann Wiedergutmachung leisten?
Yenel: Es wird keine türkische Regierung geben, die das akzeptiert.
profil: Warum nicht?
Yenel: Bei der Gründung der türkischen Republik durch Kemal Atatürk wurde ein klarer Bruch mit den Osmanen vollzogen, die zuvor geherrscht hatten. Es war ein völliger Neubeginn. Daher fragen wir: Warum sollen wir für etwas verantwortlich gemacht werden, das vor unserer Zeit in einem Teil der Türkei geschehen ist?
profil: Das ist aber billig. Frankreich hat sich übrigens auch lange dagegen gewehrt, Verantwortung für die Taten der pro-nazistischen Vichy-Regierung zu übernehmen – und musste es schließlich trotzdem tun.
Yenel: Das kann man nicht direkt vergleichen. In Frankreich gab es eine homogene Bevölkerung: die Franzosen. Im osmanischen Imperium waren viele Völker vereint. Als es auseinanderbrach, gingen die meisten davon ihrer Wege. Was dann entstand, war eine türkische Republik, die aus eigener Sicht nichts mit dem Osmanischen Reich zu tun hat. Das ist von außen möglicherweise nicht leicht zu verstehen. Es gibt heute ein gesteigertes Interesse an der Geschichte dieser Zeit. Vielleicht wird das einiges ändern. Aber wir brauchen einen Dialog.
profil: Sie bestreiten nicht, dass es Massaker an Armeniern gegeben hat. Gibt es in der Türkei eigentlich Denkmäler für sie?
Yenel: Nein.
profil: Warum nicht?
Yenel: Es hat noch niemand den Wunsch geäußert, eines aufzustellen.
profil: Schwer zu glauben. Das war die größte Katastrophe in der Geschichte dieses Volkes. Dürften die Armenier überhaupt ein Denkmal aufstellen?
Yenel: Kommt darauf an, wie es formuliert wäre. Genozid dürfte wohl nicht draufstehen. Es sind damals ja auch viele Türken ermordet worden. Aber wie gesagt: Es gab seitens der noch immer existierenden armenischen Gemeinde in der Türkei nie einen entsprechenden Wunsch. Die Armenier hier oder in Armenien selbst denken ganz anders als jene in Frankreich oder den USA – die sind weit extremistischer und üben Druck aus, um die Normalisierung des Verhältnisses zu verhindern.
profil: Das heißt, die Armenier selbst sind verantwortlich, dass die Situation so verfahren scheint?
Yenel: Wir versuchen, den Armeniern zu vermitteln, dass sie nach vorne blicken sollen. Wir machen auch keine große Geschichte daraus, dass fünf Millionen Türken nach dem Zusammenbruch des osmanischen Imperiums am Weg von Europa in die Türkei getötet wurden. Wir blicken in die Zukunft.

Interview: Martin Staudinger,
Robert Treichler