Otmar Issing:

Interview: „Nein, er ist nicht tot“

„Nein, er ist nicht tot“

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profil: Freuen Sie sich schon auf die kon-junkturpolitischen Debatten mit dem neuen deutschen Bundespräsidenten?
Issing: Wieso?
profil: Horst Köhler, der wahrscheinliche neue Bundespräsident und bisherige Chef des IWF, kritisiert ja, dass sich Europa in Zeiten schwacher Konjunktur quasi selbst die Hände binde. Durch die budgetären Sparprogramme und weil die EZB die Zinsen nicht senkt, verzichte man auf die Schaffung zusätzlicher Nachfrage. Budgetsparen wird von der EZB ständig eingemahnt, und Zinssenkung halten Sie derzeit für falsch.
Issing: Lassen Sie uns zunächst einmal festhalten, wovon wir reden. Bekanntlich haben sich die EU-Staaten auf dem Weg zum Euro budgetpolitischen Regeln unterworfen, die letztlich in die Form des Stabilitätspakts gegossen wurden. Ich glaube, dass das mit gutem Grund so geschehen ist. Die entsprechenden Regeln sind gültig. Zum Zweiten, zur Geldpolitik: Das Mandat der EZB geht auf eine Entscheidung aller EU-Staaten zurück, patrifiziert durch alle Parlamente. Der Souverän hat entschieden. Die vorrangige Aufgabe der EZB ist es, die Preisstabilität zu erhalten. An dieses Mandat haben wir uns zu halten. Wir tun dies nicht allein aus Achtung vor dem Recht, sondern auch aus voller Überzeugung über die Aufgabe einer Notenbank. Auf dieses Mandat ist
unsere Zinspolitik ausgerichtet.
profil: Und was Köhler angeht? Er ist Finanzfachmann und ausgebildeter Ökonom wie Sie – wenngleich kein Professor. Auch weltanschaulich und politisch kommen Sie praktisch aus dem gleichen Stall. Nach Köhlers Abgang vom IWF haben die „Financial Times“ und andere Blätter unter den potenziellen Nachfolgern im IWF auch Ihren Namen mehrfach genannt. Wo liegt der große Unterschied in Ihrer beider Einschätzung der Situation?
Issing: Ich will da keine große Ursachenforschung betreiben. Es stimmt, in unserer Grundausrichtung, Philosophie oder wie immer Sie es nennen wollen, haben Horst Köhler und ich eine ganze Reihe von Gemeinsamkeiten. Über Kritik von seiner Seite wäre ich überrascht: Er hat den Maastricht-Vertrag mitverhandelt. Vielleicht spielt es aber auch eine Rolle, dass man aus der Distanz von Washington, dem Sitz des IWF, die Risken unterschätzt, die darin liegen, wenn klare Regeln so eindeutig verletzt werden.
profil: Sie meinen die Regeln des Stabilitätspakts, die von Deutschland und Frankreich gebrochen wurden?
Issing: Die meine ich.
profil: Was die Zinspolitik betrifft, so hat die EZB Anfang März alle jene enttäuscht, die auf eine Zinssenkung im Zentralbankrat gehofft haben. Politiker wie Gerhard Schröder, Jean-Pierre Raffarin oder Romano Prodi haben eine Senkung gefordert. Warum lehnt die EZB das ab? Zumal die Inflation sinkt und der Konjunkturmotor jetzt wieder stottert?
Issing: Das jetzige Zinsniveau ist angemessen. In der zweiten Jahreshälfte 2003 hat der Wirtschaftsaufschwung begonnen. Obwohl die Informationen und Indikatoren derzeit tatsächlich etwas widersprüchlich sind, erwarten wir, dass sich der Aufschwung allmählich verstärken und verbreitern wird. Die Entwicklung wird mit niedrigeren Inflationsraten verbunden sein. Kurzfristig werden diese Raten möglicherweise stark schwanken, die Tendenz nach unten aber bleibt. Für 2004 und darüber hinaus erwarten wir eine Inflationsrate von weniger als zwei Prozent – bei gegebenen Zinssätzen. Wir haben gegenwärtig die niedrigsten Notenbankzinssätze, die es nach dem Krieg in Europa je gab. Trotz der Euro-Aufwertung wirkt die Geldpolitik immer noch expansiv. Insgesamt ergibt das ein Szenario, das die Angemessenheit des gegenwärtigen Zinsniveaus bestätigt.
profil: Jüngst publizierte Unternehmerumfragen zeigen aber, dass die Wirtschaft dem Aufschwung nicht so recht traut. Könnte der Zinspolitik da nicht wichtige Signalwirkung zukommen?
Issing: Von der Entscheidung, die Notenbankzinsen unverändert zu lassen, geht ein wichtiges und eindeutiges Signal aus: Wir erwarten Preisstabilität, verbunden mit einer anhaltenden wirtschaftlichen Erholung.
profil: In Europa steigen zwar – mehr oder weniger – wieder die Investitionen. Die Konsumenten hingegen lassen völlig aus. EZB-Präsident Jean-Claude Trichet hat die europäischen Verbraucher jüngst sogar in einem Appell zum eifrigeren Konsumieren aufgefordert.
Issing: Die Verbraucher, das heißt die Bürger im Euro-Raum, waren tief verunsichert. Die Irak-Kriegs-Debatte des vergangenen Jahres und eine Reihe weiterer Faktoren haben dazu beigetragen, dass sie in ihrem Ausgabeverhalten sehr vorsichtig geworden sind. Ein anhaltendes, kräftiges Wachstum im Euro-Raum ist aber ohne eine deutliche Erholung des Konsums kaum vorstellbar. Schließlich verkörpert dieser den größten Teil der heimischen Nachfrage. In der zweiten Jahreshälfte 2003 waren es hauptsächlich außenwirtschaftliche Impulse, welche die europäische Konjunktur belebt haben. Wir erwarten, dass sich deren Effekte nun in verstärkte Inlandsnachfrage umsetzen. Tritt diese Entwicklung nicht ein, dann haben wir es mit einer neuen Situation zu tun. Wie immer werden wir dann neu analysieren und entsprechend handeln.
profil: Das heißt, wenn die Konsumnachfrage in den nächsten Wochen die Steigerungsraten, von denen Sie ausgegangen sind, nicht erreicht, dann senken Sie bei der nächsten Zentralbankratssitzung die Zinsen?
Issing: Noch einmal: Wir handeln immer auf der Basis einer eingehenden Analyse der Risiken für die Preisentwicklung in der Zukunft.
profil: Glauben Sie ernsthaft, dass ein Verbraucher-Appell des Zentralbankpräsidenten den Konsumenten Kaufvertrauen einflößt, wenn die Angst um den Arbeitsplatz umgeht und keiner weiß, welche Reformen noch auf uns zukommen?
Issing: Zweifellos herrscht gegenwärtig eine generelle, größere Unsicherheit über die Zukunft, nicht zuletzt über die Entwicklung des Arbeitsmarktes. Umso wichtiger ist es für die EZB, in der Stabilitätsfrage keine Befürchtungen aufkommen zu lassen und verlässlich zu sein.
profil: Der Euro hat vis-a-vis dem Dollar seit 2000 um fünfzig Prozent aufgewertet, zuletzt rutschte er ab. Wie geht’s weiter?
Issing: Das jetzige Niveau des Euro-Kurses liegt etwas über dem langfristigen Durchschnittskurs zwischen Dollar und Euro beziehungsweise den früheren Währungen der jetzigen Währungsunion. Für Exporteure, die derzeit unter dem harten Euro leiden, wird diese Bemerkung keine große Beruhigung darstellen. Auf der anderen Seite sollte man nicht die erhebliche Entlastung für die Verbraucher übersehen. Denken Sie zum Beispiel nur daran, wo der Benzinpreis ohne den Wechselkurseffekt gelegen hätte.
profil: Die USA haben ein gewaltiges außenwirtschaftliches Defizit. Das lässt sich durch weitere Dollar-Abwertung reduzieren. Um es ganz wegzubringen müsste der Euro-Kurs auf etwa 1,90 Dollar steigen, hat die OECD jüngst errechnet. Wird die EZB es so weit kommen lassen?
Issing: Ich halte nicht sehr viel von Berechnungen dieser Art, die Effekte mit vielfältigen Nebenwirkungen zu quantifizieren versuchen.
profil: Der Euro hat bisher einen Beitrag zu diesem Anpassungsprozess, also zum Abbau dieses transatlantischen Ungleichgewichts in den Leistungsbilanzen, geleistet. Soll Europa weitere Beiträge leisten?
Issing: Ich würde sagen, dass der Euro seinen Beitrag dazu geleistet hat. Freilich – damit sind die langfristigen Ungleichgewichte in der Welt ja noch nicht behoben. Die Aufwertung des Euro war ein Beitrag dazu. Ein wichtiger, aber nur einer. Auf die schädlichen Wirkungen exzessiver Schwankungen haben wir immer wieder verwiesen.
profil: Das klingt, als sei die Euro-Aufwertung weit genug gegangen. Was tut die EZB, wenn der Euro doch weiter steigt und, zum Beispiel, auf 1,40 Dollar zuklettert? Am Devisenmarkt intervenieren?
Issing: Über die Möglichkeit von Interventionen spricht man am besten nicht.
profil: Manche argumentieren freilich mit der globalen Verantwortung, die Europa habe. In diesem Sinn habe Euro-Land noch ein Stück mehr an Wechselkursaufwertung zu ertragen.
Issing: Ich glaube, dass der Beitrag des Euro-Raums im Sinne der globalen Verantwortung vor allem darin liegt, das Wachstumspotenzial Europas zu erhöhen und es besser auszuschöpfen. Wenn Europa als Investitionsstandort attraktiver wird …
profil: … Sie meinen mittels der von der EZB immer wieder geforderten weit reichenden Strukturmaßnahmen …
Issing: … dann werden die Ersparnisse des Euro-Raums stärker für Investitionen in Europa eingesetzt werden, dann zieht Europa Kapital an, dann wächst Europa stärker. Das ist dann ein ganz wesentlicher Beitrag zu höherem Wachstum in der Welt – und auch zur Stabilität.
profil: Ein langfristiger Aspekt. Kurzfristig aber könnte man Europas Wirtschaft theoretisch auch helfen, indem man beispielsweise am Devisenmarkt interveniert, wie etwa Japan. Was sagen Sie grundsätzlich zum Instrument der Interventionen?
Issing: Wenn die Welt mit großen Ungleichgewichten konfrontiert ist, dann gibt es keinen einfachen Weg aus dieser Situation heraus. Durch riesige Interventionen kann man sich nicht auf Dauer „freikaufen“.
profil: In Deutschland dürften die Wachstumsprognosen 2004/2005 nicht halten. Bleibt das so, dann ist eine Rückkehr zum Stabilitätspakt in noch weitere Ferne gerückt als gedacht. Frankreich steht diesbezüglich sowieso ganz schlecht da, und England – wiewohl kein Euro-Land – kann die 3-Prozent-Defizitgrenze auch nicht mehr einhalten. Ist der Stabilitätspakt jetzt endgültig tot?
Issing: Nein, er ist nicht tot. Das können Sie schon daran sehen: Seine Regeln wurden zwar verletzt, aber die betroffenen Regierungen haben ihre Entschlossenheit bekundet, ihre Defizite so bald wie möglich, jedoch spätestens 2005, unter die Grenze von drei Prozent zurückzuführen. Genau das sah auch der Vorschlag der Kommission vor.
profil: Das klingt, als glaube die EZB unverbrüchlich an das geschriebene Wort und täte alles, die böse Welt der Wirklichkeit dabei geflissentlich zu ignorieren.
Issing: Es steht Ihnen frei, skeptisch zu sein. Die EZB hat eine klare Position: Der Pakt ist unverändert sinnvoll. Es wird in Zukunft entscheidend darauf ankommen, dass in Zeiten einer guten Konjunkturlage die Haushalte der EU-Staaten ausgeglichen oder im Überschuss sind. Das Bewusstsein, dass man viel stärker als bisher auf die Einhaltung dieses Prinzips achten muss, ist nach den Erfahrungen der letzten Jahre deutlich gewachsen.
profil: Eine Regierung, die bei guter Konjunktur der Bevölkerung vor Wahlen was wegnimmt, wird abgewählt.
Issing: So einfach ist der Befund nicht. Belgische Politiker zum Beispiel versichern, es sei in ihrem Land absolut populär, die Staatsfinanzen zu konsolidieren, und es schade dem Image bei den Wählern, wenn der Eindruck entsteht,
eine politische Gruppierung würde es damit nicht so genau nehmen. Der „peer pressure“ der EU-Mitgliedsländer untereinander muss zunehmen. Nachzügler der Budgetkonsolidierung in guten Konjunkturzeiten darf man nicht mehr so leicht davonkommen lassen.
profil: Dass man den Stabilitätspakt ändert, dass man beispielsweise bei der Berechnung der Defizite die Infrastrukturinvestitionen herausnimmt, wie vielfach vorgeschlagen – davon halten Sie nichts?
Issing: Im bestehenden Pakt gibt es ohnehin ausreichenden Spielraum in den Vorgaben für die Finanzpolitik. Ich halte gar nichts davon, bei der Berechnung der Defizite weitere Unterscheidungen nach sozusagen „guten“ und „weniger guten“ Ausgaben einzuführen. Das führt nur zu Unsicherheit und endet in Willkür.