Island in Sicht

Island in Sicht: Das Leben nach dem Absturz

Reykjavík. Das Leben nach dem Absturz

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„Tvöthúsundogtvö“ ist ein isländisches Zahlwort und heißt zweitausendsieben. Es bedeutet aber weit mehr als eine bloße Jahreszahl. Auf der rauen Insel im Nordatlantik ist es so etwas wie ein Unwort: Es bezeichnet das Jahr, in dem die größte Krise in der Geschichte des Landes begonnen hatte, obwohl das damals die meisten ­Isländer nicht ahnten oder, schlimmer noch, nicht wahrhaben wollten. Heute steht 2007 für Maßlosigkeit, grenzenlose Selbstüberschätzung und Missachtung allen gesunden Menschenverstands, die ein ganzes Land in eine beispiellose wirtschaftliche, finanzielle und existenzielle Katastrophe stürzen sollten.

Island war 2007, gemessen am Pro-Kopf-Einkommen, das fünftreichste Land der Erde. Das Bruttoinlandsprodukt stieg in diesem Jahr um fünf Prozent, das war doppelt so viel wie in Deutschland. Mit kaum einem Prozent Arbeitslosigkeit herrschte praktisch Vollbeschäftigung, die Banken warfen mit günstigen Krediten um sich, die Zahl der Autos pro Familie war höher als in irgendeinem anderen Land Europas, und das waren meist keine kleinen Toyotas und Mitsubishis, die in den Bungalow­einfahrten rund um die Hauptstadt Reykjavík parkten, sondern PS-starke amerikanische SUVs vom Typ Ford Excursion, Chev­rolet Suburban oder Hummer.

Der Immobilienmarkt im Land brummte, in Reykjavík fuhren die Kräne auf, um in der knapp 120.000-Einwohner-Stadt ein Little Manhattan entstehen zu lassen. Sechs- bis achtspurige Straßen verbanden die Stadt mit ihren Trabanten und den dazwischenliegenden Megamärkten. Teure Weine strömten, Luxusrestaurants waren ausgebucht, und Kunstgalerien kamen nicht mehr nach, die Wände ihrer Banker-Kunden mit immer neuer Ware zu behängen. Skibegeisterte jetteten in die Schweiz, Golfer mieteten Trainingscamps in Spanien. Und die Gattinnen und Töchter der neureichen Unternehmer flogen zum Weihnachtsshopping nach Paris und New York. Eine ganze ­Nation schien im Taumel zu liegen, berauscht von der Illusion, mit einem Schlag und für alle Zeiten das karge Leben ihrer fischenden und Schafe züchtenden Vorfahren hinter sich gelassen zu haben. Dieses traurige Leben hatte Islands bekanntester moderner Dichter, der Nobelpreisträger Halldór Laxness eindringlich beschrieben: „Und wenn man ein Leben lang ständig und ohne Unterlass arbeitet, dann kann es sein, dass man ­genug Geld für seine eigene Beerdigung hat.“

Aber Halldór Laxness (1902–1998) schien auf einmal auch für das 21. Jahrhundert Recht zu bekommen. Denn nach wenigen Monaten war der schöne Spuk vorbei. Im Oktober 2008, nach der Lehman-Pleite in Amerika, war die Verschuldung der isländischen Banken auf das Zwölffache des Staatshaushalts ­angewachsen. Der Premierminister musste dies der Bevölkerung mitteilen und schloss seine TV-Ansprache mit den düsteren Worten: „Gott segne Island.“

Damit hatte sich eine Binsenwahrheit bewiesen, die jenen wenigen Journalisten und noch wenigeren Politikern, die sie 2007 auszusprechen wagten, nur Hohn eingebracht hatte: dass nämlich die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Das gilt, im wahrsten Sinne des Wortes, speziell im hohen Norden mit seiner kargen Vegetation. „Was macht man“, lautet ein Joke, den isländische Trekkingführer gern ihren ausländischen Gästen auftischen, „wenn man sich in einem isländischen Wald verirrt? Man steht auf!“

Im Oktober 2008 mussten die verirrten Isländer aufstehen und starrten hinunter auf die Zwergbirken und Blaubeeren und das Isländisch Moos, das als bitterer Hustentee in alle Apotheken der Welt verkauft wird. Aber die Krankheit, die das Land befallen hatte, steckte tiefer in der Brust als Husten und Bronchitis, sie hatte Existenzen und Familien befallen und führte bisweilen zu bestürzenden Reaktionen. Das Land ist voll von skurrilen Geschichten, in denen Ausweglosigkeit in schiere Verzweiflung mündete. Wie bei jenem Häuslbauer in Álftanes bei Reykjavík. Als er seinen Fremdwährungskredit wegen der Abwertung der Isländischen Krone nicht mehr bezahlen konnte, besorgte er sich einen Bulldozer und zerstörte eigenhändig sein gerade fertiges Haus. Wenn schon er selbst es nicht behalten durfte, sollte es auch die Bank nicht bekommen. Ein anderer, dessen Auto wegen Kreditrückständen gepfändet werden sollte, raste damit in die Bank und legte, mit den Worten „Da habt ihr die Karre“, die Schlüssel auf den Kassenschalter. Draußen empfing ihn die Polizei.

Dass der Zorn der Verzweifelten sich zuerst gegen die Banken richtete, ist verständlich, greift aber entschieden zu kurz. Denn diese agierten – wer denkt da nicht an die Hypo Alpe-Adria in Kärnten – nie im politikfreien Raum. Im Gegenteil: Der Privatisierung der Banken am Ende des 20. Jahrhunderts unter dem Premier David Oddsson und seiner Unabhängigkeitspartei war eine deklariert neoliberale Politik vorausgegangen. Die Fischerei, den für Island wichtigen und symbolträchtigen Wirtschaftszweig, war zunehmend von großen Investoren übernommen, die kleinen traditionellen Fischfangbetriebe in den Ruin getrieben worden. 1999, nach einem Wahlsieg, privatisierte dann Oddsson nicht nur die Banken, sondern auch die Post und die Telefongesellschaft. Die natürliche Energie aus Wasserkraft und geothermischen Kraftwerken sollte an ausländische Industrieunternehmen verkauft werden und damit ­Investoren, vor allem aus der Aluminiumindustrie, anziehen.

Bei der Privatisierung der Banken zog die Politik in allen Phasen die Fäden. Statt viele Kleinaktionäre, wie ursprünglich versprochen, kamen „Haupteigentümergruppen“ zum Zug. Die Bevölkerung bekam das Gefühl, die Regierungsparteien („Unabhängige“ und „Progressive“) hätten sich die Banken unter­einander aufgeteilt. Hauptaktionär der der Unabhängigkeitspartei nahestehenden Landsbanki, der ältesten und zweitgrößten isländischen Bank, wurde eine Unternehmergruppe, die mit wechselndem Erfolg im Reedereigeschäft, bei russischen Brauereien – gelegentlich der Mafianähe geziehen und schließlich an Heineken verkauft – und im Pharmabusiness mitmischte. Im Gegenzug kam bei der Búnadarbankinn, die der Progressiven Partei zugerechnet wurde, eine aus Landwirtschaftsgenossenschaften hervorgegangene Gruppe zum Zug. Die Hauptaktionäre gerierten sich als Investoren und Mäzene. Björgólfur Gudmundsson, starker Mann bei Landsbanki, kaufte den englischen Fußballklub Westham und war Initiator einer umstrittenen Konzerthalle am Hafen von Reykjavík, die – vom dänisch-isländischen Künstler Olafur Eliasson designt – nun doch 2011 fertig gebaut werden soll.

Der internationale Bekanntheitsgrad der Banken stieg nach deren Privatisierung unglaublich schnell. Die erst 1982 gegründete größte isländische Bank Kaupthing hatte Niederlassungen in mehr als zehn Ländern, darunter auch in Österreich. Auf der „Forbes“-Liste wurde sie unter den 800 größten Firmen der Welt gereiht.

Die Isländer nutzten die Gunst des Jahrzehnts.
Überall drängte Geld in gewinnträchtige Anlagen. Landsbanki lockte mit hohen Zinsversprechen Tausende kleine Sparer, vor allem in Großbritannien und Holland, ihr Geld per Online-Banking anzulegen. Die Verluste dieser „Icesafe“-Online-Konten nach der Bankenpleite wurden den Anlegern zwar von ihren Regierungen in London und Amsterdam ersetzt, diese wollen das Geld aber vom isländischen Staat zurück und machen das zur Bedingung für einen EU-Beitritt der Insel.

War Island wirklich das „Versuchslabor für die Weltwirtschaftskrise“, wie es Einar Már Gudmundsson in der „Süddeutschen Zeitung“ mutmaßte? Der Schriftsteller war Initiator der „Kochtopfrevolution“, bei der bis zu 6000 Bürger im Jänner 2009 mit Pfannen und Kellen lautstark den Rücktritt jener ­Politiker erzwangen, „die den Reichtum ihres Volkes an ihre Freunde verschenkten“. WikiLeaks enthüllte, dass die Kaupthing Bank kurz vor ihrer Pleite Milliarden an die Haupteigentümer verliehen hatte.

„Wir sind alle Isländer“, verkündet eine „subjektive Analyse über die Lage auf der einstmals friedlichsten Insel der Welt“. Herausgegeben vom Halldór-Laxness-Biografen Halldór Gudmundsson, will sie Isländern Trost spenden und den Rest der Welt warnen. Tatsächlich scheint der Finanzvulkan auf der Noch-nicht-EU-Insel im Nordatlantik inzwischen etwas beruhigt, ganz im Gegensatz zu den kontinentaleuropäischen Krisenherden in Griechenland, Irland, Portugal und was da sonst noch kommen mag.
Hört man Isländern heute zu, so hat man oft das Gefühl, sie seien froh, inzwischen „gelandet“ zu sein, wieder „festen Boden“ unter den Füßen zu haben. „Keine Ahnung, was die Zukunft bringt“, schreibt der Autor Hallgrímur Helgason in „Wir sind alle Isländer“, aber „jetzt ist Schluss mit all diesem Quatsch, jetzt wollen alle wieder Leberkäse und Lammfleisch und Wollstrümpfe und gute Bücher lesen“.

Ist es tatsächlich so einfach?
Jedenfalls hat die Krise eine ­Besinnung bewirkt. Audur Sveinsdóttir, die vor siebzig Jahren auf dem inzwischen längst verkauften elterlichen Bauernhof in Álftanes aufgewachsen war, hat im Oktober 2008 sofort beim Fleischer eine ganze Kuh bestellt und – portionenweise eingefroren – den Mitgliedern der Sippe zugeteilt. Ihre österreichische Schwiegertochter musste sich inzwischen daran gewöhnen, beim Schafeschlachten Blut- und Leberwurst zu rühren, Kartoffeln zu ernten und im Herbst die Ribiseln und Rhabarber aus dem Garten zu Marmeladen zu verkochen.

Wurde vor fünf Jahren ein Schwammerlsucher, der die in Reykjavíks Grünanlagen üppig wuchernden Schopftintlinge briet, Boviste panierte oder Birkenpilze trocknete, argwöhnisch als Spinner beäugt, so ist man inzwischen sogar beim Ernten von Sauerampfer an Wegrändern in bester Gesellschaft. Selbst die Bordzeitung von Iceland Air preist das Pflücken von Beeren und Sammeln von Pilzen als neue Freizeitbeschäftigung.

Eine Voraussetzung dafür, dass der Optimismus, mit dem die Isländer in die Zukunft blicken, eine gewisse Berechtigung hat, liegt paradoxerweise in der geringen Größe von Land und Bevölkerung und in dessen Isolation. Beides hatte die Inselbewohner in ihrer Geschichte immer wieder zu Common Sense bei der Bewältigung von Problemen gezwungen.

Als sich um 870 eine Schar norwegischer Wikinger auf der Insel niederließ, trafen sich die zerstreut auf Höfen Siedelnden einmal im Jahr im Thingvellir, dem „Versammlungstal“, um Recht zu sprechen und Gesetze zu beschließen. Als um das Jahr 1000 das von Norwegen unterstützte Christentum im Vormarsch war, wurde es von den Vertretern des Heidentums, die einen Religionskrieg vermeiden wollten, ­anerkannt, gegen die Zusicherung, dass die alten nordischen Götter weiterhin innerhalb der Familien verehrt werden durften.

Die dänische Kolonialzeit (1380–1918) erlegte dem Land zeitweise rigorose Handelsbeschränkungen auf. Im 18. und 19. Jahrhundert führten Epidemien und Natur­katastrophen zu einem drastischen Bevölkerungsrückgang. Dänemark überlegte ernsthaft, die Insel aufzugeben und die Restbevölkerung in jütländische Marschlandschaften umzusiedeln.

Trotzdem verstanden es die Nordleute, ihre gewaltigen Defizite als kleine Vorteile zu nutzen. Dänemark bedeutete den Zugang zu Aufklärung, Wissenschaft und Bildung. Kopenhagen wurde das Tor zur Welt, auch für Dichter. Halldór Laxness ging als 18-Jähriger nach Dänemark und veröffentlichte dort seine ersten Erzählungen. Bis 1918 bekam Island eine eigene Verfassung, ein Frauenwahlrecht und den Status eines unabhängigen Staats innerhalb des Königreichs Dänemark.

Die endgültige Unabhängigkeit verdankt Island paradoxerweise einer geopolitischen Ausnahmesituation. 1940 errichteten die Briten, ein Jahr darauf die US-Amerikaner auf der neutralen Insel Stützpunkte ­gegen Nazi-Deutschland. Ohne je einen Soldaten gestellt zu haben und ohne das auch in Zukunft tun zu müssen, wurde Island damit 1949 zum Gründungsmitglied der NATO, der es bis heute angehört.

Etwas von jenem Gemeinsinn, der in den hybriden Jahren vor 2007 über Bord gegangen war, scheint seither wieder an Boden zu gewinnen. Unter der sozialdemokratischen Premierministerin Jóhanna Sigurdardóttir, der ersten offen lesbischen Regierungschefin der Welt, hat eine Entschleunigung stattgefunden. Während der Handel dramatisch zurückging – beim Autoverkauf um 90 Prozent –, setzte man auf Tourismus, der seit der Krone-Abwertung blüht, auf erneuerbare Energie mithilfe der unterirdischen Heißwasservorräte und auf eine ökologisch nachhaltige, die Bestände schonende Fischerei. Bei der profitiert die Insel vom Privileg seiner in den „Kabeljaukriegen“ gegen Großbritannien auf 200 Seemeilen ausgeweiteten Hoheitsgewässer – einer der Knackpunkte bei dem in der Bevölkerung umstrittenen EU-Beitritt.

Im Alltagsleben greift eine gewisse Solidarisierung Platz. Zahnärzte behandeln Kinder einmal im Monat kostenlos. Vermieter stunden Zahlungsrückstände. Gunnar Gudmundsson beispielsweise, Transportunternehmer in Reykjavík, fand, es habe niemand etwas davon, wenn sein Mieter in Insolvenz ­gerate, und machte ihm den Vorschlag, dessen Smart statt der Miete als Leihgabe zu akzeptieren. Seither fährt Gunnars Schwiegertochter mit dem Kleinwagen zu ihrem Halbtagsjob in einer Bäckerei und holt anschließend damit ihren Sohn im Kindergarten ab.

Das Angebot der Stadt Reykjavík, ein öffentliches Bad in einer Atlantikbucht viermal die Woche kostenlos offen zu halten, hat inzwischen zu einem kuriosen Volkssport geführt. Regelmäßig treffen sich Hunderte heldenhafter Menschen, um im eiskalten Meer zu schwimmen. Laut letztem SMS nach Wien betrug die Lufttemperatur minus 8 °C, jene des ­Wassers minus 0,5 °C.