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Irak: Die verlorene Ehre des Saddam H.

Die verlorene Ehre des Saddam H.

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Er war der gloriose Führer seines Landes, der direkte Abkömmling des Propheten, der Erste unter den Herrschern der arabischen Welt, der Gebieter über Armeen, Sondertruppen und Geheimdienste und ganz schlicht der „große Onkel“ für seine Untertanen. Doch als am 9. April die amerikanischen Truppen nahezu kampflos in seine Hauptstadt einzogen, verlor Saddam Hussein seine weltliche Macht.

Militärisch vernichtet, tat er das, was er schon immer tat: Er versteckte sich. Als unumschränkter Herrscher und grausamer Despot musste er stets Anschläge auf sein Leben befürchten. Ständig wechselte er die Paläste, in denen er sich zur kurzen Ruhe bettete. Nach seiner Entmachtung musste Saddam auf jeden Prunk und Komfort verzichten. Gehetzt und gejagt von der mächtigsten Militärmaschinerie der Welt und ihren Geheimdiensten, ließ er sich einen Bart wachsen und zog in einem alten orange-weißen Taxi durch die Dörfer rund um seine Heimatstadt Tikrit. Von seinem Hofstaat hatte er sich getrennt, nur eine Hand voll loyaler Verwandter half ihm. Er schlief in einfachen Hütten und Kellerlöchern. Mit Durchhalteparolen auf Tonbändern, die von arabischen Fernsehsendern abgespielt wurden, machte er noch ein paar Mal auf sich aufmerksam. Mit dem aufflammenden Guerillakrieg seiner ehemaligen Apparatschiks, mit dem Terror der Islamisten hatte die Stimme aus dem Untergrund nichts mehr zu tun.

„Wo ist deine Ehre, Saddam?“, fragt der Geldwechsler Imad Djabar in den Kreis seiner Kunden. Hier, im Zentrum von Bagdad, ist man streng antiamerikanisch und sympathisiert mit den Aufständischen. Jener Mann, der, ohne mit der Wimper zu zucken, Parteifreunde vor Erschießungskommandos stellte, hunderttausende im Krieg gegen den Iran verheizte, die Ermordung zehntausender Kurden und Schiiten anordnete, dieser Mann trat kampflos und mit erhobenen Händen aus seinem „Rattenloch“ – wie es der US-General Ray Odierno nannte – und wollte plötzlich „verhandeln“. „Wenn er Mut gehabt hätte, hätte er sich mit seiner Pistole verteidigt“, urteilt Djabar. „Aber Saddam ist schon seit langem fertig. Seit dem 9. April. Saddam ist nicht das Problem. Die Probleme sind der Benzinmangel, die Stromausfälle, die Sicherheit, die Okkupation.“ Seine Kunden nicken zustimmend.

Im amerikanisch kontrollierten irakischen Fernsehen flimmerten in Endlosschleife die Bilder über die Mattscheibe, auf denen zu sehen war, wie ein Militärarzt Saddams strähniges Haar nach Läusen durchsuchte und ihm mit einem Spatel im Rachen herumfuhr. Der gloriose Führer, Abkömmling des Propheten, Erste aller Araber und große Onkel wurde vorgeführt wie ein hilfloser Penner in der Ausnüchterungszelle. Die „Washington Post“ verstieg sich zu der Behauptung, der Delinquent sei so „auf humane Weise erniedrigt“ worden. Immerhin hätte man ihn auch mit Plastikfesseln um die Armgelenke, schwarzem Sack über dem Kopf oder am Boden liegend, mit einem US-Armeestiefel im Nacken, abbilden können – Praktiken, wie sie die US-Militärs im irakischen Besatzungsalltag gegenüber weniger prominenten Tatverdächtigen anwenden.

Zehn Jahre in Haft. Selbst einigen seiner Opfer geht das zu weit. Scheich Emad al Din al Awadi war zehn Jahre in Saddams Gefängnissen inhaftiert gewesen. Die Schergen des damaligen Diktators töteten einen Bruder des Scheichs und warfen vier weitere ins Gefängnis. Sein Vater starb darüber am Kummer. Sein zweistöckiges Haus im Bagdader Vorstadtviertel Kadhimiya hat der Scheich zum „Menschenrechtskomitee für ehemalige politische Gefangene“ gemacht. Tausende Akten der mörderischen Geheimdienste lagern dort, die Scheich al Awadi und seine Gefährten in den Tagen des Regimefalls vor der Vernichtung retteten. „Ich bin nicht glücklich darüber, was man mit meinem Feind anstellt“, sagt er zu Besuchern. „Ihn zu bestrafen obliegt jenen, die unter ihm gelitten haben. Niemandem sonst.“

Zumindest die Chance darauf besteht nun. Die Amerikaner wollen Saddam nur eine gewisse Zeit festhalten und ihn dann an das irakische Sondergericht für Regime-Verbrechen ausliefern (siehe Kasten).

Tod am Galgen? Offen ist freilich, ob der Umstand, dass Saddam hinter Gittern sitzt, dass Bilder des Ex-Diktators im Häftlingskleid verbreitet werden, dass er dem Tod am Galgen geweiht sein könnte, dem Irak Frieden bringen wird. Vorerst deutet wenig darauf hin. Als ob sie beweisen wollten, dass ihr Wille ungebrochen ist, provozierten Saddam-Anhänger zu Beginn der Woche nach dessen Festnahme in den sunnitischen Kerngebieten westlich und nördlich von Bagdad eine neue Welle der Gewalt. In Falludscha stürmten sie das Bürgermeisteramt. In Ramadi wehrte das US-Militär einen ähnlichen Sturm auf den Sitz der Provinzregierung mit Schusswaffen ab, zwei Demonstranten blieben tot liegen. In Tikrit kam das US-Militär mit Schlagstöcken aus. In Samarra ließen Aufständische weiße Tauben als Signal für den Angriff auf eine US-Patrouille hochfliegen. Als der Hinterhalt zuschnappte, musste der US-Trupp per Funk eine zweite Einheit zu Hilfe rufen. Gemeinsam schoss man sich den Weg frei. Nach US-Angaben wurden elf Iraker getötet, ohne eigene Verluste.

Von den Medien wenig beachtet, kam es auch im nördlichen Bagdader Vorstadtbezirk Adhamiya zu einem blutigen Zusammenstoß. An der Umfriedungsmauer der Abu-Hanifa-Moschee waren am Mittwoch nach Saddams Gefangennahme die landesüblichen, in weißer Schrift auf schwarze Tücher geschriebenen Todesanzeigen zu sehen. Sie galten vier „Märtyrern“ – Männern, die von US-Soldaten erschossen wurden. Der Bezirk ist eine Hochburg der Saddam-Loyalisten. „Es lebe der Widerstand! Hoch die Baath-Partei! Auf zum Dschihad!“, steht überall auf den Wänden. Die Männer bei der Moschee klagen über willkürliche Hausdurchsuchungen; über vom US-Militär verschleppte Angehörige, von denen sie keine Nachricht haben; über den Umstand, dass die Amerikaner die Leiche eines Jugendlichen erst herausrücken würden, wenn die Eltern ihnen verrieten, wer die Führer der Aufständischen sind. Ihr Idol ist nach wie vor Saddam. Bei der Gefangennahme sei ihm ein Betäubungsmittel ins Versteck gesprüht worden, sodass er sich nicht wehren konnte, meinen die einen; dass nicht er, sondern ein Doppelgänger geschnappt worden wäre, die anderen. „Wir haben so lange unter Saddams väterlicher Herrschaft gelebt“, erklärt der Gelegenheitsarbeiter Mohammed Mahmoud, „unsere Liebe zu ihm lässt nicht nach.“

Doch die Saddam-Loyalisten, die den früheren Zustand restaurieren wollen, bilden nur eine von mehreren Fraktionen im antiamerikanischen Aufstand. Da gibt es ehemalige Baathisten, die sich nach dem schmählichen Fall Bagdads oder schon früher von Saddam abgewandt hatten und nun eine sunnitisch-nationalistische Agenda verfolgen. Dann gibt es radikale Islamisten, unter ihnen irakische und aus dem Ausland eingesickerte Wahhabiten, die für einen Gottesstaat mit rigider Schariatsordnung nach saudi-arabischem Vorbild kämpfen. Zwischen all diesen Fraktionen gibt es temporäre und taktische Bündnisse. Die Beseitigung Saddams könnte die Interaktion zwischen ihnen sogar noch intensivieren. „Die Eliminierung Saddams mag die regimeloyalen Aufständischen demoralisieren“, schrieb Ahmed S. Hashim, Strategieprofessor an der US-Marinehochschule, im August, „aber sie mag ebenso regimefeindliche und antiamerikanische Aufständische ermutigen, die sich, aus kaum verhüllter Furcht vor einer Rückkehr des Regimes, in der Vergangenheit eher zurückhielten.“

Angst vor Vergeltung. Schließlich einigt die sunnitischen Fraktionen das Unbehagen über den vorhersehbaren Ausgang eines demokratischen Prozesses. Bei einem mehr als 60-prozentigen schiitischen Bevölkerungsanteil droht ihnen der Verlust ihrer privilegierten Stellung, die sie nicht nur unter Saddam, sondern schon unter türkischer und britischer Herrschaft innehatten. Viele treibt auch die Angst um, dass die künftigen neuen Machthaber sie ihre Vergeltung spüren lassen könnten.

Tatsächlich drängen die schiitischen Großajatollahs im heiligen Nadschaf auf eine beschleunigte Abhaltung von allgemeinen Wahlen. Ihre Gläubigen halten sie zur Kooperation mit der Besatzungsverwaltung an. Nach den amerikanischen Plänen wird es aber erst Anfang 2005 Wahlen für einen Verfassungskonvent und knapp vor Ende 2005 Parlamentswahlen geben. Die ab 1. Juli 2004 tätig werdende souveräne Übergangsregierung soll von einem Übergangsparlament gewählt werden, dessen Mitglieder aus einem kontrollierten Selektionsverfahren hervorgehen werden. Zusammen mit ihren Gefolgsleuten im Regierungsrat wollen die Amerikaner spontane Entwicklungen verhindern und den politischen Prozess so steuern, dass ihre wirtschaftlichen und geostrategischen Interessen gewahrt bleiben. Die großen schiitischen Parteien haben sich inzwischen mit diesem Zeitplan abgefunden. Sie drängen die Ajatollahs diskret dazu, seine Durchsetzung nicht zu blockieren.

Stromausfälle und Warteschlangen. Bei vielen einfachen Schiiten wächst aber die Ungeduld über die ausbleibenden Verbesserungen im Alltag. Die Warteschlangen vor den Tankstellen sind länger denn je, die Stromausfälle wurden in letzter Zeit nicht weniger. Man verdient mehr Geld, hat aber mehr Ärger beim Organisieren der Tagesroutine.

Auch aus religiösen Motiven gibt es bei den Schiiten massive Vorbehalte gegen die amerikanische Militärpräsenz. Außerdem existiert ein starkes irakisches Staatsbewusstsein, sodass die Trennlinien zwischen Schiiten, Sunniten und Kurden immer noch leicht zu überbrücken sind.

Für die Amerikaner ist es ein Glück, dass die Aufständischen in den sunnitischen Kerngebieten noch keine gesamt-nationale politische Strategie entwickelt haben. So arbeitet die Zeit eher für die Amerikaner. In den nächsten Monaten sollen jene 18,6 Milliarden US-Dollar im Land investiert werden, die US-Präsident George W. Bush im November vom Kongress bewilligt bekam. Sie sind explizit für den Wiederaufbau vorgesehen. Die maroden Elektrizitätswerke, Kläranlagen und Raffinerien könnten so repariert werden.

Kombiniert mit einer harten Gangart in der Aufstandsbekämpfung – das US-Militär zerschlägt pro Woche mehrere Rebellengruppen und beschlagnahmt regelmäßig Waffen und Geld –, könnte dies zu einer Schwächung des Aufstands führen. „Die Leute wollen ausreichend Strom und Benzin haben, sich nicht vor Kriminellen fürchten müssen und einen Job haben“, sagt ein Bagdader Journalist. „Wenn das gewährleistet ist, beruhigt sich das Land.“