Helden aus dem Orient

Moderate Muslime sitzen in Europa zwischen allen Stühlen

Euroislam. Warum moderate Muslime in Europa zwischen allen Stühlen sitzen

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Von Tessa Szyszkowitz / London, Marseille

Wer ist ein „Held des Islam“? Die Antwort auf die Preisfrage des beginnenden 21. Jahrhunderts kann sehr unterschiedlich ausfallen. Latifa Ibn Ziaten hat dies zu ihrem Entsetzen selbst erfahren. Ihr 30-jähriger Sohn Imad wurde vor sieben Monaten erschossen. Er war Fallschirmspringer in der französischen Armee. „Mein Sohn war stolz, seinem Heimatland zu dienen“, sagte Latifa bei der Trauerfeier im Frühling. Sein Mörder war Mohammed Merah, ein 24-jähriger islamistischer Terrorist, der zuerst drei muslimische Soldaten der französischen Armee erschoss und dann drei jüdische Kinder und einen Rabbi vor einer jüdisch-orthodoxen Schule.

Latifa Ibn Ziaten
, eine 52-jährige Frau mit Kopftuch, fuhr nach der Zeremonie dorthin, wo der Mörder aufgewachsen war, in die Cité des Izards in Toulouse. „Wer ist Mohammed Merah für euch?“, fragte sie die Jugendlichen auf der Straße. „Ein Held des Islam!“, riefen sie. „Aber er hat meinen Sohn umgebracht“, sagte sie. Die Burschen waren betroffen. Vor ihnen stand eine Glaubensschwester. Mit hängenden Schultern entschuldigten sie sich für ihre Bemerkung. Latifa ging mit ihnen Couscous essen. Kurze Zeit später gründete sie ihre eigene Bewegung, die sich „für die Jugend und den Frieden“ einsetzen soll. Sie will das Bewusstsein stärken, dass die unterprivilegierten Einwandererkinder der Cité des Izards Teil des Narrativs ihrer neuen Heimat sind: maghrebinische Franzosen als Bürger der Republik, nicht als deren Antithese.

Diese religiöse Minderheit ist nicht nur eine Herausforderung für die Einwanderungs- und Integrationspolitik Europas. Der europäische Islam braucht eine Reformbewegung. Denn die europäischen Muslime werden sich gerade ihrer Diversität, ihrer Gemeinsamkeiten und Unterschiede bewusst. Seit 9/11 ist die Reputation der Lehre Mohammeds auf dem Tiefpunkt angelangt. Die schrillen Schreie islamistischer Fanatiker irritieren die Mehrheit der moderaten Muslime mindestens so sehr wie Nichtmuslime. Immer lauter werden die Stimmen, die den Islam nicht den Islamisten überlassen wollen. „Ich sage: ‚Meldet euch zu Wort!‘“, betont der Popstar des europäischen Islam, der umstrittene Professor für Islamwissenschaften, Tariq Ramadan, im profil-Interview: „Wir brauchen Selbstkritik!“

Doch Kritik, geschweige denn Selbstkritik, ist in der enorm heterogenen Welt des Islam keine einfache Sache. Die Anhänger des Propheten Mohammed haben sich seit dem siebten Jahrhundert vom Nahen Osten auf den ganzen Globus ausgebreitet. 1,6 Milliarden Muslime leben heute entweder in Ländern, wo sie die Mehrheit stellen wie in Pakistan, Indonesien, im Iran oder in Ägypten. Oder sie leben als Minderheiten in den mehrheitlich christlichen Ländern im Westen. In Europa – wenn man die Türkei nicht dazurechnet – beten rund 40 Millionen Menschen Richtung Mekka. Oder auch nicht, denn viele Muslime beten längst nicht mehr. Anders als im Christentum gibt es keinen Austritt aus der Glaubensgemeinschaft. Atheistische Muslime sind in den Statistiken deshalb schwer zu erfassen.

Ideologisch erstreckt sich die Bandbreite von Agnostikern, die noch traditionelle Feste feiern, bis zu wahhabitischen Al-Kaida-Terroristen. Die Al Kaida mit ihrer anti­westlichen, gewalttätigen Ideologie wird heute in den Augen vieler mit dem Islam schlechthin gleichgestellt. Zumindest steht der Islam im Westen selbst bei vielen aufgeklärten Beobachtern als reaktionäre, frauenfeindliche Religion unter Generalverdacht. Eine vergangenen Donnerstag veröffentlichte Umfrage im Auftrag der französischen Tageszeitung „Le Figaro“ ergab, dass 43 Prozent der Franzosen eine muslimische Gemeinde in ihrem Land eher als „Bedrohung“ für die Identität Frankreichs ansehen.

Die Identifizierung des Islam mit den jeweils radikalsten Grüppchen rührt wohl auch daher, dass es im Islam weniger ausgeprägte Hierarchien und Strukturen gibt. Der sunnitische Islam kennt keinen Klerus. Aber auch innerhalb des schiitischen Islam gibt es verschiedene Rechtsschulen, deren Autorität nur für die jeweiligen Anhänger gilt. Das Verständnis der „umma“, der Gemeinschaft, ist allumfassend. Eine Reformbewegung kann sich also nicht so einfach von einem Papst lossagen, weil es keinen gibt.

Trotz ähnlicher Voraussetzungen hat sich auch im Judentum eine Reformbewegung gebildet, die etwa Frauen als Rabbinerinnen erlaubt. Das hat allerdings knapp drei Jahrtausende gedauert. Der moderne muslimische Mittelstand in Europa ist dagegen eben erst entstanden. Aus den billigen Gastarbeitern in Deutschland, die man in den siebziger Jahren aus der Türkei geholt hatte, war Ende der achtziger Jahre eine religiöse Minderheit geworden. Wie in Wien sind dabei die Muslime aus der Türkei, Bosnien oder Albanien von ihrer Tradition her nicht besonders radikal.

Vergangenen Sommer zeigte die Beschneidungsdebatte, wie schnell das Verständnis für kulturelle Unterschiede endet. Muslime und Juden fühlten sich in ihrer Existenz infrage gestellt, weil viele Deutsche und Österreicher sich für ein gesetzliches Beschneidungsverbot aussprachen. Da hilft es nicht, dass Deutschland zudem Schlachtfeld für islamistische Gotteskrieger geworden ist. Der aus dem Iran stammende Rapper Shahin Najafi emigrierte 2005 nach Deutschland, um seine aufmüpfigen Liedertexte in der freien Welt zu singen. Als einer seiner Songs über einen religiösen Führer 500.000-mal auf YouTube gehört worden war, reichte es den iranischen Mullahs. Im Mai 2012 verhängte ein Großajatollah eine Fatwa gegen Najafi. Jemand setzte daraufhin ein Kopfgeld von 100.000 Dollar aus. Der Rapper lebt jetzt in Köln im Untergrund. Seit der islamkritische Filmemacher Theo van Gogh 2004 auf offener Straße in Amsterdam erschossen wurde, sind Islamkritiker auch in Europa ihres Lebens nicht mehr sicher.

Solche Todes-Fatwas fördern zwar das Bedürfnis nach Reform innerhalb des Islam, erleichtern die öffentliche Debatte darüber aber nicht gerade. In Frankreich hat Islamologe Olivier Roy zur Jahrtausendwende dazu aufgerufen, jenseits der Angst vor Extremisten der Tatsache in die Augen zu sehen, dass aus den billigen Arbeitskräften aus dem ehemaligen Kolonialreich längst eine muslimische Mittelklasse entstanden ist, die man integrieren sollte – mitsamt ihren religiösen Ritualen und Bedürfnissen.

Dem republikanischen Frankreich fällt dies schwer.
Seit 2004 ist es verboten, mit Kopftuch in staatliche Schulen zu gehen. Aus Reaktion gehen viele junge Musliminnen in religiöse Schulen. In Marseille oder Paris sind inzwischen rein muslimische Stadtteile entstanden, in denen nur noch halal gegessen wird, nach den islamischen Speisegesetzen. Der französische Islamexperte Gilles Kepel zeichnet in seiner Studie „93“ ein bedrohliches Szenario: „Die junge Generation der Muslime grenzt sich mehr und mehr ab“, meinte er dazu im profil-Interview (Nr. 12/2012).

Auch in Großbritannien sind von der Queen abwärts Nichtmuslime wie Muslime mit der Entwicklung des europäischen Islam überfordert. Das ehemalige Empire versteht sich als liberales Einwandererland, nach London ziehen nicht nur die reichen Prinzen aus den Golfstaaten, um mit Porsches um das Edelkaufhaus Harrod’s zu kurven. Auf die britische Insel zieht es seit Generationen Einwanderer aus den Commonwealth-Staaten Pakistan und Indien. Sie bringen ihre Traditionen und ihre Politik mit.

Mit der Todes-Fatwa gegen Salman Rushdie wurde 1989 schlagartig klar, dass die Integration der Muslime nicht ohne Schwierigkeiten vor sich gehen würde. Rushdie lebte ein Jahrzehnt im Untergrund, wie er in seinen soeben erschienenen Memoiren „Joseph Anton“ beschreibt. Militanter Islamismus ist in Großbritannien noch lange nicht Geschichte. Am 5. Oktober wurde nach neun Jahren der Abschiebekampf um den radikalen Islamisten-Prediger Abu Hamza al-Masri entschieden. Der ideologische Wegbereiter von 9/11 wurde in die USA ausgeliefert, wo er lebenslang im Gefängnis sitzen wird. Das fand die Queen gut. Einem BBC-Korrespondenten hatte sie vor Jahren anvertraut, sie könne nicht verstehen, wie ein Hassprediger wie Abu Hamza immer noch frei in London herumlaufen könne.

Der Fluch der Extremisten aber lastet in der Realität weniger auf den Bewohnern des Buckingham-Palasts. Viel unmittelbarer trifft er die eigene Glaubensgemeinschaft. Usama Hasan war einst selbst Islamist, er kämpfte in Afghanistan gegen die sowjetische Invasion. Er kommt aus einer wahhabitischen Familie, sein Vater ist seit Jahrzehnten führendes Mitglied in der Masjid-al-Tawhid-Moschee in Leyton in Ostlondon. Die Familie Hasan stammt aus Pakistan, ihren Sohn Usama schickten sie auf Englands Eliteschulen. Dann studierte Usama in Oxford. Doch er wurde noch religiöser und ideologisch radikaler als sein Vater: „Nach 9/11 konnte ich es als Muslim in London nicht mehr aushalten, ich zog mit der Familie nach Pakis­tan, um den wahren Islam zu leben.“ Dort wurde Usama desillusioniert: „Es gab keine Liebe und keinen Frieden zwischen den Muslimen, bloß Korruption und Gewalt.“

2003 kehrte er in seine zweite Heimat London zurück. Dort leitete er einmal pro Monat in der Moschee seines Vaters das Freitagsgebet. Seine Anschauungen wurden immer moderater, er bezog Frauen ein, er sprach von den Vorteilen der westlichen Werte und wie der Islam sich mit der Demokratie vertragen könne. Die Gemeinde reagierte mit Unverständnis auf den allzu liberalen Imam. Sein Vater setzte sich noch für ihn ein, doch ohne Erfolg. Vergangenen Frühling warf man Usama hinaus.

Jetzt ist Imam Usama Hasan moscheelos.
Er arbeitet stattdessen für Quilliam, einen Think Tank gegen Extremismus, in dem ehemalige Islamisten einen demokratischen Islam propagieren. „Ich würde gerne eine liberale Moschee gründen“, meint der bärtige 40-jährige Familienvater mit Oxford-Akzent. „Doch erstens braucht man dazu Geld, und zweitens hätte ich Angst, dass man die Moschee in der ersten Nacht abfackelt.“

Angst vor islamistischer Gewalt haben muslimische Reformer in Europa ebenso wie die im Nahen Osten. Dank des arabischen Frühlings haben die Muslime am südlichen Rand des Mittelmeers jetzt immerhin die Chance, demokratische Staaten mit islamischem Charakter zu entwickeln. Die Muslimbruderschaft gewinnt überall die ersten freien Wahlen. Vorerst regieren sie in Ägypten unter Präsident Mohammed Mursi pragmatisch, aber die demokratischen Aktivisten vom Tahrir-Platz fürchten unausgesprochene Intentionen der Islamisten. An der Al-Azhar-Moschee und -Universität in Kairo, die als ein spirituelles und intellektuelles Zentrum des Islam gilt, suchen die Vordenker nach neuen Positionen. Doch allgemein kommt im Zangengriff von Armee und Islamisten wenig Reformfreude auf. „Bei uns muss man jetzt alles Schritt für Schritt angehen“, meint auch Hamid El-Zoheiry, Präsident der Heliopolis-Universität in Kairo, vorsichtig. „Wir erreichen Reform durch die Wissenschaft.“

Ob die Wissenschaft den religiösen Eifer der herrschenden Islamisten im Zaum halten kann? In der Türkei regiert eine islamisch orientierte Partei unter Recep Tay­yip Erdogan seit knapp zehn Jahren halbwegs demokratisch, aber was in der Türkei darunter zu verstehen ist, wäre in Westeuropa ein Verstoß gegen die Meinungsfreiheit. Dem türkischen Pianisten Fazil Say droht eine Gefängnisstrafe von fünfzehn Monaten, weil der radikale Kemalist, dem Religion zuwider ist, auf Twitter Witze über einen Muezzin gepostet hat.

Am Rande wie im Zentrum wird sich Europa mit seinem muslimischen Mittelstand leichter tun, wenn sich dieser klarer positioniert. Können Kopftücher ebenso wie Jarmulken oder Kreuze Ausdruck religiöser Identität sein, ohne antidemokratisches Gedankengut auszudrücken? Vielleicht, solange die Religion von allen als Privatsache verstanden wird, die das demokratische Grundverständnis nicht infrage stellt. Europa steht gerade am Beginn dieser Diskussion. Und der Islam am Beginn einer tief greifenden Reformdebatte.

Latifa Ibn Ziaten, die Mutter des von Mohammed Merah getöteten Soldaten, ist ein Beispiel dafür, wie moderne Muslime in Westeuropa ihren Platz in der Gesellschaft zu besetzen beginnen. Sie will für bessere Erziehung der Einwandererkinder in Frankreich kämpfen, damit sie ihre neue Heimat annehmen. „Mich hat Frankreich mit offenen Armen aufgenommen“, sagt sie. Entgegen dem Willen ihres Mannes hat sie nach dem Mord an ihrem Sohn Imad begonnen, ein Kopftuch zu tragen: „Als Ausdruck der Trauer.“ Sie hält den Islam für Privatsache.

Das Bemühen um Frieden zwischen Franzosen aller Glaubensrichtungen setzt Latifa Ibn Ziaten allerdings erst Ende November fort. Zurzeit ist sie in Saudi-Arabien. Sie geht auf den Hadsch, die für gläubige Muslime vorgeschriebene Pilgerfahrt nach Mekka.