Karriere & Ausbil-dung: Gary S. Becker

Interview: „Mehr private Hochschulen“

Forderung nach lebenslan-ger Investition in Bildung

Drucken

Schriftgröße

profil: In Deutschland wurde der von Ihnen geprägte Begriff Humankapital jüngst zum Unwort des Jahres 2004 gewählt. Die Jury meinte, dass „Humankapital nicht nur Arbeitskräfte in Betrieben, sondern Menschen überhaupt zu nur noch ökonomisch interessanten Größen degradiert“. Verstehen Sie die Kritik?
Becker: Das ist ein alter Vorwurf, und er ist natürlich vollkommen falsch. Die moderne Verwendung des Begriffs Humankapital reduziert den Menschen nicht auf Dollar und Cent, was wohl der Ansatzpunkt der Kritik ist. Aber es ist richtig, dass Politiker steigende Kosten einfach damit rechtfertigen, dass sie diese Investitionen als Humankapital bezeichnen. Das klingt schlichtweg besser und ist ein Grund, weshalb der Begriff manchmal fälschlich verwendet wird. Das ist aber nichts, was der Begriff an sich beinhaltet.
profil: Was bedeutet er dann?
Becker: Er beinhaltet eine Vielzahl an Elementen: das Wissen, die Fähigkeiten sowie die Gesundheit von Menschen. Zurzeit werden die Zusammenhänge zwischen Gesundheit und Humankapital untersucht. Dabei geht es auch um die Kosten, die zur Steigerung von Lebensqualität und Lebensdauer notwendig sind. Das sind keine direkten wirtschaftlichen Faktoren, aber sie sind überaus wichtig. Humankapital beschäftigt sich auch mit dem Konsumverhalten im weitesten Sinne. Mit den Auswirkungen höherer und besserer Bildung etwa, ob diese Menschen mehr Bücher konsumieren, ob sie auf eine gesündere Ernährung Wert legen.
profil: Welchen Stellenwert besitzt Humankapital in einer Volkswirtschaft?
Becker: Es ist die wichtigste Form von Kapital in einer modernen Ökonomie. Nehmen wir Volkswirtschaften wie jene Deutschlands, der USA oder Österreichs. Rund 70 Prozent des Kapitals dieser Volkswirtschaften basieren nicht auf Maschinen, Gebäuden oder Aktien, sondern auf dem Wissen und dem Können der Menschen. Eine moderne Volkswirtschaft gründet sich auf Wissen. Das ist genau das, worum es bei Humankapital geht.
profil: Ändert sich der Charakter einer solchen Volkswirtschaft?
Becker: Er ändert sich dramatisch. Wohlstand in Form von Humankapital besteht aus gegenwärtigen und künftigen Gewinnen aus Bildung, Wissen, Können und Gesundheit. Da Löhne und Gehälter in den entwickelten Ländern zusammen mehr als 75 Prozent des nationalen Einkommens ausmachen, verwundert es nicht, dass Humankapital den vier- bis fünffachen Wert von Aktien, Anteilen, Immobilien und anderen Assets erreicht.
profil: Und was folgt daraus?
Becker: Aus der dominanten Position des Humankapitals folgt, dass selbst drastische Veränderungen an den Börsen wenig Einfluss auf das Verhalten des Einzelnen haben, solange ein Börsenkrach nicht auch den Wert seines Humankapitals verändert. Im Zuge des Börsenkrachs von 1987 wurde in den USA der Reichtum um gut acht Prozent gemindert, auf die Konsumenten und Unternehmen hatte das aber kaum Auswirkungen. In Mitleidenschaft wurden lediglich die Luxusgüterindustrie und Sicherheitsfirmen gezogen, eben weil der Wert des Humankapitals nicht unter Druck geriet. Selbst ein allgemeiner Kurseinbruch von 25 Prozent an der Börse, in dessen Verlauf Billionen Dollar vernichtet würden, würde den Reichtum der USA, inklusive des Humankapitals, um gerade einmal drei Prozent mindern. Ein Szenario wie 1927 ist aufgrund des Humankapitals eigentlich nicht mehr möglich. Je höher das persönliche Humankapital, desto unabhängiger ist man von den Aktienmärkten.
profil: Wird zu wenig in Humankapital investiert?
Becker: Wenn man diese Investitionen unterlässt, ist man auf dem schnellsten Weg zu einer Dritte-Welt-Gesellschaft. Aber sehen Sie sich jene Dritte-Welt-Länder an, die sich gegenwärtig am schnellsten entwickeln, Länder wie Indien oder China. Das sind Gesellschaften, die sich der Bedeutung von Investitionen in Wissen, Gesundheit und Ausbildung bewusst sind. Sie wissen, dass es auf Bildung und Fähigkeiten ankommt. Im neuen indischen Budget, das gerade beschlossen wurde, wird der Bildung ungleich mehr Bedeutung zuerkannt als zuvor. Ebenso der Gesundheitsversorgung in den ländlichen Gebieten. Das alles sind Investitionen in Humankapital.
profil: Wie verhält sich dies in den USA?
Becker: Das ist eine gute Frage. Ich weiß nicht, was die richtige Antwort ist. Betrachten wir die beiden Hauptkomponenten Bildung und Gesundheit, dann könnte im Bereich der Grundversorgung wesentlich bessere Arbeit geleistet werden. Das Bildungssystem ist in einigen Bereichen sehr gut, in anderen leider nicht. In der Schulausbildung könnte mehr gemacht werden, an den Universitäten ist die Lage gut. Wir zahlen 10.000 Dollar pro Jahr und Studenten. Es stellt sich nur die Frage, ob dieser Betrag auch gut eingesetzt wird. Das Gesundheitswesen macht rund 15 Prozent des Budgets aus. Dennoch wird in einige Bereiche zu wenig investiert, in andere, glaube ich, wiederum zu viel. Es sind wohl rund 30 Prozent unseres Bruttosozialprodukts, die in den USA in Bereiche des Humankapitals investiert werden.
profil: In den USA wie auch in Europa wird das öffentliche Schulsystem immer wieder als ineffizient und zu teuer kritisiert.
Becker: Das ist eine äußerst wichtige Komponente. Ich denke, wir brauchen mehr Wettbewerb zwischen den öffentlichen Einrichtungen. Und mehr Wettbewerb, der auch private Institutionen mit einbezieht. Gerade die Kritik, die sich auf die Grundausbildung bezieht, ist gerechtfertigt.
profil: Wie beurteilen Sie in diesem Zusammenhang die Situation in Europa?
Becker: Ich weiß, dass in Deutschland in Zusammenhang mit der PISA-Studie heftige Kritik am Schulsystem geübt wird. Aber die größten Probleme in Europa bestehen auf der Ebene der Universitäten, die in vielen Bereichen hinter die amerikanischen zurückgefallen sind.
profil: Ist das amerikanische System, wo ein großer Teil der Universitäten privatwirtschaftlich organisiert ist, das erfolgreichere?
Becker: Auf jeden Fall. Wir haben ein sehr wettbewerbsorientiertes System aus privaten und öffentlichen Einrichtungen. Die meisten Studenten sind zwar an den öffentlichen Universitäten, aber viele sind an berühmten privaten wie Harvard, Stanford, Chicago, Yale oder Princeton. Den Europäern täten mehr private Hochschulen gut und auch mehr Wettbewerb zwischen den Universitäten. Das ist eine der großen Chancen in Zusammenhang mit der Erweiterung der Europäischen Union, dass es unter den Universitäten zu mehr Wettbewerb kommt.
profil: Was können Unternehmen tun, um das Humankapital ihrer Mitarbeiter zu stärken?
Becker: Grob geschätzt kann man davon ausgehen, dass rund vier Prozent des Bruttosozialprodukts von den Unternehmen in Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen investiert werden. Je schlechter es um ein Bildungssystem bestellt ist, desto mehr müssen die Unternehmen in diesen Bereich investieren. Sie tun viel, und wir wissen auch, wie wichtig diese Investitionen sind, wenngleich wir sie kaum wahrnehmen, weil es am entsprechenden statistischen Material fehlt. Prinzipiell gehe ich davon aus, dass jede Maßnahme der Weiterbildung im Beruf ganz wesentlich ist.
profil: Und auch messbaren Nutzen bringt?
Becker: In Unternehmen, die ein berufliches Fortkommen anbieten, die Karriere ermöglichen und fördern, sind die Mitarbeiter ungleich motivierter und treuer als in jenen, die darauf verzichten. In Europa ist zudem die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes von grundlegender Bedeutung. Man muss auf Bildung, Gesundheit und flexible Ökonomien setzen, sodass die Menschen gezielt in bestimmte Bereiche des Humankapitals investieren können. Nach den Lissabon-Zielen soll die EU bis 2010 der dynamischste Wirtschaftsraum der Welt werden. Das wurde jetzt zeitlich zwar nach hinten verschoben, aber an der Zielsetzung selbst hat sich nichts geändert. Das bedeutet wiederum vermehrte Investitionen in das Humankapital, um die Dynamisierung zu erreichen.
profil: Das klingt aber recht theoretisch.
Becker: In einer dynamischen Wirtschaft muss man seine eigenen Fähigkeiten dauernd erweitern und anpassen. Nehmen wir das Internet. Dieses neue Medium ist perfekt geeignet, um Erwachsenen in ihrem Bedürfnis nach Weiterbildung entgegenzukommen. Das ist ein neuer Weg, Wissen und Fähigkeiten zu erwerben. Zudem ist E-Learning flexibel, individuell und dynamisch. Davon profitieren Personen, die eine Postgraduate-Ausbildung machen wollen, oder Ärzte, die sich dauernd informieren müssen, wenn sie auf der Höhe der Zeit bleiben wollen. Davon profitieren Unternehmen, welche die Fortbildung im Haus, direkt am Arbeitsplatz, anbieten können. Und ganz nebenbei werden dadurch Netzwerke aufgebaut, die ein Wert für sich sind. Und wieder Gesundheit: Wer auf sich achtet, ist leistungsfähiger und belastbarer, das sind wesentliche Voraussetzungen für Humankapital.
profil: Die Akkumulation von Humankapital …
Becker: … endet nie. Schon gar nicht in einer dynamischen Wirtschaft, in der Wissen und Kompetenz immer wichtiger werden. Das ist ein lebenslanger Prozess. Als ich aus der Schule kam, da gab es noch keine Computer. Hätte ich nicht gelernt, mit Computern umzugehen, wäre ich in meinem Beruf vollkommen obsolet. Also musste ich in diesen Bereich für mich investieren. Wir sind ununterbrochen mit derartigen Herausforderungen konfrontiert. Das betrifft jeden. Einerlei, wo er sich im Wirtschaftsleben befindet, ob ganz oben oder ganz unten. In der modernen Welt muss man ein Leben lang in seine Bildung und in seine Gesundheit investieren.
profil: Und wer das nicht tut, bleibt über?
Becker: Absolut. Es sei denn, Sie entscheiden sich für die Teilnahme an einer rückwärtsgewandten Wirtschaft, an einer, die in erster Linie von Landwirtschaft geprägt ist. Wenn Sie aber an den Wirtschaften der führenden Länder teilhaben wollen, spielt das eine ganz wesentliche Rolle. Dazu kommt, dass gut ausgebildete Menschen auch bereit sind, sich geografisch zu verändern. Ich plädiere seit Langem für eine Flexibilisierung des US-Einwanderungsregimes, damit es Studenten und Fachleuten erlaubt wird, sich problemlos bei uns niederzulassen. Einwanderer verbessern nicht nur ihre eigene ökonomische Situation, sie schaffen indirekt wieder Arbeitsplätze für die ansässige Bevölkerung. Rund ein Drittel der Unternehmer und Top-Leute in Silicon Valley kommen aus Übersee. Humankapital geht dorthin, wo es die besten Voraussetzungen vorfindet.
profil: Das geht dann doch in erster Linie zulasten jener Länder, die sich erst entwickeln müssen?
Becker: Nicht notwendigerweise. Es wird zu einem Wettbewerb kommen, zu mehr Dynamik. Es gibt in den Entwicklungsländern auch viele Möglichkeiten, die Grundschulbildung zu verbessern, den Schulbesuch attraktiv zu machen. Die Eltern, die ihre Kinder in die Sweatshops arbeiten schicken, tun das nicht, um sich mehr leisten zu können, sie tun es, um überleben zu können. Wenn man nun den Müttern Geld dafür anbietet, dass sie ihre Kinder in die Schule schicken, bietet man ihnen eine Alternative. In der mexikanischen Provinz Chiapas wurde so ein Programm sehr erfolgreich gestartet. Und ich weiß mittlerweile von Ländern in Lateinamerika, Afrika und Asien, die diesen Ansatz verfolgen. Das sind Investitionen, die sich gesamtgesellschaftlich rechnen, da sie sich auf die wirtschaftliche Entwicklung auswirken.
Interview: Franziskus Kerssenbrock

Gary Stanley Becker, 74,
geboren in Pottsville, Pennsylvania, hatte als Kind kaum Interesse an Wirtschaft, sondern vielmehr an Mathematik. Doch da er seinem Vater täglich die Börsennachrichten vorlesen musste, erlangte er sozusagen nebenbei ökonomische Grundkenntnisse. Als Student an der Universität Princeton wollte sich Becker der Soziologie zuwenden, da er meinte, die Wirtschaft trage nichts zur Lösung gesellschaftlicher Probleme bei. Nach einem Wechsel an die Universität von Chicago 1951 lernte er Milton Friedman kennen, dessen Vorlesung in Mikroökonomie ihn interessierte. 1957 wurde Becker Assistenzprofessor an der Universität von Chicago, 1960 wechselte er an die Columbia University und arbeitete zusätzlich am National Bureau of Economic Research. 1972 erschien, als Ergebnis seiner Tätigkeiten, sein Buch über Humankapital. Ein Schwerpunkt war auch die Erforschung der Familie, wobei Becker unter anderem auf den ökonomischen Nutzen von Kindern für ihre Eltern hinwies. 1982 erschien „A Treatise on the Family“. Zehn Jahre später erhielt er für seine Arbeiten den Nobelpreis für Wirtschaft. Becker lebt und arbeitet heute als Professor für Volkswirtschaft in Chicago.