Danke Erdogan. Und jetzt hau ab!

Türkei-Proteste: Danke Erdogan. Und jetzt hau ab!

Türkei. Was verdanken die Türken Erdogan, was werfen sie ihm vor?

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Es ist noch gar nicht lange her, da stand Recep Tayyip Erdogan noch inmitten jubelnder Massen, seine Frau Emine neben, das tobende Volk unter ihm. Der türkische Regierungschef war Mitte März nach Kizilcahamam gefahren, 70 Kilometer Autofahrt von Ankara entfernt, um seine Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP), vor allem aber sich selbst feiern zu lassen. Erdogan, 59 Jahre, aufrechter stolzer Gang, mit Schnauzer und säuberlich gescheiteltem Haar, ist das Gesicht seines Landes in der Welt, der bedeutendste Türke seit dem legendären Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk.

Seit seinem Amtsantritt vor über zehn Jahren hat der Mann aus dem Istanbuler Armenviertel Kasimpasa das einst rückständige Agrarland auf einen beispiellosen Erfolgskurs geführt. Er hat die Türkei modernisiert, mit einem liberaleren Strafrecht, mit mehr Rechten für Frauen und religiöse Minderheiten. In den staubigen Ebenen Zentralanatoliens entstanden riesige Industriegebiete, in Istanbul schießen die Glastürme in die Höhe, die Türkei erzielte zwischenzeitlich ähnliche Wachstumsraten wie China, im ganzen Land hat sich eine neue Mittelklasse gebildet.

Genau die allerdings beschert dem starken Mann am Bosporus nun die schwerste Krise seiner Amtszeit. Seitdem hunderttausende Türken gegen seine despotische Politik protestieren, versteht Erdogan die Welt nicht mehr. Die Demonstrationen gegen das Bauprojekt im Istanbuler Gezi-Park haben sich in der Zwischenzeit aufs ganze Land ausgedehnt. Sie wenden sich zunehmend gegen die Regierung Erdogans, gegen die Willkür, mit der der gläubige Regierungschef Stadt und Land umbaut, mit der er Journalisten einschüchtert, Oppositionelle verfolgt und der Gesellschaft einen religiös-konservativen Stempel aufdrücken möchte.

Die Proteste zeigen, wie wichtig die Zivilgesellschaft im 74-Millionen-Einwohner-Land geworden ist. Und wie diese immer mehr am autoritären Staatsverständnis rüttelt, das die Nation seit ihrer Gründung prägt. Was hat der Übervater der Türkei aus seinem Land gemacht? Was verdanken die Türken ihm, was werfen sie ihm vor? Eine Bilanz einer Dekade Erdogan-Regierung in Zahlen und Fakten:

Erdogans Siegeszug

34,2%
Wahlergebnis der AKP bei den Parlamentswahlen 2002

47%
Wahlergebnis der AKP bei den vorgezogenen Neuwahlen 2007

49,9%
Wahlergebnis der AKP bei den Parlamentswahlen 2011


Die Türken kehren wieder heim

Mindestens drei Kinder, idealerweise allerdings vier oder fünf, solle jede türkische Frau auf die Welt bringen, wie der Regierungschef bereits mehrmals in der Öffentlichkeit betonte. Die Fertilitätsrate der Türkei ist stark rückläufig und liegt derzeit bei 2,1 Kindern pro Frau. Gleichzeitig ist die Bevölkerung in den vergangenen zehn Jahren stetig gewachsen: 2003 hatte die Türkei 67 Millionen Einwohner, heute sind es 74 Millionen. Zurückzuführen ist das unter anderem auf die starke Rückwanderung der im Ausland lebenden Türken: Alleine aus Deutschland sind zwischen 2007 und 2011 193.000 Türken zurückgekehrt. Auch die Kindersterblichkeit hat sich nahezu halbiert: Von 28 Todesfällen auf 1000 Kinder unter fünf Jahren im Jahr 2003 auf 15 im Jahr 2011.

1,9%
jährlicher Aufstieg der Türkei im UN-Wohlstandsindikator seit 1980 (2012: Platz 90 von 187)

2006
Das erste Musikvideo wird auf MTV Türkiye gezeigt ("Peri“ von der Popsängerin Nil Karaibrahimgil)

Erdogan und das Wirtschaftswunder

Die Türkei ist eine der am schnellsten wachsenden Wirtschaftsnationen der Welt, das BIP hat sich seit 2003 verdreifacht, unter den stärksten Wirtschaftsnationen der Welt ist die Türkei auf Platz 17 aufgestiegen. 2012 brach das Wachstum allerdings auf 2,2 Prozent ein. Zwischen 2008 und 2011 ist es der Türkei gelungen, die Zahl der Beschäftigten um 1,47 Millionen auf 24,95 Millionen Menschen anzuheben - womit Ankara bei der Schaffung von Arbeitsplätzen die Liste der G20-Länder anführt.

Anzahl der Internetanschlüsse im Jahr 2012:
20 Millionen
(2002: 0,1 Millionen)

Anzahl der Handyverträge im Jahr 2012:
68 Millionen
(2002: 23 Millionen)

Anzahl der Kreditkarten-Besitzer im Jahr 2012:
54 Millionen
(2002: 16 Millionen)

Anzahl der türkischen Flugpassagiere im Jahr 2012:
131 Millionen
(2002: 33 Millionen)

Problematisch bleibt das starke Gefälle zwischen den strukturschwachen ländlichen Gebieten im Südosten und Osten des Landes und den wirtschaftlich prosperierenden Metropolen: So erwirtschaftet etwa alleine die Region Istanbul mit etwa 20 Prozent der Bevölkerung 40 Prozent der gesamten Wertschöpfung. Im zentralanatolischen Raum hat der religiös-konservative Mittelstand eines der größten Industriegebiete des Landes aufgebaut. 2004 schaffte es die Stadt Kayseri mit dem Baubeginn von 139 neuen Betrieben an nur einem Tag in das Guinness Buch der Rekorde. Mit Stand 2007 stammte der Stoff für jede dritte Levis-Jeans weltweit aus der Region.
Angesichts der jüngsten Krawalle brach der Leitindex der Istanbuler Börse um bis zu 8,1 Prozent ein - das ist der größte Tagesverlust seit den Turbulenzen nach der Pleite der US-Investmentbank Lehman Brothers im Herbst 2008.

Erdogan und die Frauen

Zwar nimmt die Erwerbstätigkeitsquote von Frauen langsam zu, sie lag Ende 2010 allerdings noch immer bei 27,6 Prozent und damit weit unter dem durchschnittlichen Wert der Industrieländer mit 47,8 Prozent. Der Anteil der Frauen an Hochschulen hat sich in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt, von den 2010/2011 immatrikulierten Studierenden waren 45 Prozent weiblich.
Die Änderung des Strafgesetzbuches von 2004 gilt als einer der wichtigsten Erfolge der türkischen Frauenrechtsbewegung. Sie beinhaltete folgende Änderungen:
• Straftaten gegen die Sexualität von Frauen werden nicht mehr als "Straftaten gegen die gesellschaftliche Moral“, sondern als "Verletzung von Persönlichkeitsrechten“ eingestuft
• Erschwerte lebenslange Freiheitsstrafe bei vorsätzlichem Mord mit "Ehrenmotiven“
• Anerkennung von Vergewaltigung in der Ehe als Straftat
• Strafverfolgung in Fällen von Vergewaltigung, auch wenn die Frau den Vergewaltiger heiratet

Erdogan und der Islam

700%
Anstieg der Steuer auf alkoholische Getränke seit 2002
"Wir sind doch als Regierung verpflichtet, Maßnahmen gegen die immer größeren Gefahren des Alkoholkonsums für die Volksgesundheit und die Gesellschaft zu ergreifen.“
(Ministerpräsident Erdogan anlässlich der Verabschiedung des verschärften Alkoholgesetzes Ende Mai 2013)

1,5 Liter
Jährlicher Pro-Kopf-Konsum von reinem Alkohol in der Türkei mit Stand 2012 (2002: 1,4; Österreich: 12,2)
Damit nimmt die Türkei den letzten Platz unter 35 von der OECD auf ihren Alkoholkonsum untersuchten Ländern ein.

32% Anteil
der Türken, der sich laut Erhebungen des amerikanischen "Pew Research Centers“ im Jahr 2012 vor religiösem Extremismus fürchtete. 2006 waren es 46 Prozent, 2010 noch 43. Zehn Prozent der befragten Türken haben eine positive Meinung von der Hamas, sechs Prozent von der Hisbollah sowie von der Al-Kaida und sieben Prozent von den Taliban.

17.000 Anzahl
der unter Erdogan neu gebauten Moscheen seit 2002

9.2.2008
Die Regierung beschließt, das Kopftuchverbot an Hochschulen aufzuheben, was allerdings einige Monate später vom Verfassungsgericht blockiert wird.

Erdogan und die schleppenden EU-Verhandlungen

12 Anzahl der bis-her eröffneten Kapitel über die Beitrittsverhandlungen (zuletzt "Lebensmittelsicherheit,Veterinär-und Pflanzenpolitik“ im Juni 2010; insgesamt sind es 35)

8 Anzahl der wegen des Zypern-Konflikts gänzlich auf Eis gelegten Kapitel

1 Anzahl der geschlossenen Kapitel ("Wissenschaft und Forschung“)

15 Anzahl der Länder, die seit dem formellen Antrag der Türkei 1987 der EU beigetreten sind.

Die Unterstützung für das Ziel des Beitritts von Seiten der türkischen Bevölkerung ist innerhalb von zehn Jahren von mehr als 70 Prozent auf etwa 33 Prozent geschrumpft.

Erdogan und die Kurden

"Die Kurden sind ein Teil, der vom Ganzen nicht getrennt werden darf. Religiöse Gruppen können als Minderheit gezählt werden. Für uns haben die Kurden keinen Status als Minderheit.“
(Ministerpräsident Erdogan am Panatlantischen Jugendgipfel in Istanbul im Juni 2004)

"Gutes Gelingen.“
Erdogans Worte in kurdischer Sprache anlässlich der erstmaligen Ausstrahlung des ersten staatlich geförderten kurdischen Senders TRT-6 in der Türkei, der im Jänner 2009 startete. Bis dahin gab es einzelne kurdische Programme im Staatsfernsehen (seit 2004) sowie den PKK-nahen Satellitensender Roj-TV mit Sitz in Dänemark. Die türkische Nachrichtenagentur Anatolia produziert ab September 2013 auch auf Kurdisch.

21.3.2013
Tag, an dem der Chef der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei PKK, Abdullah Öcalan, seine Anhänger zu einer Waffenruhe aufrief. Erdogan begrüßte den Vorstoß und sprach sich für eine politische Lösung der Kurdenfrage aus.

Erdogan und die Zensur

60 Anzahl der derzeit in der Türkei inhaftierten Journalisten (laut "Committee to Protect Journalists“; Stand Ende Jänner 2013)

15.000
Anzahl der beim Europäischen Menschengerichtshof anhängigen Beschwerden gegen die Türkei wegen Verletzungen der politischen oder persönlichen Freiheitsrechte (Deutschland: 2500; Stand August 2012)

15.000
Anzahl der laut "Freedom House“ geblockten Internetseiten zwischen 2002 und Februar 2012.

154 Platz, den die Türkei im Pressefreiheits-Ranking von "Reporter ohne Grenzen“ unter 178 Ländern einnimmt. 2009 verschlechterte sich die Türkei um 20 Plätze, 2010 um weitere 16 Ränge. Laut dem türkischsprachigen Nachrichtensender CNN Türk wurden zwischen 2003 und 2008 1481 Prozesse eröffnet, die auf dem Artikel 301 ("Beleidigung der türkischen Nation“) basieren.

Erdogans erfolgreicher Machtkampf gegen das Militär
Als der Generalstabschef und die Oberkommandierenden der Streitkräfte im August 2011 geschlossen ihren Rücktritt ankündigten, galt der Machtkampf des islamisch-konservativen Regierungschefs gegen das Militär und damit gegen die letzte Hüterin des laizistischen Erbes von Staatsgründer Kemal Atatürk als gewonnen. Die vier Spitzenmilitärs hatten ihren Rücktritt mit der Inhaftierung von 250 Offizieren begründet, denen Vorbereitung zum Staatsstreich gegen die Regierung vorgeworfen wird. Während das Militär in früheren Meinungsumfragen bis zu 90 Prozent Zustimmungsraten einfahren konnte, verlor es Anfang 2010 seinen Rang als vertrauenswürdigste Institution - die Rate sank auf 63 Prozent.

Turkish Airlines hebt ab

Einst hatte Turkish Airlines einen zweifelhaften Ruf. Berüchtigt war vor allem ihre schlechte Servicequalität, weswegen der mit "THY“ abgekürzten Fluglinie der unschmeichelhafte Beiname "They hate you“ anhaftete. Seit 2003 verzeichnet die Airline sowohl in Hinblick auf Passagierzahlen als auch in Bezug auf den Netzwerkausbau ein kontinuierliches Wachstum. 2009 und 2010 wurde THY von "Skytrax“ zur besten Fluggesellschaft Südeuropas gekürt, für Gesamteuropa belegt die Airline den dritten Platz, weltweit liegt sie auf Platz sieben. Mit einem Umsatz von

6,3 Milliarden Euro
liegt THY nach Ryan-air und Easyjet auf Platz drei der Gewinnerliste in Europa. Die trotz diplomatischer Zerwürfnisse wirtschaftlich enge Verbindung zu Israel spiegelt sich auch in den THY-Flugstrecken wider: Mit fast 40 Flügen in der Woche fliegt keine andere ausländische Fluggesellschaft Tel Aviv häufiger an.

Der türkisch-israelische Handel ist seit 2010 um fast 30 Prozent auf ein Volumen von mehr als drei Milliarden Euro gewachsen. Und auch die Zahl der israelischen Urlauber stieg im Vergleich zum Vorjahr - nach dem Vorfall rund um das Passagierschiff Mavi Marmara - um 111 Prozent.

Erdogan und die Welt

Der türkische Regierungschef baute seine Beziehungen ins Ausland stets pragmatisch aus.

18/51%
Anteil des Erdgases/Erdöls, den die Türkei aus dem Iran bezieht

1023
Anzahl der türkischen Unternehmen in den Kurdischen Autonomiegebieten im Nordirak mit Stand 2012. 2010 waren es noch 730.

Als erste große internationale Fluggesellschaft fliegt Turkish Airlines seit März des vergangenen Jahres zweimal die Woche nach Somalia. Die derzeit 17 Verbindungen nach Afrika sollen auf 30 erweitert werden. Seit 2008 arbeitet die Türkei verstärkt am Ausbau der wirtschaftlichen Beziehungen zum afrikanischen Kontinent, um sich Zugang zu Märkten und Rohstoffen zu verschaffen.

0:2
fiel das Ergebnis des Qualifikationsspiels zwischen Armenien und der Türkei (Sieger) für die Fußballweltmeisterschaft 2010 im September 2008 aus. Es war der erste Besuch eines türkischen Präsidenten im armenischen Nachbarland und der erste direkte Kontakt auf Staatsebene seit 15 Jahren. Die offizielle Annäherung ruht allerdings seit April 2010 wieder.