Aus dem Albtraum erwacht

Irak: Aus dem Albtraum erwacht

Bagdad. Die US-Truppen packen zusammen, die irakische Hauptstadt wird aufgeräumt

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Von Birgit Svensson, Bagdad

Es ist, als ob eine ganze Stadt sich säubern wollte. Vom Schmutz des Krieges. Überall in Bagdad sieht man Männer in verschmutzten weißen Overalls mit Besen oder Schaufeln in der Hand, die Müll und Unrat zusammenschieben. Trümmer des Bombenterrors der letzten Jahre werden von zerbeulten Lastwagen abtransportiert. Betonteile mischen sich mit Plastikflaschen, Stromkabeln und zerschossenen Sofas. Einer hat sein auseinandergebrochenes Klo auf die Straße gestellt. Ein anderer verkauft nebenan Rollstühle und Beinprothesen.

Jeder Schutthaufen hat seine eigene Geschichte, und doch haben sie eines gemeinsam: Sie zeugen von unsäglichem Leid, zertrümmerten Hoffnungen und tiefen Wunden, die schwer heilen wollen. Wie keine andere Stadt im Irak fasziniert Bagdad durch die Vielfalt seiner Einwohner. Der Vielvölkerstaat Irak versammelt die Vertreter all seiner Ethnien und Religionen in der Hauptstadt. Das wurde ihr in den Jahren des Widerstands gegen die Besatzung und der ethnischen und religiösen Auseinandersetzungen zum Verhängnis. Bagdad musste in den letzten sieben Jahren Bombenhagel, Selbstmordanschläge, Straßenkämpfe, Flucht und Vertreibung erfahren.

Müllberge und Abwasserseen.
Die einen sagen, es war Bürgerkrieg, andere meinen, Bagdad sei bloß am Rande eines Bürgerkrieges gestanden. Wie dem auch sei – die Sicherheitslage hat sich in den letzten zwei Jahren jedenfalls erheblich verbessert, der Abzug amerikanischer Truppen läuft an. Jetzt wird erst einmal aufgeräumt. Und dies nicht nur in den Vierteln Mansour und Jadrija, wo die Einflussreichen und Ausländer wohnen, sondern auch in der schiitischen Sadr City, dem Viertel, wo die Armen leben.

Auch dort, im Nordosten Bagdads, werden die Müllberge kleiner, wurde letzte Woche ein neues Krankenhaus eingeweiht, werden Schulen renoviert und Restaurants eröffnet. Die Hauptstraßen durch das inzwischen 2,5 Millionen Einwohner zählende Schiitenviertel sind frisch asphaltiert. Nur in den Seitenstraßen muss man auch im Hochsommer durch Abwasserseen waten, die bei über 50 Grad im Schatten bestialisch stinken.

So ist Scheich Ali Allamy denn auch gespalten, wenn man ihn nach der Situation in seinem Viertel fragt. Der schiitische Prediger in der Ibrahim-Khalil-Moschee erkennt zwar die Verbesserungen der letzten Monate an, bemängelt aber die noch immer unzureichende Versorgung der Einwohner mit dem Nötigsten. „Es gibt kaum Strom. Das Wasser ist von schlechter Qualität. Abwasser wird einfach auf die Straße geleitet.“ Es fehle eigentlich an allem. Die Leute seien sauer auf die Regierung, weil diese zwar schiitisch geprägt sei, aber nichts für Sadr City tue, sondern nur ihre eigenen Interessen verfolge und feudal in Jadrija residiere.

Trotzdem glaubt der Scheich, dass die meisten in Sadr City froh seien, wenn die amerikanischen Truppen abzögen und die Iraker mehr Souveränität über ihr Land bekämen. „Die Amerikaner sind für uns Teil des Problems und nicht der Lösung.“ Die anfängliche Begeisterung für die Herren aus Texas, als sie Saddam Hussein stürzten, sei blankem Hass gewichen, als die Militäroperation vor zwei Jahren gegen die Schiitenmiliz Mahdi-Armee so viele Tote in Sadr City forderte. „Wir haben heute mehr Witwen und Waisen denn je“, klagt Allamy. Die Opferzahlen seien damals absichtlich heruntergespielt worden. Neben der Moschee, in der er predigt und Koranunterricht erteilt, befindet sich eine Hilfsorganisation, die sich um diese Opfer kümmert. Doch die Spenden seien dünn gesät. In Sadr City gibt es keine Reichen.

Feiertag am Tigris.
In anderen Teilen der Sechs-Millionen-Stadt sieht man die Dinge differenzierter. Hier wird der bereits begonnene, sich leise vollziehende Rückzug von 50.000 US-Soldaten mit gemischten Gefühlen gesehen. In Bagdads größtem Park, den Zawra-Gärten am Westufer des Tigris, strömen vor allem am Freitag, dem islamischen Feiertag, Familien aus der ganzen Stadt, um ihre Freizeit dort zu verbringen. Der Park grenzt unmittelbar an die schwer bewachte Grüne Zone, dem Regierungsviertel.

Vor den beiden großen Eingangstoren des Parks bilden sich lange Autoschlangen. Die Sicherheitskontrollen sind streng. Autos werden von Hunden auf Sprengstoff beschnüffelt, Polizisten und Soldaten kontrollieren Taschen und führen Leibesvisitationen durch. Nur so blieb die Anlage über die Jahre von den sonst überall in Bagdad explodierenden Bomben verschont. Als der Terror am schlimmsten war, flüchteten sich die Hauptstädter hierher, verbrachten die feiertäglichen Ausgangssperren zwischen Blumen und Tieren: Der hintere Teil des viereinhalb Quadratkilometer großen Geländes beherbergt den Zoo.

Sie findet es nicht gut, dass die Amerikaner jetzt abziehen, meint Sahra. Sie sitzt mit ihrer Familie an einem der bunten Plastiktische, die überall im Park zum ­Verweilen einladen. Kleine Buden verkaufen kühle Getränke und kleine Speisen. Jetzt, wenn die Hitze tagsüber nahezu unerträglich ist, kommen die Menschen erst bei Einbruch der Dunkelheit aus ihren Häusern. Ja, die Sicherheitslage sei entschieden besser geworden, sagt die 60-jährige, ganz in Schwarz gekleidete Frau, und ihre Schwiegertochter, die neben ihr sitzt, nickt zustimmend. Noch letztes Jahr im Sommer sei man skeptisch gewesen, ob man abends ausgehen könne. „Jetzt wagen sich mittler­weile wieder alle raus.“ Bis 23 Uhr hat der Park ge­öffnet.

Brüllende Löwen.
Trotzdem traut Sahra der Idylle nicht. Sie glaubt, dass die irakische Armee und Polizei noch nicht so weit seien, die Sicherheit alleine zu gewährleisten. Auch ihr Mann befürchtet, dass der Terror wiederkommen werde, wenn die Amerikaner erst einmal weg sind. Die fünf Männer, die am Nebentisch Wasserpfeife rauchen, haben ebenfalls Bedenken. Nur einer ist fest überzeugt, dass es besser wird, wenn die Iraker vollends das Sagen haben.

Dieses Meinungsbild setzt sich auch in allen anderen Gesprächen am Freitagabend fort. Alle Befragten sind sich einig, dass die Situation im Irak noch sehr fragil sei und jeden Moment wieder kippen könne. „Wir haben gelernt, mit dieser Unsicherheit zu leben“, sagen viele. Überlebenstraining in Bagdad heißt auch, mit Ungewissheiten umgehen zu können.

Dicht gedrängt stehen die Menschen vor den Raubtierkäfigen, der Hauptattraktion des Bagdader Zoos. Irgendwie fühlen sie sich besonders mit ihnen verbunden. Das Brüllen der Löwen lässt keinen erschrecken. Im Gegenteil. Gelächter ist die Folge. Die Amerikaner brachten die ersten neuen Tiere im Herbst 2003, die Löwen und Tiger, die sie bei Saddams Söhnen Kusai und Udai gefunden hatten. Es wird gesagt, dass die beiden Gladiatorenkämpfe mit den Tieren veranstalteten und diesen auch Menschen zum Fraß vorwarfen.

Davor, im März, beschossen sich auf dem Gelände der Zawra-Gärten Saddams Republikanische Garde und die 3. Infanteriedivision der US-Armee. Später, im April, kamen Plünderer. Sie nahmen die Vögel, Affen, Pferde und Kamele mit, vier Löwen kamen frei und liefen durch die Stadt. Sie wurden erschossen. Beim Versuch, einen Bären zu stehlen, starben drei Menschen. Und im Mai schließlich waren von den einstmals 600 Tieren im Zoo – dem größten des Mittleren Ostens – nur noch 50 übrig: vor allem Großkatzen und andere Raubtiere. Im Juli vor sieben Jahren wurde die zwischenzeitlich geschlossene Anlage wieder geöffnet. Es gab dann im September noch einen toten Tiger, erschossen von einem US-Soldaten, aber der Irrsinn des Krieges war hier nun vorbei. Seitdem sind Zoo und Park die Ruhezone der Hauptstädter.

Auch in den schlimmsten Jahren des Terrors, 2006 und 2007, war hier der Ort, wo man einen Hauch von Normalität genießen konnte, wo man ausgelassen lachte, die Frauen ihre Schleier fallen ließen und auch Musik kein Tabu war. Religiöse Fanatiker beharrten damals auf einer strikten islamischen Kleiderordnung, was die meisten Frauen zum Tragen der Abaja, dem knöchellangen Mantel, und dem Hijab, dem alle Haare verdeckenden Kopftuch, veranlasste. Entsprechende Flugblätter wurden überall in der Stadt verteilt. Wer sich diesem Diktat nicht beugte, riskierte, verschleppt, misshandelt oder gar ermordet zu werden. Angst ist zwar ein schlechter Ratgeber, dominierte aber die Seelen der Eingeschüchterten über Jahre hin. Heute scheint diese Angst überwunden. Man sieht wieder mehr und mehr Frauen ohne Kopfbedeckung und in eng anliegenden Röcken – nicht nur in den Zawra-Gärten, auch auf den Straßen Bagdads.

Orientalischer Basar.
Doch diese sind in den letzten Monaten wieder unsicherer geworden. Bombenanschläge und Selbstmordattentate häufen sich. Vergangene Woche galten die Anschläge den Sunniten, davor waren es die Schiiten, die zum Ziel des Terrors wurden. Und immer fordern sie viele Tote. Seit fast fünf Monaten ist der Irak praktisch ohne Regierung. Aus den Parlamentswahlen am 7. März ist keine der Parteien oder Gruppierungen als eindeutiger Sieger hervorgegangen. Weder der knappe Wahlsieger Ijad Allawi, der Iraks erster Übergangspremier 2004 war, noch der amtierende Ministerpräsident Nuri al-Maliki hat eine regierungsfähige Mehrheit zustande bringen können.

Koalitionspartner zu finden, mit ihnen zu verhandeln und politische Kompromisse einzugehen ist in einer jungen Demokratie wie dem Irak nach so vielen Jahren der Diktatur noch ungewohnt und für manche unvorstellbar. So mutet das Geschacher um Posten und Positionen zuweilen an wie das Feilschen auf orientalischen Basaren. Dass es dadurch zu einem immer größer werdenden Machtvakuum kommt, ist letal, wie die Anschläge zeigen.

Trotzdem ist der amtierende Vizepräsident Adel Abdul Mahdi „zuversichtlich, dass die kommende Regierung stabil sein und den Kampf gegen die Terroristen, aus welcher Ecke auch immer sie kommen, gewinnen wird“. Nach dem Grad der Demokratisierung Iraks auf einer Skala von eins bis zehn befragt, sagt der 68-jährige Schiite, der lange Jahre in Frankreich im Exil gelebt hat: „Eine optimistische Fünf plus!“