Intimsphärenrisse

Intimsphärenrisse: Sexuelle Übergriffe im privaten Bereich

Sex & Justiz. Sexuelle Übergriffe im privaten Bereich

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Schützenhilfe bekam WikiLeaks-Mastermind Julian Assange im Dezember aus ­einer unvermuteten Ecke. Naomi Wolf, neben Susan Faludi die Vorzeigedenkerin des jüngeren US-Feminismus, verfasste im ­edel-liberalen Online-Medium „Huffington Post“ einen fiktiven Brief an Interpol: „Liebe weltweite Dating-Polizei! Als jahrelange feministische Aktivistin bin ich voller Freude angesichts Ihrer Bereitwilligkeit, auf Männer, die sich gegenüber Frauen wie narzisstisch gestörte Mistkerle verhalten, globale Menschenjagden zu veranstalten … Ich gehe davon aus, dass Ihre nächsten Prioritäten jenen 1,3 Millionen amerikanischen Kerlen gelten, über die ich ähnliche Beschwerden gehört habe. In Dankbarkeit!“

In der Tat:
Die Vorwürfe der beiden Schwedinnen, die im August vergangenen Jahres Sex mit dem 39-jährigen Australier hatten, weisen Assange zwar als in „Safe Sex“-Belangen vermutlich verantwortungslosen Egomanen aus, aber von sexuellen Gewaltakten scheint der Tatbestand so weit entfernt, dass die Celebrity-Aktivistin Bianca Jagger den Verdacht twitterte, es müsse sich bei den beiden klagenden Frauen um „bezahlte CIA-Agentinnen“ handeln.

Liebesdienste.
Wie in den – dem britischen „Guar­dian“ knapp vor Weihnachten zugespielten – ­Polizeiprotokollen nachzulesen ist, luden die Veranstalterin des Assange-Vortrags (mit dem symbolschwangeren Titel „Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit“), Anna Ardin, gleichzeitig Pressesprecherin der christlichen Zelle „Brotherhood Movement“ in der sozialdemokratischen Partei, und Sofia Wilen, Fotografin und Besucherin des Vortrags, Assange im Zuge seines zehntägigen Aufenthalts in Schweden in ihre Wohnungen ein, wo er auch jeweils nächtigte. Nach dem mehrfachen und einvernehmlichen Vollzug setzten beide ihn nicht vor die Tür, sondern standen weiter in freundschaftlichem Kontakt, gemeinsame Café- und Restaurantbesuche inklusive. Die Verschwörungstheorien, die seit Assanges Festnahme in ­London kursieren, reichen von einem lesbischen Verhältnis der beiden Klägerinnen, die ihren Männerhass an dem Internet-Robin-Hood ausleben, bis hin zu einer strategisch geplanten Venusfalle seitens der amerikadevoten schwedischen Sozialdemokraten, welche die Aktion als Liebesdienst an die in die diplomatische Bredouille geratene ­Supermacht gesetzt hätten.

Als Liebesdienst für die Bewusstseinsschärfung gegen intime Gewalt gegen Frauen kann die weltweite Interpol-Jagd auf Assange jedoch kaum gewertet werden. Denn nach Lektüre der Zeitungsartikel, Blogs und Meinungsforen bleibt der Eindruck, dass sich hier zwei Frauen entweder aus persönlicher Kränkung, dass sie innerhalb einer so kurzen Zeit nicht die einzigen Sexualpartnerinnen gewesen waren, oder als politische Handlangerinnen an einem unbequemen Kreuzritter der Wahrheit gerächt haben.

Dazu kommt die verschärfte Rechtslage in dem feministischen und familienpolitischen Pionierland Schweden. Laut schwedischem Gesetz kann es seit 2005 bereits als „minder schwere Vergewaltigung“ gelten, wenn sich eine Frau oder ein Mann „auf unpassende Weise ausgenutzt“ fühlt. Die Vorwürfe der beiden Frauen, dass Assange in einem Fall zwar ein Kondom benutzt habe, dieses aber aufgrund nicht näher ausgeführter Praktiken „gerissen“ sei und er ungeschützt in seine schlafende Partnerin eingedrungen wäre, erfüllen nach schwedischem Gesetz einen strafrechtlichen Tatbestand. Damit lässt sich auch erklären, warum Schweden (siehe Kasten) die internationalen Vergewaltigungsstatistiken anführt: Eine hohe öffentliche Sensibilisierung für geschlechtspolitische Schieflagen hat die Grenzen für Sexualdelikte gesetzlich so ausgeweitet, dass trotz einvernehmlichem Sex ein späteres Gefühl des Unwohlseins für eine Anzeige ausreicht. In dem Bewusstsein, von den Behörden ernst genommen zu werden und dass „jede Form von schiefgegangenem Sex irgendwie justiziabel wäre“, so die Polemik der „Süddeutschen ­Zeitung“, liegt die Hemmschwelle, ­Vorfälle zur Anzeige zu bringen, bei schwedischen Frauen demnach weitaus ­tiefer.

Vergewaltigungs- und Belästigungsklagen sind in den vergangenen Monaten zum ­medialen Zuschauersport verkommen. „Der Sex hat den Sport bei uns schon seit Monica Lewinsky ersetzt“, schreibt das Magazin „Newsweek“. In der Weltliteratur gehören Sexualdelikte spätestens seit Livius’ Lucretia-Schändung ohnehin zum ­dramaturgischen Fixinventar: Giacomo Casanova, wie John Malkovich zurzeit im Ronacher zeigt, und Mozarts Opernheld Don Giovanni haben den ­gewaltsamen sexuellen Übergriff zur Salonfähigkeit erhoben. Im Burgtheater wird Bühnen-Hysteri­kerin Sunnyi Melles in der Regie von ­Matthias Hartmann als Phädra in den Wahnsinn getrieben, als der von ihr begehrte Stiefsohn Hippolytos fälschlicherweise der Vergewaltigung seiner Stiefmutter bezichtigt, vom Hof verbannt und durch scheuende Pferde in den Tod geschleift wird.

Die Realityshow des Lebens erweist sich als nicht ganz so explosiv. In Tel Aviv jubelten feministische Demonstrantinnen, als der ehemalige israelische Präsident Mosche Katzav Ende Dezember wegen Vergewaltigung und sexueller Nötigung in drei Fällen schuldig gesprochen wurde. Katzav könnte eine Gefängnisstrafe bis zu einer Dauer von 16 Jahren drohen.

Seit März vergangenen Jahres wird die strafrechtliche Verfolgung des früheren Wettermoderators Jörg Kachelmann in Deutschland zur „staatlich installierten Peepshow“, so „Die Welt“. Die Show geht in die nächste Runde: In den kommenden Wochen wird eine Armada von Gutachtern herauszufinden versuchen, ob der „Kuschelbär mit Abgründen“ („Bunte“) in der Nacht von 8. auf 9. Februar 2010 die 37-jährige Radiomitarbeiterin Claudia D. vergewaltigt und mit dem Messer bedroht hat. Die Beweislage spricht gegenwärtig eher für den Geklagten. Ob das Messer, das er seiner Geliebten angeblich unter Todesdrohung zehn Minuten an den Hals gehalten hatte, je von Kachelmann angefasst wurde, wagte der sechs Stunden lang befragte Biologe des zuständigen Landeskriminalamts knapp vor Weihnachten zu bezweifeln. Dass eine andere von Kachelmanns Ex-Geliebten in der „Bunten“ über dessen Sexpraktiken detailreich plaudert und Alice Schwarzer gnadenlos subjektiv für die „Bild“ als Prozessreporterin agiert, förderte ein Klimahoch für den „viertklassigen Promi“, so Kachelmanns Eigendefinition. Die „Zeit“-Gerichtsreporterin Sabine Rückert geht sogar so weit, den Fall als „Justizirrtum“ zu klassifizieren. Ähnlich wie in der Causa Assange wird man das Gefühl nicht los, dass der notorisch promiskuitive Kachelmann ins Fadenkreuz einer gekränkten Frau geraten ist und zusätzlich durch seinen „Promi-Malus“ belastet wird.

In der österreichischen Provinz werden solche Fälle weit weniger aufgeregt verhandelt. Im Vorarlberger Feldkirch erhob die Staatsanwaltschaft im Dezember Anklage gegen den noch amtierenden ÖVP-Bürgermeister Wilfried Berchtold wegen Vergewaltigung; die Ermittlungen laufen seit März. Die Anzeige einer Parteikollegin bezog sich auf einen Vorfall im Herbst 2009 während einer Parteiklausur. Im Zuge der Ermittlungen hatte sich Berchtold im Oktober in den Krankenstand begeben, war aber Anfang Dezember in sein Amt zurückgekehrt – eine Verhaltensweise, die in anderen europäischen Ländern undenkbar schiene.

Dass die mediale Aufbereitung prominenter Sexualprozesse abschreckend auf potenzielle Täter wirken und das Unrechtsbewusstsein für sexuelle Übergriffe schärfen könne, wird von Experten bezweifelt. Der Wiener Psychologe Romeo Bissuti, der in der Hilfsorganisation „Weißer Ring“ sowohl Verbrechensopfer als auch Täter betreut, empfindet die Art der medialen Berichterstattung „sehr beunruhigend“: „Die anklagenden Frauen scheinen mir bereits im Vorfeld diffamiert zu werden. Eine derartige Berichterstattung könnte zukünftig viele Frauen abschrecken, Anzeige zu erstatten, und die Täter umso mehr bestärken.“

Scham- und auch partielle Schuldgefühle halten, so sind sich die hiesigen Experten einig, die meisten der weiblichen Opfer davon ab, Vergewaltigungen, vor allem von ihnen bekannten Tätern, zu melden. Bissuti geht davon aus, dass „maximal zehn Prozent aller sexuellen Straftaten zur Anzeige kommen, viele Opfer trauen sich nicht, weil sie Angst davor haben, als unglaubwürdig zu gelten“. Der Psychologe Jonni Brem vom Wiener Institut für forensische Therapie schätzt sogar, dass „nur zwei Prozent aller Sexualstraftäter wegen Vergewaltigungs-, Missbrauchs- und Nötigungsdelikten tatsächlich vor Gericht kommen“.

In Österreich wurden im Jahr 2009 779 Anzeigen wegen Vergewaltigung registriert; in 113 Fällen endete das Verfahren mit einer Verurteilung; im noch nicht gänzlich abgeschlossenen Erhebungszeitraum 2010 stieg die Zahl der Anzeigen von sexuellen Delikten in den ersten drei Quartalen laut Bundeskriminalamt um zehn Prozent. „Die Erfahrung sagt uns, dass nur in extremen Einzelfällen Männer zu Unrecht verurteilt werden“, sagt Bissuti. So erging es dem 20-jährigen Steirer Reinhard Sch., der von seiner Nachbarin, mit welcher er ein Verhältnis unterhielt, der Vergewaltigung und sexuellen Nötigung bezichtigt wurde. Reinhard Sch. saß zwei Jahre in Haft und wurde im vergangenen Juni im Zuge einer Wiederaufnahme des Verfahrens rechtskräftig für unschuldig erklärt. Ob er die Republik nun wegen Haftentschädigung klagt, steht noch aus. Seine Anwältin Karin Prutsch sagt gegenüber profil: „Mein Mandant ist durch einen Unfall in der Kindheit in seiner Artikulation beeinträchtigt. Unter Druck wird er sehr geständig und beantwortet einfach jede Frage mit einem schlichten Ja. Er wurde befragt, ob er das Opfer geschlechtlich genötigt hatte, bejahte, allerdings wusste er nicht einmal, was dieses Wort bedeutet. Er dachte, es wurde gefragt, ob er gewöhnlichen Geschlechtsverkehr mit ihr hatte.“

Scham-Schweigen.
Die Grazer Anwältin Prutsch erlebte in ihrer Berufspraxis oft, „dass Frauen Männer zu Unrecht der Vergewaltigung oder sexuellen Nötigung bezichtigen. Oft geht es dabei um Scheidungs- und Obsorgeverfahren, aber auch um Rache oder darum, Aufmerksamkeit zu erregen. Das ist schade, da auf der anderen Seite viele echte Opfer aus Scham schweigen.“

Eine Erfahrung, die die Wiener Scheidungsanwältin Andrea Wukovits nicht teilt: „Ich habe ganz selten erlebt, dass Frauen, die sexuelle Gewalt in der Ehe erlebt haben, in einem Scheidungsverfahren ernst genommen werden.“ Abgesehen davon „läuft in Österreich alles unter dem Begriff einvernehmlicher Sex, worauf nicht mit offenem Widerstand reagiert wird“. Außerdem herrsche bei Scheidungsprozessen die allgemeine Tendenz zur „konfliktfreien Trennung anstelle brutaler Geschichtsforschung“. Deshalb bleibe „die Toleranzschwelle in Österreich bezüglich sexueller Übergriffe sehr hoch und weit entfernt von skandinavischen Verhältnissen“. Die mangelhafte Ausbildung von Richtern, „in der Sexualdelikte und die damit verbundenen Dynamiken nicht thematisiert werden“, beklagt die Gewalt- und Stressforscherin Rotraud A. Perner, die selbst jahrelang Kriminalbeamte in Erhebungstechniken bei Sexualdelikten ausgebildet hat: „Die Schulung der Kriminalbeamten läuft in Österreich bereits auf hohem Kompetenzniveau, bei Richtern ist das Maximum allenfalls eine zusätzliche Mediationsausbildung.“

Im kollektiven österreichischen Bewusstsein ist eben noch fest verankert, dass zu ­einer straffälligen Vergewaltigung „ein unbekannter Täter gehört, der einer Frau auflauert und aus dem Busch springt“, so die Psychologin Angelika Breser vom Wiener Frauennotruf. Ein anachronistisches Klischee, dem erstaunlicherweise auch die bekannt liberale und ­feministische US-Schauspielerin Whoopie Goldberg erlag, als sie bei einer Solidaritätskundgebung für den polnischen Regisseur Roman Polanski nach dessen Verhaftung in der Schweiz 2009 den Einwand ins Spiel brachte, dass es sich im Fall von Polanskis ­sexuellem Vergehen im Jahr 1977 an einem 13-jährigen Möchtegernmodel nicht um „eine Vergewaltigung-Vergewaltigung“ gehandelt habe, sondern um einvernehmlichen, noch dazu von der ruhmgierigen Mutter der Betroffenen vermittelten Sex. Goldberg ­regte weiter an, dass die Justizbehörden sich doch besser Fällen zuwenden sollten, in ­denen „gewalttätige Fremde in dunklen ­Gassen Frauen wirkliche Gewalt antun“.

Bekannte Täter.
Die Tendenz der demokratisch ausgerichteten US-Künstlerelite, Polanskis nachweisliche Vergewaltigung eines Kindes als Lausbubenstück eines exzentrischen Womanizers zu verharmlosen, rief die feministischen Journalistinnen des Landes zu Recht auf den Plan. „Achtung, Erinnerungsruf. Es ging um Kinderschändung, und ein Kind ist bekanntlich nicht in der Lage, einvernehmlichen Sex zu wollen“, schrieb die renommierte Publizistin Kate Harding im Online-Medium „Salon“. „Können wir endlich aufhören, diesen Mann zu bemitleiden, weil er sich seine Preise nicht persönlich abholen darf?“

Dass auch in der österreichischen Realität das Phänomen „Date Rape“ bei Weitem das „Ein Fremder in dunklen Gassen“-­Szenario bei Vergewaltigungen überwiegt, bestätigen alle von profil befragten Experten. „Zu 90 Prozent kennen die Opfer ihre Täter“, sagt Angelika Breser vom Wiener Frauennotruf. „Zunehmend sind vor allem Date Rapes, aber auch sexuelle Übergriffe durch Ex-Freunde oder Arbeitskollegen.“

Einen starken Zuwachs registriert man beim Wiener Notruf bei Opfern von so genannten K.-o.-Tropfen, die meistens auf medizinisch als Schlaf- und Beruhigungsmittel eingesetzten Benzodiazepin-Substanzen basieren: „Wir bekommen zirka zwei Anrufe pro Woche – Frauen berichten uns, dass sie in Discos oder auch in Privatwohnungen plötzlich schwindlig wurden und danach die Erinnerung verloren.“ Die ­Wirkung dieser umgangssprachlich als „Date-Rape-Droge“ klassifizierten Substanzen kann unterschiedlich sein.

Entweder sie wirken einschläfernd, sodass Frauen wie betrunken lallen und torkeln, oder die Tropfen haben „sexuelle Enthemmungen“ zur Konsequenz, „was es sehr schwierig macht, abzugrenzen, ob eine strafrechtliche Relevanz vorliegt“, so Breser. Inzwischen gehe man jedoch bei Prozessen verstärkt ­davon aus, dass „auch die Verabreichung ­solcher Tropfen eine Gewalthandlung darstellt“.

Irgendwo zwischen Alice Schwarzer, die findet, dass Geschlechtsverkehr nur mittels der Unterwerfung der Frau überhaupt möglich sei, und dem slowenischen Pop-Philosophen Slavoj Zizek, der die Überzeugung vertritt, dass „das Spiel der Verführung innerhalb politisch korrekter Strukturen nicht lebbar ist“, wird sich der intellektuelle Diskurs einpendeln. „Und dann“, gibt die US-Sexualtherapeutin Ruth Westheimer Ezzes aus New York, „beginnt die Arbeit vor allem damit, dass man schon kleinen Jungen zu Hause und in der Schule beibringt, dass das Wort Nein keinerlei Interpretationsspielraum zulässt.“

Mitarbeit: Tina Goebel, Sebastian Hofer

Lesen Sie im profil 2/2011 ein Interview mit der Gewalt- und Stressforscherin Rotraud Perner über Date Rape und das österreichische Dilemma bei Sexualdelikten

Angelika   Hager

Angelika Hager

leitet das Gesellschafts-Ressort