Rotraud Perner:

Interview: „Wir definieren Gewalt heute anders“

„Wir definieren Gewalt heute anders“

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profil: Die körperliche Züchtigung von Kindern ist verboten, die gesunde Watsche ist verpönt. Gibt es heute weniger Gewalt in der Familie?
Perner: Leider nicht. Die Formen sind andere geworden. Wir definieren Gewalt heute anders. Früher haben Kinder mitarbeiten müssen, sie wurden auf Wanderschaft geschickt. Dienstbotenfolterungen waren an der Tagesordnung. Einen Anspruch auf Gewaltfreiheit gab es nicht. Ich selbst habe noch auf Holzscheiteln knien und mich in die Ecke stellen müssen, und ich wurde geschlagen. Das war zwar sicher keine sadistische Folter, aber genug, um den Selbstwert zu ruinieren und mich gesundheitlich zu schädigen.
profil: Früher war das normal, heute würden in den meisten Fällen aber wohl Nachbarn die Polizei holen und Lehrer Alarm schlagen.
Perner: Früher hat man sich erst aufgeregt, wenn jemand an den Misshandlungen gestorben ist. Das heißt aber keineswegs, dass es heute weniger Gewalt in den Familien gibt, es gibt nur andere Formen. Im angloamerikanischen Raum spricht man von „child abuse and neglect“, also Missbrauch und Vernachlässigung. Gewalt hat viele Facetten: Ist es Gewalt, einen Vierjährigen in die Trafik zu schicken, und der fürchtet sich? Ist es Gewalt, Kinder stundenlang im kalten Wasser in der Badewanne sitzen zu lassen? All das kommt vor.
profil: Sie meinen, es hat sich nichts gebessert?
Perner: Nicht viel. Das Grundproblem ist, dass Eltern immer noch das Recht für sich in Anspruch nehmen, ein Kind zu bestrafen, weil sie glauben, dass man diesem auf diese Weise etwas beibringen kann. Aber ein demütigend bestraftes Kind lernt nichts, außer Verbitterung und wie man straft. Dazu kommt, dass die sexuelle Gewalt zugenommen hat. Früher war die sexuelle Gewalt Ausfluss von Machtmissbrauch. Ich mach mit dir, was ich will, und es wird darüber nicht gesprochen.
profil: Die Zahl der Anzeigen wegen sexuellen Missbrauchs steigt. Experten führen dies darauf zurück, dass immer mehr Opfer ihr Schweigen brechen.
Perner: Das stimmt, doch es sind durch die Kommerzialisierung auch neue Formen von Gewalt, etwa die Kinderpornografie, entstanden. Mir kommen immer wieder Menschen unter, die versuchen, mit Sexualität Geld zu verdienen. In einigen Fällen wurden Kinder unter Drogen gesetzt, um sie gefügig zu machen. Als bürgerlicher Mensch redet man sich gern ein, dass das Einzelfälle sind. Aber es gibt Subkulturen. Die Menschen starten mit den besten Vorsätzen ins Leben und werden entwurzelt, oft durch Paarung mit Leuten, die halbkriminell sind, durch Männer, die sich sanieren wollen, indem sie zwei Pferderl laufen lassen. Selbst die triviale Misshandlung eines Kindes hat einen Markt, denn es gibt Leute, die sich daran begeilen. Vor Jahren habe ich ein Video gesehen, in dem ein zehnjähriger, auf dem Bauch liegender Bub ausgepeitscht wird.
profil: Lange Zeit galt als Gewalt nur, was körperliche Folgen zeitigt. Nimmt die physische Gewalt ab, die psychische zu?
Perner: Wir haben dazu keine Vergleichsstudien. Es stimmt jedoch, dass die psychische Gewalt, die sich nur verbal äußert, oft nicht als Gewalt begriffen wird. Ich spreche in diesem Zusammenhang von toxischen Menschen. Das sind Täter, die es bewusst darauf anlegen, andere Menschen so zu reizen, dass ihnen die Nerven durchgehen. Sie spötteln so lange und reiten auf dem Punkt herum, wo sie wissen, dass dort jemand seine Werthaltungen hat, bis der nicht mehr kann.
profil: Hat die Art, wie jemand Gewalt ausübt, mit Bildung und Intelligenz zu tun? Nach dem Motto: Die Unterschicht schlägt zu, Akademiker machen ihre Opfer psychisch fertig?
Perner: Das kann man wirklich so sagen. Ich erkläre ihnen auch, warum. Unsere Gehirnteile sind unterschiedlich alt. Der älteste ist das Stammhirn. Kämpfen, Flüchten, Totstellen – da sind wir noch Tiere. Mit dem Unterschied, dass die Signale an den anderen, „hör auf, ich unterwerfe mich“, beim Tier noch funktionieren, beim Menschen nicht. Deutsche Studien haben ergeben, dass heute mehr als früher auch noch auf einen am Boden Liegenden draufgesprungen, gegen den Kopf getreten wird. Höhergebildete ist da zurückhaltender, denn sie wissen, dass man sich rückversichern muss, um hinterher nicht als Täter erwischt zu werden. Dieser Typus arbeitet eher mit Einschüchterung und Drohung. Das ist eine Frage der Reflexionsfähigkeit, also des Großhirns und der Bildung. Wer viel liest, auch das wissen wir aus Studien, hat ein trainiertes Großhirn.
profil: In Migrantenfamilien ereignen sich überdurchschnittlich viele Beziehungsmorde. Gibt es dafür eine Erklärung?
Perner: Orientalische Kulturen sind patriarchale Strukturen, wie wir sie bei uns aus dem 19. Jahrhundert kennen. Das Familienoberhaupt hat das Recht, Justiz zu üben, wenn die Ehre der Familie beschmutzt wurde. Das Recht des Stärken sowie das „Ausmerzen von Familienschädlingen“ – wie es im NS-Jargon heißt – sind hier ganz normal. Das gilt aber nicht nur für orientalische Kulturen. Auf dem Arbeitsplatz, in der Politik herrscht auch bei uns ebenso noch das Recht des Stärkeren. Wer die Macht hat, nimmt sich das Recht heraus, über die anderen einfach drüberzufahren. Das ist im Grunde dasselbe Muster.