Israel: Der Krieger und der Friede

Das schwierige Vermächt-nis von Ariel Sharon

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Arik ist müde, lass ihn schlafen.“ Der Soldat Ariel Sharon konnte seine Augen nicht länger offen halten, also deckte ihn ein Kamerad zu, und der Sergeant wies die anderen Soldaten an, leise zu sein. Es war im Winter des Jahres 1948, Ariel Sharon kämpfte im israelischen Unabhängigkeitskrieg. Ein weiteres Mal, als er einfach nicht mehr konnte, hörte Sharon genau denselben Satz: „Arik ist müde, lass ihn schlafen.“ Diesmal war es im Oktober 1973, Sharon hatte als Divisionschef im Jom-Kippur-Krieg die westliche Seite des Suez-Kanals erreicht und legte sich erschöpft in den Sand.

Ariel Sharon erzählte diese beiden Begebenheiten in seiner 1989 erschienenen Autobiografie „Krieger“. Er sah sich gern als Soldat, der für Israel kämpfte, bis er mit seinen Kräften am Ende war, und den die Mitstreiter ein wenig schlafen ließen, weil sie ihn danach wieder brauchten.

Am Mittwoch vergangener Woche gegen elf Uhr abends wurde Ariel Sharon in die Jerusalemer Hadassah-Klinik eingeliefert. Er hatte eine Hirnblutung und einen schweren Schlaganfall erlitten. Die Ärzte versetzten ihn in Tiefschlaf und operierten ihn die ganze Nacht lang – und in den frühen Morgenstunden ein zweites Mal. Diesmal war der Krieger Sharon nicht bloß müde und erschöpft. Der 77-Jährige kämpfte um sein Leben. Der Mann, der in jedem Krieg Israels gedient hatte, schien am Ende zu sein. Dabei würde er, so scheint es, dringender gebraucht denn je.

Sharon, der 2001 im Alter von 73 Jahren zum Premier gewählt und 2003 im Amt bestätigt worden war, hätte im März zum dritten Mal die Wahl gewonnen, daran besteht kaum ein Zweifel. Die Israelis wollen, dass er sie anführt und kein anderer. Der Krieger ist für die Nation zum Beschützer geworden, zum guten Hirten und schließlich sogar zu dem Mann, der den Frieden mit den Palästinensern verhieß.

Eine unglaubliche Wendung, denn in Ariel Sharons Lebensweg deutete jahrzehntelang nichts darauf hin, dass sein Name einmal mit einem Friedensschluss in Zusammenhang gebracht werden könnte.

Er trat in jungen Jahren der Armee bei, um gegen die Araber zu kämpfen, die dem israelischen Staat im Weg waren. 1953 gehörte er der Einheit 101 an, die arabische Dörfer überfiel, um für palästinensische Angriffe auf Israel Rache zu üben. Die Attacke der Einheit 101 auf den Ort Kibja im Westjordanland war damals Gegenstand einer Resolution des UN-Sicherheitsrates. Dieser rügte die „Gegenmaßnahme“ der israelischen Armee, bei der dutzende Menschen ums Leben gekommen waren und die „die Chancen auf eine friedliche Einigung nur beeinträchtigen“ könne.

Der Soldat Sharon wurde zum Kommandeur einer Fallschirmjägerbrigade befördert, später führte er eine Division im Sechs-Tage-Krieg von 1967 und im Jom-Kippur-Krieg von 1973. Seine militärischen Leistungen brachten ihm den huldvollen Beinamen „Arik, König Israels“ ein.

International berühmt und berüchtigt wurde der kriegerische „König“ 1982, als er in seiner Funktion als Verteidigungsminister die desaströse Invasion des Libanon orchestrierte. Ohne seinem Premierminister Menachem Begin dies explizit mitzuteilen, schickte er die israelische Armee bis nach Beirut, um PLO-Chef Jassir Arafat aus dem Libanon zu vertreiben. Sharon schritt auch nicht ein, als die mit Israel verbündeten libanesischen christlichen Milizen hunderte Palästinenser in den Flüchtlingslagern Sabra und Shatila abschlachteten.

Das Abenteuer im Libanon kostete Sharon 1983 seinen Job. In Tel Aviv hatten zweihunderttausend Menschen gegen ihn demonstriert. Eine Untersuchungskommission nannte ihn „indirekt mitschuldig“ an dem Massaker von Sabra und Shatila. Vor Gericht gestellt wurde er deshalb jedoch nie.

Mit Friedensplänen hatte Sharon erst in der Politik zu tun. Als die israelische Regierung 1977 Friedensverhandlungen mit Ägyptens Präsident Anwar al-Sadat führte, legte Premierminister Menachem Begin auch einen Autonomieplan für die Palästinensergebiete vor. Ariel Sharon, Minister in Begins Kabinett, lehnte den Plan mit der Begründung ab, dass die Autonomie sich in Richtung eines palästinensischen Staates entwickeln könnte.

Sharon war einer der Gründer der rechten Likud-Partei, deren Ideologie einen Fixpunkt hatte: ein „Groß-Israel“, das die biblischen Gebiete Judäa und Samaria – also das Westjordanland – einschloss. Für das Recht der Palästinenser auf Selbstbestimmung war darin kein Platz. Sharon vertrat diese Linie konsequent und entschied sich im Zweifel für die jeweils härtere Position. Keine der zahlreichen Friedensinitiativen fand seine Zustimmung.

Immer dagegen. Er opponierte in den achtziger Jahren gegen den – letztlich erfolgreichen – Versuch, Frieden mit Jordanien zu schließen, weil er in König Hussein von Jordanien keinen Friedenspartner sah. Auch als Jitzhak Shamir, Sharons Parteifreund, 1989 eine Friedensinitiative startete und palästinensische Wahlen in Gaza und dem Westjordanland vorschlug, wandte sich Sharon gegen die Idee.

Längst hatten viele in Israel eingesehen, dass man mit den Palästinensern gemeinsam über einen Weg zum Frieden nachdenken musste. Die USA drängten nach dem Golfkrieg von 1991 auf eine Konferenz, bei der erstmals PLO-Vertreter teilnehmen sollten. Sie fand schließlich in Madrid statt. Sharon hatte sich dagegen ausgesprochen.

Als am 13. September 1993 vor dem Weißen Haus das Osloer Abkommen von Premier Jitzhak Rabin und dem PLO-Vorsitzenden Jassir Arafat unterzeichnet wurde, wusste Ariel Sharon genau, was er davon hielt: nichts. Er bekämpfte den Oslo-Prozess und beendete ihn faktisch, als er im September 2000 zur Provokation der Palästinenser den Bereich um die Al-Aksa-Moschee in Jerusalem besuchte und damit einen der Auslöser für die zweite Intifada lieferte.

Ariel Sharon verfolgte eine ganz andere Strategie als alle Architekten der Nahostverhandlungen. Er arbeitete daran, möglichst große Teile des Westjordanlandes und des Gaza-Streifens mit jüdischen Siedlungen zu besetzen. Damit sollten Fakten geschaffen werden, die eine Rückgabe des Landes, das Israel im Krieg von 1967 erobert hatte, unmöglich machten. Heute leben etwa 240.000 Siedler auf dem Gebiet, das Israel gemäß dem Völkerrecht gar nicht gehört.

Als die zweite Intifada ausbrach, versprach Sharon dem israelischen Volk Sicherheit und wurde zum Premier gewählt. Das Versprechen konnte er nur bedingt einlösen. Die Al-Aksa-Intifada hat in den vergangenen fünf Jahren über 1000 israelische und weit über 2000 palästinensische Opfer gefordert. Erst als Sharon die Idee umsetzte, eine Trennmauer rund um die Palästinensergebiete errichten zu lassen, nahmen die Selbstmordanschläge ab. Allerdings wurde der Verlauf der Mauer international verurteilt, weil sie über weite Strecken innerhalb des palästinensischen Gebietes steht.

Der alte „Bulldozer“ scherte sich nicht darum. Er ließ Raketen auf mutmaßliche Terroristen abschießen und bedauerte, wenn dabei auch Zivilisten ums Leben kamen. Er unterzeichnete „mit Vorbehalten“ den bisher aktuellsten Friedensplan, die „Road map“, doch er hielt sich nicht an die Vorgabe, keine weiteren Siedlungen mehr zu errichten. Sharon tat, was er strategisch für vorteilhaft erachtete, allen Einwänden von Menschenrechtsaktivisten, Völkerrechtlern und Friedensinitiativen zum Trotz. So kannte ihn Israel, und so kannte ihn die Welt.

Vor zwei Jahren jedoch vollzog der alte Haudegen eine überraschende Kehrtwende, die gleich die gesamte politische Szene in Israel auf den Kopf stellte: Der politische Ziehvater der Siedlungsbewegung beschloss, alle israelischen Siedlungen im Gaza-Streifen und vier isolierte Siedlungen im Westjordanland aufzulösen. Kein israelischer Premier außer Menachem Begin, der die Siedlungen auf dem Sinai für einen kalten Frieden mit Ägypten opferte, war bis dahin so weit gegangen. Auch Ehud Barak hatte zur Jahrtausendwende viel versprochen, nie aber auch nur einen Ziegelstein aus den besetzten Gebieten entfernt.

Nicht allein die Siedler verstanden die Welt nicht mehr. Große Teile des rechten politischen Lagers – Sharons Heimat – konnten ihrem Anführer nicht folgen. Dafür erhielt der Likud-Chef vermehrt Zustimmung aus dem politischen Zentrum, und auch große Teile der Linken gingen im Sommer 2005 ein taktisches Bündnis mit ihm ein.

Waffenstillstand. Sharons Beweggründe waren nachvollziehbar, wenn man sie strategisch analysierte. Er wollte den Gaza-Streifen loswerden, weil der permanente Verlust von israelischen Soldaten, die bei der Bewachung der Siedlungen rund um den palästinensischen Millionenslum ums Leben kamen, den winzigen Gebietsgewinn nicht wert war. Stattdessen wollte Sharon die Siedlungen im Westjordanland, die seiner Meinung nach für die Sicherheit Israels ungleich entscheidender sind, weiter ausbauen. So erkaufte er sich mit dem Abzug aus Gaza einen doppelten Waffenstillstand – mit den Palästinensern auf dem Schlachtfeld und mit der israelischen Linken auf dem politischen Parkett. Nur die religiösen Siedler wüteten gegen ihren einstigen Schutzherrn. Sie fühlten sich verraten und sahen nicht ein, dass Sharon das Errichten von Siedlungen nie als religiöse Handlung gesehen hatte, sondern als taktische Maßnahme.

Um den gottlosen Verräter zu bestrafen, trafen sich im vergangenen Juli gläubige Aktivisten der extremen Rechten auf dem Friedhof von Rosch Pina. Ein Kabbalist sprach den Todesschwur „Pulsa di Nura“ (aramäisch für „Feuerpeitschen“), die Männer wiederholten das Gebet. Vergangene Woche gab Baruch Ben-Yosef, einer der Aktivisten, bekannt, Sharons naher Tod sei eine Folge dieses Schwurs.

Abseits von derlei Voodoo hatte Sharon mit dem Gaza-Abzug beachtlichen politischen Mut bewiesen. Nun aber lag er im Koma, die Parteien stellten den Wahlkampf ein, politische Gegner wie Benjamin Netanjahu beteten für den Todkranken, und niemand wusste, wie es weitergehen sollte.

Vergangenen Freitag wurde klar, dass Ariel Sharon nie wieder in die Politik zurückkehren würde (bei Redaktionsschluss Freitagnacht lag Sharon nach einer dritten Notoperation im künstlichen Koma). Die Nation, die ihm mit fast kindlicher Naivität zugetraut hatte, eine Lösung parat zu haben, war ratlos. Was ist sein Vermächtnis?

Sharon hinterlässt eine neue Partei, Kadima, die er vor Kurzem erst gründete und mit der er ein neues politisches Zentrum besetzen wollte. Nach einer ersten Umfrage des Instituts Dialog müssen sich die Kadima-Erben derzeit keine Sorgen machen: Sollte Vize-Premier und Kadima-Mitglied Ehud Olmert Sharons Neugründung in die Wahlen führen, könnte er 40 Mandate gewinnen und stärkste Kraft in der Knesset werden. Unter dem ehemaligen Labour-Mann Shimon Peres dürfte Kadima sogar noch besser fahren. Peres könnte 42 Sitze erringen. Genauso viele Abgeordnete wurden Sharon prognostiziert.

Was aber hinterlässt Sharon seinen Erben an politischen Zielsetzungen?

Er hatte mit dem Abzug aus Gaza gezeigt, dass es möglich ist, israelische Siedlungen aufzulösen, ohne einen Bürgerkrieg zu entfachen. Diesen Präzedenzfall zu schaffen war Sharons bedeutendste politische Leistung seiner zweiten Amtszeit, und er hatte sich damit ein neues Image als potenzieller Friedensbringer verpasst.

Hätte er als wiedergewählter Premierminister nach dem 28. März noch Bedeutendes für den Friedensprozess tun wollen? Vor der UN-Generalversammlung im September 2005 sagte er zum ersten Mal, dass die Palästinenser ein Recht auf einen unabhängigen Staat haben. Im Kadima-Programm heißt es: „Das Ende des Konfliktes wird von der Existenz zweier Nationalstaaten gekennzeichnet sein, die auf der demografischen Wirklichkeit gründen. Sie werden in Frieden und Sicherheit nebeneinander leben.“ Sharon äußerte sich jedoch nicht dazu, in welchen Grenzen dieser Palästinenserstaat entstehen sollte. „Schon vor seinem Schlaganfall hat uns Sharons Gehirn Rätsel aufgegeben“, schreibt der Kommentator Akiva Eldar in der Zeitung „Haaretz“.

Kaum jemand hatte Sharon wirklich zugetraut, mit den Palästinensern Frieden schließen zu können. Er hätte dafür nicht nur ein paar Siedlungen aufgeben müssen, sondern seine gesamte politische Konzeption. „Sharon wollte einen palästinensischen Staat in Gaza schaffen und einen palästinensischen Staat im Westjordanland verhindern“, meint der palästinensische Intellektuelle Salim Tamari vom Institut für Jerusalem-Studien. Für einen echten Palästinenserstaat, das haben alle ernsthaften Verhandlungen ergeben, muss Israel fast das gesamte Westjordanland den Palästinensern übergeben. „Dazu wäre Sharon niemals bereit gewesen“, sagt Tamari.

Der Friedensengel namens Sharon ist ein Mythos. Der „Bulldozer“ unternahm jahrzehntelang alles, um Friedensbemühungen zu unterlaufen. Er schuf mit der Trennmauer auf palästinensischem Gebiet ein zusätzliches Hindernis. Er stellte die Palästinenser vor vollendete Tatsachen, anstatt mit ihnen zu verhandeln. Aber auch ein Mythos kann Wirkung entfalten. Vielleicht wird die Kadima-Partei neue Wege gehen und sich dabei vage auf Sharons Vermächtnis berufen, vielleicht können Friedensvorschläge dem Volk besser verkauft werden, wenn sie mit dem Etikett versehen werden: „Sharon hätte es so gewollt.“ Israel und die Welt könnten das Andenken an einen Sharon hochhalten, den es gar nicht gegeben hat.

So könnte Ariel Sharon dem Frieden tatsächlich noch nützen.

Mitarbeit: Sibylle Hamann
Von Tessa Szyszkowitz (Jerusalem) und Robert Treichler