Interview: „Ökono-misch schwachsinnig“

Interview: „Ökonomisch schwachsinnig“

Hannes Androsch hält nichts vom Nulldefizit

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profil: Sie waren sozialdemokratischer Spitzenpolitiker, Chef einer großen Bank und sind heute erfolgreicher Industrieller. Was unterscheidet einen sozialdemokratischen Industriellen von einem christlich-sozialen Unternehmer?
Androsch: Es wäre gut, wenn diesbezüglich kein Unterschied bestünde. Das hieße dann nämlich, dass beide seriös und professionell beurteilen, wie die Wirtschaft funktioniert und wie sich ein Unternehmen im nationalen, europäischen und globalen Umfeld zu verhalten hat. Dass beide mit dem Verständnis an die Aufgabe herangehen, dass der wichtigste Faktor die Menschen, die Mitarbeiter sind, die zwar mit Kosten verbunden sind, aber mehr sind als reine Kostenstellen. Dass beide ihre Aufgabe mit der notwendigen sozialen und ethischen Verantwortung wahrnehmen und nicht als Hit-and-Run-Akteure oder Raider-Dealer oder nur als passive Investoren agieren, die bloß in möglichst kurzer Zeit möglichst großen Nutzen ziehen wollen.
profil: Das ist der Idealfall, den Sie schildern. Wie sieht es aber in der Realität aus?
Androsch: Ich könnte nicht erkennen, warum beispielsweise jemand wie Böhler-Uddeholm-Chef Claus Raidl, der ja ein deklarierter Christlich-Sozialer und wirtschaftspolitischer Vordenker der ÖVP ist, diesbezüglich eine andere Einstellung haben sollte oder in unternehmerischen Sachfragen anders entscheiden sollte als ein sozialdemokratischer Unternehmer.
profil: Dass unternehmerische Entscheidungen ausschließlich rational ohne jegliche weltanschaulich-ideologische Komponente getroffen werden, hört sich ein wenig idealistisch an.
Androsch: Ein christlich-sozialer Unternehmer wird mit den päpstlichen Enzykliken als Handlungsanleitung sicher nicht das Auslangen finden. Zum Verständnis der modernen Wirtschaft werden die ideologischen Positionen der katholischen Kirche nicht ausreichen, da muss ein Unternehmer schon noch ein zusätzliches Stück Weg zurücklegen. Das gilt nach meinem Verständnis aber in ähnlicher Form auch für die Sozialdemokratie. Denn es liegt auf der Hand, dass ein großer Unterschied besteht, ob man im frühindustriellen Ausbeutungskapitalismus für die fundamentalen Rechte der Ausgebeuteten kämpft oder ob die Sozialdemokratie kraft ihrer politischen Stärke in der heutigen Massenwohlfahrtsgesellschaft mitverantwortlich dafür ist, zu sagen, wie man etwas erwirtschaftet. Also: wie der Kuchen gebacken werden soll, über dessen Verteilung man sich dann unterhalten kann.
profil: Und wie soll der Kuchen gebacken werden?
Androsch: Da kann man im Einzelfall natürlich unterschiedliche Auffassungen haben: ob man deutlicher für größere Gleichheit in der Einkommensverteilung eintritt oder nicht, ob man für Investitionen in die Zukunft eintritt oder ob man den Konsum fördert und auf Zukunftsinvestitionen tendenziell verzichtet, um nur zwei, allerdings zwei wichtige Aspekte zu nennen. Darüber kann man diskutieren. Aber um die Grundtatsache, dass man nur verteilen kann, was man erwirtschaftet hat, wird man nicht umhinkommen. Und daher glaube ich, dass die Sozialdemokratie nicht nur eine soziale Verteilungsaufgabe haben muss, sondern auch eine effizient-leistungsorientierte Wirtschaftsstruktur ermöglichen muss. Die beste Sozialpolitik ist eine gute Wirtschaftspolitik, und genau die haben wir heute in großen Bereichen Europas und auch in Österreich nicht.
profil: Das vielleicht gravierendste wirtschaftspolitische Problem ist die steigende Arbeitslosigkeit. Was wären geeignete Maßnahmen, um dieses Problem zu lindern?
Androsch: Wir haben in Europa seit dem Frühjahr 2000 zunächst eine als solche geleugnete Rezession gehabt und seither ein zu geringes Wachstum, man könnte sagen, so etwas wie eine Wachstumsrezession. Das gilt auch für Österreich, wo die letzten fünf Jahre die wachstumsschwächste Fünfjahresperiode seit 1950 waren, was sich in hoher und steigender Arbeitslosigkeit auswirkt, die bei uns statistisch kaschiert wurde. Diese statistische Camouflage muss jetzt etwas korrigiert werden, und das Ergebnis kommt damit der Wahrheit schon ein wenig näher. Wenn man jetzt noch die hypertrophe Frühpensionierungspolitik berücksichtigt und zumindest die Hälfte der Frühpensionisten zur Arbeitslosenzahl dazurechnet, dann sind wir in Österreich, was die Arbeitslosigkeit betrifft, nicht mehr besser als der europäische Durchschnitt.
profil: Aber die Arbeitslosigkeit steigt doch nicht bloß, weil die statistischen Berechnungsmethoden geändert wurden?
Androsch: Das ist richtig. Das geringe Wirtschaftswachstum bedeutet für die öffentlichen Haushalte, dass sie wegen der Arbeitslosenzuschüsse mehr Ausgaben und geringere Einnahmen haben. Und wenn man dann noch eine Nulldefizitfantasie oder besser -fantasterei entwickelt, verschärft das die Situation zusätzlich und geht zulasten der öffentlichen Investitionen. Wir haben in Europa eine Nachfragelücke und zugleich eine Sparquote, die sehr viel höher als in den USA ist. Wir machen weder eine gemeinsame europäische Wirtschaftspolitik, noch machen wir eine nationale Wirtschaftspolitik. Und wenn Wirtschaftspolitik gemacht wird, ist sie deflationistisch.
profil: Wie kriegt man die Leute dazu, Fernseher, Küchengeräte und Autos zu kaufen, anstatt ihr Geld auf die Bank zu tragen?
Androsch: Für den Einzelnen ist Sparen sicherlich eine Tugend, vorausgesetzt, dass die ersparten Mittel anderswo sinnvoll zum Einsatz gelangen. Wenn die privaten Haushalte, wenn der Einzelne aus Angst um seine Altersvorsorge, aus Angst um seinen Job viel spart, dann nimmt normalerweise der Unternehmenssektor einen erheblichen Teil dieser Mittel in Form von Krediten auf. Wenn aber die Nachfrage nicht hinreichend ist und Überkapazitäten bestehen, dann gibt es keinen Grund zu investieren. Und wenn man noch mit den Folgen des Platzens der Börsenblase vom März 2000 konfrontiert ist, werden in den Unternehmen eben die Kosten gesenkt, was sehr oft auch mit der Freisetzung von Mitarbeitern verbunden ist und dann zu der wenig erfreulichen Optik führt, dass Kündigungen erfolgen und gleichzeitig die Aktienkurse und die Gewinne steigen und die Manager noch größere Remunerationen bekommen, bis hin ins Obszöne. Das empört die Leute.
profil: In Deutschland werden diese Themen von der ehemaligen PDS aufgegriffen, die sich nun Linkspartei nennt und den Umfragen zufolge bei den Wahlen im September großen Zuspruch erwarten darf.
Androsch: Linkspopulismus ist so wenig erfreulich wie Rechtspopulismus, notabene wenn er sich auch noch mit Fremdenfeindlichkeit „schmückt“, wie das in Deutschland der Fall ist. Solche Bewegungen, auf welcher Seite des politischen Spektrums auch immer, sind Protestbewegungen. Es gab Populisten in den Niederlanden, und in Frankreich gibt es Le Pen, um nur zwei Beispiele herauszugreifen. In Deutschland sind – etwa bei der ökonomischen Handhabung der Wiedervereinigung – viele Dinge nicht sehr geschickt gemacht worden. Daher gibt es Unzufriedenheit sowie Sorgen, und es gibt Empörung über geradezu obszöne Skandale, wie sie etwa bei VW und Mercedes bekannt wurden. Und das ergibt dann ein beachtliches Reservoir für Protestverhalten bei Wahlen. Auf ähnlichem Weg ist ja bei uns Jörg Haider groß geworden.
profil: Sie vergleichen Gregor Gysi und Oskar Lafontaine mit Jörg Haider?
Androsch: Sehr vereinfacht gesagt, ja. Aber über eines sollte man sich klar sein: Was immer man an den Zuständen auch kritisieren kann und verbessern muss, bisher wurde noch kein besseres System als die Marktwirtschaft gefunden – natürlich nicht die völlig unkontrollierte Marktwirtschaft, sondern eine sinnvoll und verantwortungsbewusst, interventionistisch gemanagte Marktwirtschaft.
profil: Franz Müntefering, der deutsche SPD-Vorsitzende, hat Finanzinvestoren mit Heuschreckenschwärmen verglichen, die über das Land herfallen. Das ist Populismus, der auch von Oskar Lafontaines Linkspartei stammen könnte.
Androsch: Das war ein aus wahltaktischen Gründen erfolgter Ausflug in die Zoologie, der entbehrlich und höchst unpassend war. Und für die Wahlen in Nordrhein-Westfalen, um die es ja ging, hat es auch nichts genützt.
profil: Deutschland befindet sich mit seinem hohen Budgetdefizit in einer besonderen Zwickmühle.
Androsch: Wenn man sich mit nichts anderem beschäftigt als mit dem Streit über den Stabilitätspakt …
profil: … der mittlerweile aber ohnedies außer Kraft gesetzt wurde.
Androsch: Das ist richtig. Ich habe den Stabilitätspakt von allem Anfang an für eine ökonomische Primitivität gehalten und befürchtet, dass er scheitern wird. Im Übrigen hat das Konstrukt ja eigentlich Stabilitäts- und Wachstumspakt geheißen, bloß hat man auf das Wachstum vergessen, daher ist man restlos in der Sackgasse gelandet.
profil: Was war so falsch daran, die Budgetdefizite zu beschränken?
Androsch: Man sollte sich daran erinnern, was der erste Nobelpreisträger für Ökonomie, Paul Samuelson, gesagt hat: Der liebe Gott hat den Ökonomen zwei Augen gegeben, eines für die Nachfrageseite, ein zweites für die Angebotsseite. Offenbar ist Europa auf der Nachfrageseite völlig erblindet, leidet aber auch am anderen Auge an grauem Star.
profil: Was in Deutschland eben auch am hohen Budgetdefizit liegt.
Androsch: Das Defizit ist in Deutschland unter anderem deshalb so hoch, weil die Kosten der Wiedervereinigung, anstatt das über Steuern zu finanzieren, einfach den Sozialhaushalten umgehängt wurden, weil das am Anfang weniger auffallen sollte und man sich unpopuläre Maßnahmen ersparen wollte. Nach den kommenden Wahlen wird das jetzt mit der von der CDU und CSU angekündigten Erhöhung der Mehrwertsteuer nachgeholt werden müssen.
profil: Seit einigen Jahren beschäftigen Sie sich intensiv mit der Bildungs- und Forschungspolitik und kritisieren diesbezüglich häufig die Regierung. Warum sind unter all den Problemen unserer Gesellschaft Forschung und Bildung jene Themen, denen Sie solche Aufmerksamkeit widmen?
Androsch: Weil Bildung, Ausbildung und Forschung über unsere Wettbewerbsfähigkeit und unseren Erfolg in der globalen Wissensgesellschaft entscheiden werden. Japan gibt mehr als drei Prozent seines Bruttosozialprodukts für Forschung aus, die USA knapp drei Prozent und Europa nicht ganz zwei Prozent, und Österreich liegt da weit hinter anderen europäischen Ländern wie Finnland oder Schweden. Und genau diese Länder haben eine bessere Beschäftigungssituation, haben ein höheres Wachstum und haben es in der Zwischenzeit auch gemeistert, den Wohlfahrtsstaat, der ja ein notwendiges Korrektiv der Marktwirtschaft ist, zeitgemäß umzubauen. Da haben wir noch einige schmerzhafte Kilometer zu gehen.
profil: Im Vergleich zu Deutschland steht Österreich aber gar nicht so schlecht da.
Androsch: Für die Deutschen ist der Weg vermutlich noch ein Stück weiter. Das sollte uns jetzt aber wirklich nicht zur Schadenfreude verführen, nachdem wir jahrzehntelang einen Minderwertigkeitskomplex gegenüber dem Größeren gehabt haben: Erklärungen nach dem Motto „Wir sind die besseren Deutschen“ halte ich für höchst töricht, und von bewundernden Hinweisen des bayrischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber sollte man sich ganz entschieden distanzieren.
profil: Theoretisch ist Bildung ja eine Dienstleistung, die sich auch international vermarkten lässt. Nach Großbritannien und in die USA kommen jedes Jahr zehntausende Menschen, die viel Geld dafür bezahlen, um dort an Eliteuniversitäten zu studieren.
Androsch: Und daher ist es ein besonderes Versäumnis, dass die Bildungspolitik in Österreich dem Fremdsprachenunterricht einen zu geringen Stellenwert einräumt und insbesondere verkennt, dass Englisch keine Fremdsprache sein kann, sondern eine Alltags-, eine Zweitsprache sein muss. Die Schweiz hat auch ihre Probleme, aber sie hat mit die besten Schulen und die besten Hochschulen, die ETH Zürich, die ETH Lausanne, um nur zwei Beispiele zu nennen. Und wenn wir uns mit Skandinavien vergleichen, ist das ähnlich. Während wir beispielsweise um viel Geld kluge Leute ausbilden und 400 von den besten 1000 dann in die Vereinigten Staaten gehen, um dort zu forschen und zu arbeiten. Aus österreichischer Sicht ist das ökonomisch schwachsinnig.
profil: Aber in den letzten Jahren sind doch einige Maßnahmen gesetzt worden, die Sie eigentlich zu würdigen wissen müssten. Seit zehn Jahren haben wir Fachhochschulen, und es gibt mittlerweile Privatuniversitäten.
Androsch: Dass die Fachhochschulen ein Erfolg sind, ist überhaupt nicht zu bestreiten. Das kann aber nicht die fehlende finanzielle Grundausstattung der österreichischen Universitäten ersetzen, die zusammen ein Jahresbudget von etwas über zwei Milliarden Euro haben und wo unbestritten ist, dass zumindest 170 Millionen für die Basisfinanzierung fehlen.
profil: Sie haben einmal gesagt, Österreich habe eine Forschungsarchitektur wie die USA, aber Geld wie Moldawien.
Androsch: Auf diesen Punkt könnte man es leider bringen. Und wenn ich die Grundausstattung an den Universitäten nicht habe, dann nützt mir die schönste Forschungsarchitektur nichts. Außerdem wurden und werden die komplexen Aus- und Wechselwirkungen mancher Maßnahmen nicht beachtet. Wenn ich bei den Fachhochschulen Zugangsbeschränkungen habe, an den technischen Universitäten aber nicht, dann hat das die Folge, dass sich die Fachhochschulen die Besten aussuchen. Und jene, die dort die Aufnahme nicht schaffen, gehen an die regulären Universitäten. Da steht das System – unabhängig von der zu geringen finanziellen und personellen Ausstattung – auf dem Kopf. Wenn Studienplätze im Verlosungsverfahren zugeteilt werden, dann läuft etwas falsch.
profil: Dass die Universitäten genügend Geld brauchen, um die undichten Dächer reparieren zu lassen, ist unbestritten.
Androsch: Man braucht vor allem die besten Leute, und man muss den Leuten die nötige Ausstattung an Geräten und Infrastruktur geben. Und genau das passiert nicht. Uns fehlt ein Prozent des Bruttonationalprodukts an zusätzlicher Forschungsquote. Ein Prozent sind ungefähr 2,4 Milliarden Euro. Wenn wir uns aber wirklich modernisieren wollen, brauchen wir auf vier oder fünf Jahre verteilt eigentlich eine Kurskorrektur um vier oder fünf Prozent des Sozialprodukts.
profil: Das wären zehn Milliarden Euro pro Jahr zusätzlich. Woher sollen die kommen?
Androsch: Mir kann niemand erzählen, dass das nicht zu finanzieren ist und dass man das den Menschen nicht erklären kann. Da würde niemandem der Kopf abgerissen, sondern eine vernünftige, zukunftsorientierte Kurskorrektur gemacht. Das ist notwendig, um das Erreichte zu sichern und die Voraussetzung für weitere Verbesserungen zu schaffen.
profil: Eine Kurskorrektur, die über budgetäre Umschichtungen oder über zusätzliche Einnahmen finanziert würde?
Androsch: In erster Linie muss es durch höheres Wirtschaftswachstum finanziert werden. Und mehr Wachstum ist angesichts der riesigen Sparquote bei sinnvoller Verwendung auch durch höhere Kreditfinanzierung zu erzielen. In einer komplexen Umwelt muss man eine Fülle von Maßnahmen einsetzen. Ein Wundermittel gibt es nicht. Ökonomische Alchemisten sind Scharlatane. Mit Voodoo-Ökonomie ist sicher nichts zu erreichen.

Interview: Stefan Janny