US-Soziologin Susan Shapiro-Barash:

Interview: „Ohne jedes schlechte Gewissen“

„Ohne jedes schlechte Gewissen“

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profil: In Ihrem Buch „A Passion for More“ behaupten Sie, dass 60 Prozent der verheirateten Frauen in Amerika mindestens einmal eine außereheliche Affäre durchlebt haben.
Shapiro-Barash: Meine Aussage stützt sich auf hunderte Interviews, die ich seit 1991 mit Frauen jeglichen Alters und jeglicher Schicht im ganzen Land durchgeführt habe. Dass Frauen Affären haben, ist nichts Neues. Neu ist, dass sie darüber reden und vor allem ohne jedes schlechte Gewissen sind. 90 Prozent meiner Interviewpartnerinnen hatten das Gefühl, dass sie das Recht auf einen Liebhaber hatten.
profil: In der bürgerlichen Literatur des 19. Jahrhunderts wie Flauberts „Madame Bovary“ oder Tolstois „Anna Karenina“ wird weiblicher Ehebruch mit der Lieblosigkeit des festen Partners begründet. Ist das auch das dominierende Motiv Ihrer untreuen Frauen?
Shapiro-Barash: Nur teilweise. Ich unterscheide prinzipiell vier Kategorien, die die Frauen zur Aufnahme von Verhältnissen motivieren. Da wirkt sich natürlich das neue Machtgefühl der Frauen aus. Bedingt durch die wachsende ökonomische Unabhängigkeit, adaptieren Frauen tradierte männliche Verhaltensweisen für ihre Zwecke. Der Mann zu Hause wird immer fülliger und klebt nur vor der TV-Kiste? Für die berufstätige Frau zwi-
schen 35 und 40 ist das oft der Moment, in dem sie sich in den Spiegel schaut und fragt: „Wie viele gute Jahre bleiben mir noch?“
profil: Geht es bei Affären nicht zumindest anfangs vorrangig um Sex?
Shapiro-Barash: Natürlich. Das nenne ich den „Thunderball-Effekt“, wie wir ihn zum Beispiel aus dem Film „Untreu“ kennen. Obwohl die Figur der Diane Lane eine liebevolle Ehe führt, fehlt ihr etwas, nämlich sexuelle Leidenschaft. Sie selektiert dafür einen Liebhaber, der das exakte Kontrastprogramm zu ihrem Ehemann präsentiert – ein Muster, das ich bei 70 Prozent meiner Frauen beobachten konnte. Diese Frauen arrangieren sich dann gewöhnlicherweise in diesem Dreieckskonzept und denken gar nicht daran, sich deswegen scheiden zu lassen.
profil: Dass Frauen zwischen Emotionen und Sexualität eine Demarkationslinie ziehen können, wurde in der Forschung bislang eher vernachlässigt.
Shapiro-Barash: Vor allem in einem puritanisch geprägten Land wie den USA ist das irritierend. Hier durften die Frauen bis zur sexuellen Revolution beim Sex nur dann Vergnügen empfinden, wenn auch Gefühle involviert waren. Aber paradoxerweise werden heute durch rein sexuell orientierte Affären immer wieder Ehen neu ausverhandelt und auch gerettet. Wenn Frauen vor ihren Mann treten und sagen: „Ich liebe dich, aber er gibt mir etwas, was du mir nicht geben kannst“, kann das auf den gehörnten Ehemann einen ungeheuren Motivationsschub ausüben.
profil: Häufiger verziehen sich aber Männer, die betrogen wurden, in den Schmollwinkel und baden im Selbstmitleid.
Shapiro-Barash: Das ist auch die gängige Reaktion der amerikanischen Männer, die noch immer sehr machistisch geprägt sind. Für diese Art von Männern ist die weibliche Untreue ein Schock, weil sie das Spiegelbild ihrer eigenen Verhaltensweisen präsentiert. Da brechen sie zusammen und heulen: „Warum musste das mir passieren?“
profil: Zwei Kategorien in Ihrer Motivforschung blieben bisher noch unerwähnt.
Shapiro-Barash: Das ist zum einen das von Ihnen angesprochene Bovary-Syndrom: Durch ständige Missachtung seitens des Ehemanns fühlen sich Frauen berechtigt, ihr Selbstwertgefühl außerehelich aufpolieren zu lassen. Und als letzte Kategorie ist natürlich ganz banal die Verliebtheit zu erwähnen, die zur Liebe wächst. In solchen Fällen hat der Liebhaber oft die Wirkung eines Katalysators, der den Abgang aus einer ohnehin bereits zerrütteten Beziehung ermöglicht. In den USA werden in den Städten 50 Prozent der Ehen geschieden, aber 57 Prozent der Geschiedenen heiraten wieder. Verheiratet zu sein ist auch für die jungen Frauen in den USA von immenser Bedeutung.
profil: Womit wir bei Ihrem neuen Buch „The New Wife“ sind, das im Februar erscheint. Wie ticken die Frauen um die 20 heute?
Shapiro-Barash: Die „Generation Y“, wie ich sie nenne, hat ihre Babyboomer-Mutter, die dachte, sie könnte alles auf die Reihe kriegen, scheitern sehen. Die Ehefrau der achtziger und neunziger Jahre ist in der Regel in der Ehe nicht auf ihre Kosten gekommen und hat nicht die Karriere gemacht, die sie sich erhofft hatte. Die Mütter der Generation Y haben das Konzept der Gleichberechtigung zwar eingefordert, die Versprechen ihrer Männer haben sich aber als falsch herausgestellt. Nach der Scheidung mussten diese Frauen finanziell große Abstriche hinnehmen.
profil: Und was lernt die junge Frau von heute daraus?
Shapiro-Barash: Eine ordentliche Ausbildung zu durchlaufen, aber auch früher zu heiraten und Kinder zu kriegen. Sie nimmt sich die Macht heraus, selbst zu entscheiden, ob sie eine Weile zu Hause bleibt oder sich gleich wieder um ihre Karriere kümmert. Prinzipiell will sie einen Ehemann, der ihr diese Option auch offen lässt und bereit ist, zumindest für eine Weile für die Familie zu sorgen.
profil: Wird sie diesen Ehemann dann trotzdem betrügen?
Shapiro-Barash: Bei weitem nicht in dem Ausmaß, wie das jetzt geschieht. Durch ein offeneres Gesprächsklima und durch die Artikulation ihrer Bedürfnisse wird die neue Ehefrau das, was sie braucht, innerhalb der eigenen vier Wände bekommen. Männer lernen zwar langsam, aber sie lernen.